SG Fulda

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Zitieren als:
SG Fulda, Urteil vom 27.10.2020 - S 4 KG 1/20 - asyl.net: M29335
https://www.asyl.net/rsdb/m29335
Leitsatz:

Kindergeldanspruch für sich selbst auch bei fahrlässiger Unkenntnis des Aufenthaltsortes der Eltern:

"1. Die Regelungen zum Anspruch auf Kindergeld für sich selbst sind nicht als Ausnahmeregelung einschränkend auszulegen. Insbesondere steht auch eine etwaige fahrlässige Unkenntnis des Aufenthaltsortes der Eltern dem Anspruch nicht entgegen (im Anschluss an BSG, Urt. v. 8. April 1992 (10 RKg 12/91 – SozR 3-5870 § 1 Nr. 1).

2. Dem Anspruch auf Kindergeld für sich selbst kann daher nur die jedem Recht immanente Schranke des Rechtsmissbrauchs entgegengehalten werden. Ein solcher ist bei unbegleitet geflüchteten Minderjährigen regelmäßig zu verneinen, wenn sie nach ihrer Flucht in die Bundesrepublik Deutschland zur Überzeugung des Gerichts keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern im Herkunftsstaat hatten; sie sind auch nicht verpflichtet, über internationale (nichtstaatliche) Suchdienste den Aufenthaltsort ihrer Eltern zu ermitteln, um damit ihren Kindergeldanspruch zu Fall zu bringen."

(Amtliche Leitsätze, ähnlich auch SG Mainz, Urteil vom 22.09.2015 - S 14 KG 4/15 - asyl.net: M23510)

Schlagwörter: Kindergeld, unbegleitete Minderjährige, Rechtsmissbrauch, Verschulden, Fahrlässigkeit, Mitwirkungspflicht,
Normen: BKGG § 1 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Nach dem Vorbringen des Klägers, wie es sich insbesondere auch in seiner persönlichen Anhörung im Rahmen der mündlichen Verhandlung darstellt, hat die Kammer die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger im hier streitigen Leistungszeitraum ab Oktober 2019 tatsächlich keine Kenntnis vom Aufenthalt seiner Eltern hat(te), wobei seine Mutter bereits verstorben ist. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Kläger insoweit gegenüber dem Gericht oder der Beklagten wahrheitswidrige Behauptungen aufgestellt haben könnte. Auf fehlende oder unzureichende Bemühungen des Klägers, den Aufenthaltsort seines Vaters (in seinem Heimatland Syrien) zu ermitteln, kommt es entgegen der Auffassung der Beklagten vorliegend nicht an.

Zunächst ist festzustellen, dass ausweislich des eindeutigen Gesetzeswortlauts nur positive Kenntnis vom Aufenthalt der Eltern einem Anspruch eines Kindes auf Kindergeld für sich selbst entgegensteht. Fahrlässige oder anderweitige schuldhafte Nichtkenntnis kann dem daher nicht gleichgestellt werden. Dies folgt angesichts des Wortlauts auch daraus, dass dem Gesetzgeber, insbesondere im Bereich des Sozialrechts, der Begriff der fahrlässigen Nichtkenntnis nicht nur bekannt ist, sondern auch verbreitet genutzt wird. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang etwa auf § 48 Abs. 1 Nr. 4 SGB X oder auch § 404 Abs. 1 SGB III und § 103 Abs. 1 S. 2 SGB XII. Wenn demnach der Kläger entsprechende Formulierungen in § 1 Abs. 3 Nr. 2 BKGG gerade nicht benutzt hat, kann daraus nur der Umkehrschluss gezogen werden, dass er entsprechende fahrlässige Nichtkenntnis auch nicht sanktionieren wollte.

Dies steht im Übrigen im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG, das im Urteil vom 8. April 1992 (10 RKg 12/91 – SozR 3-5870 § 1 Nr. 1 = juris Rn. 18) ausgeführt hat, dass im konkreten Fall, aber auch generaliter offenbleiben könne, wie zu verfahren sei, "wenn das antragstellende Kind schuldhaft (grob fahrlässig oder vorsätzlich) Hinweisen über den Aufenthaltsort seiner Eltern nicht nachgeht". Denn aus § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG lasse "sich jedenfalls in keinerlei Hinsicht ein Verschuldensgrad entnehmen, bei dessen Vorliegen eine positive Kenntnis unterstellt werden könnte". Zu erwägen sei deshalb nur, "ob eine mißbräuchliche Nichtkenntnis einer Kenntnis i.S.d. § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG gleichgestellt werden kann".

Damit kommt nur der Rechtsmissbrauch als Grenze jeder Rechtsausübung als Umstand in Betracht, der trotz Unkenntnis des Aufenthalts seiner Eltern und damit dem Vorliegen aller Leistungsvoraussetzungen einem Kindergeldanspruch entgegenstehen kann. Ein solcher Rechtsmissbrauch ist jedoch noch fernliegender als in dem Fall, der der vorzitierten Entscheidung des BSG zugrunde lag und in dem die Mutter der Anspruch stellenden Klägerin zumindest noch sporadischen Kontakt gehalten und sich im europäischen Ausland aufgehalten hatte. [...]

Es war dem Kläger auch nicht zuzumuten, die von der Beklagten thematisierten Suchmöglichkeiten über das Deutsche Rote Kreuz in Anspruch zu nehmen; das Unterlassen entsprechender Bemühungen war damit auch nicht anspruchsschädlich. Denn es ist keineswegs ersichtlich, dass damit jegliche Gefährdung des Klägers, der sich vor Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention in die Bundesrepublik begeben hat, ausgeschlossen gewesen wäre. Ist dies aber der Fall, kann ein Unterlassen entsprechenden Handelns keinesfalls rechtsmissbräuchlich sein. Daher musste die Kammer auch nicht vor ihrer Entscheidung entsprechend der Anregung der Beklagten in ihrem jüngsten Schriftsatz vom 27. November 2020 den Kläger zunächst hierzu auffordern oder dies gegebenenfalls abwarten.

Nur ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass sie der im Widerspruchsbescheid zum Ausdruck kommenden Auffassung der Beklagten im Hinblick auf den Ausnahmecharakter der Leistung von Kindergeld an ein Kind für sich selbst nicht folgt. Zwar stellt es natürlich den Regelfall dar, dass Kindergeld an unterhaltspflichtige Eltern geleistet wird. Die Regelung im Hinblick auf einen Anspruch eines Kindes auf Kindergeld für sich selbst in § 1 Abs. 2 BKGG ist als solche aber sowohl eindeutig wie auch weitreichend. Wer Vollwaise ist oder den Aufenthalt seine Eltern nicht kennt, erhält Kindergeld für sich selbst. Dass diese Regelung darüber hinaus noch weiter einschränkend im Sinne der Beklagtenauffassung ausgelegt werden müsste, ist nicht erkennbar. Insbesondere ist es deutlich zu weitgehend, einen solchen Anspruch schon dann auszuschließen, wenn auch nur die hypothetische Möglichkeit besteht, dass Eltern, die sich im Ausland aufhalten, ihren Wohnsitz in das Bundesgebiet verlegen. Hierauf kommt es aber aufgrund der vorstehenden Gründe nicht an. [...]