SG Mainz

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Zitieren als:
SG Mainz, Urteil vom 22.09.2015 - S 14 KG 4/15 - asyl.net: M23510
https://www.asyl.net/rsdb/M23510
Leitsatz:

Im Sinne des § 1 Abs. 2 BKGG hat Unkenntnis vom Aufenthalt der Eltern, wer nicht jederzeit weiß, wo sich die Eltern gerade aufhalten und sozial wie eine Vollwaise dasteht (einschränkende Auslegung). Dies ist bei einem 22-Jährigen Flüchtling in Ausbildung der Fall, wenn der Vater tot ist und die Mutter im Iran wegen dortiger Restriktionen keinen festen Wohnsitz begründen kann.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Kindergeld, Vollwaise, unbegleitete Minderjährige, Waise, unbekannter Aufenthalt, Eltern, verschollen, Unkenntnis,
Normen: BKGG § 1 Abs. 2 und 3, BKGG § 2 Abs. 2, BKGG § 5 Abs. 1, BKGG § 6 Abs. 2, BKGG § 9.
Auszüge:

[...]

Der Anspruch des Klägers ergibt sich aus § 1 Abs. 2 und 3 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) i.V.m. §§ 2 Abs. 2, 5 Abs. 1, 6 Abs. 2, 9 BKGG.

Nach § 1 Abs. 2 BKGG erhält ausnahmsweise das Kind selbst das Kindergeld, wenn es in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat Buchst. a), nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist (Buchst. c) und Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt.

Kind ist gemäß § 2 Abs. 2 Buchst. a) BKGG, wer noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat und in einem Beruf ausgebildet wird.

Vollwaise ist, wessen Eltern tot sind oder für verschollen erklärt wurden.

Die Kenntnis oder Unkenntnis des Aufenthalts ist allein nach subjektiven Maßstäben des Kindes zu beurteilen (BSG, Urteil v. 8. April 1992 – 10 RKg 12-91).

Kenntnis bedeutet jederzeitiges Wissen.

Der Begriff des Aufenthalts ist nicht im BKGG und auch nicht im Sozialgesetzbuch definiert. Zwar ist gilt wegen der § 68 Nr. 9 des Ersten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB I) systematisch auch § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I für das BKGG. Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo sich jemand unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Der Begriff des Aufenthalts wird in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I aber nicht definiert sondern gemäß allgemeinem Sprachgebrauch vorausgesetzt.

Laut Duden ist Aufenthalt die "zeitlich begrenzte Anwesenheit an einem Ort". Der Begriff des Aufenthalts ist also nach allgemeinem Sprachgebrauch relativ und bedarf einer örtlichen und zeitlichen Eingrenzung. Erst mit diesen beiden Parametern lässt sich bestimmen, wer an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt "Aufenthalt hat". Eine zeitliche Einschränkung bedarf der Aufenthalt, da sich Menschen im Raum bewegen. Grenzt man ihn z.B. örtlich auf das deutsche "Bundesgebiet" und zeitlich auf "derzeit" ein, haben alle Menschen, die sich im aktuellen Moment im Bundesgebiet befinden "Aufenthalt". § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I zeigt, dass daneben der Aufenthalt auch von einer periodischen Übung abhängig gemacht werden kann: Wer üblicherweise an einem Ort ist, hat gewöhnlichen Aufenthalt, auch wenn er gerade abwesend ist.

Der Gesetzgeber hat in § 1 Abs. 2 BKGG selbst keine solche notwendige örtliche und zeitliche Eingrenzung vorgenommen. Die Verwendung des engeren Begriffs "gewöhnlicher Aufenthalt" wenige Worte entfernt in § 1 Abs. 2 BKGG zeigt, dass er dies bewusst so geregelt hat. Die Auswertung der Gesetzgebungsmaterialien ergibt kein anderes Bild. Die Regelung wurde in der Beratung zum Elften Gesetz zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes vom zuständigen Bundestagsausschuss eingefügt, ohne den Wortlaut dieser Variante näher zu erläutern (vgl. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestags zum Entwurf der Bundesregierung für ein Elftes Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes - Dr. 10/3369, S. 11). Somit ist Zwischenergebnis der Auslegung, dass ein Kind jederzeit positive Kenntnis davon haben muss, an welchem Ort sich die Eltern gerade aufhalten. Es kommt nicht darauf an, ob dieser Aufenthaltsort jederzeit erfragbar ist oder ob Kontakt per Telefon besteht. Nach diesem Zwischenergebnis würde es für den Kindergeldanspruch eines Kindes ausreichen, dass kein Elternteil kindergeldberechtigt ist, das Kind im Bundesgebiet lebt und nicht jederzeit weiß, wo sich die Eltern gerade aufhalten. Da dies kein Kind jederzeit wissen kann, würde das Tatbestandsmerkmal ins Leere laufen.

Dieses weite Zwischenergebnis bedarf der teleologischen Reduktion. Die Gesetzesauslegung muss berücksichtigen, dass der Gesetzgeber eine Härtefallregelung für einen begrenzten Kreis von alleinstehenden Kindern schaffen wollte und nicht einen Anspruch für alle Kinder, deren Eltern im Ausland leben (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2014 – L 6 KG 3/11, juris Rn. 21). Sinn und Zweck der Regelung ist es nämlich, alleinstehenden Kindern, die von ihren Eltern oder anderen keine Hilfe zu erwarten haben, Kindergeld an Eltern statt zu gewähren Der Bundesgesetzgeber wollte alleinstehende Vollwaise in die Kindergeldberechtigung einbeziehen (vgl. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestags zum Entwurf der Bundesregierung für ein Elftes Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes - Dr. 10/3369, S. 11). Auf dieses Problem hatte der Petitionsausschuss zuvor mehrfach hingewiesen und die Bundesregierung trotz Aufforderung durch den Bundestagsausschuss nicht reagiert. Die Verweigerung des Kindergeldes in der schwierigen Situation hatte der Bundestagsausschuss als sozial ungerecht angesehen. Im Vordergrund der Überlegungen standen Kinder, deren Eltern verstorben oder verschollen sind. Die zweite Variante, der Unkenntnis vom Aufenthalt der Eltern, zeigt sich in diesem Licht als Beweiserleichterung gegenüber den rechtlich unter Umständen schwierig zu erlangenden Feststellungen des Todes oder Verschollenheit beider Eltern. Der Gesetzgeber hat mit der Übernahme der vom Ausschuss vorgeschlagenen Abstufung ins Gesetz aber auch zum Ausdruck gebracht, dass Kinder, die sozial wie Vollwaise dastehen, wegen ihrer schwierigen Situation Kindergeld erhalten sollen. Es kommt daher nicht auf den Tod beider Elternteile sondern auf die von ihnen geleistete oder leistbare Unterstützung an.

Somit hat Unkenntnis vom Aufenthalt der Eltern, wer nicht jederzeit weiß, wo sich die Eltern gerade aufhalten und sozial wie eine Vollwaise dasteht. [...]