OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 27.04.2022 - 5 A 825/18.A - asyl.net: M30719
https://www.asyl.net/rsdb/default-4efe1a35ff
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot hinsichtlich Libyens:

1. Für die Prognose der bei Rückkehr drohenden Gefahren ist im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) gemeinsam in das Herkunftsland zurückkehrt. Das gilt auch dann, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft der Eltern im Herkunftsland noch nicht bestanden hat, die Kinder in der Bundesrepublik geboren wurden und der andere Elternteil aus einem anderen Herkunftsland stammt.

2. Die libysche Bevölkerung leidet unter einer schweren humanitären Krise. Dazu gehören Armut, Unsicherheit, Vertreibung, Mangel an Nahrungsmitteln und Bargeld sowie häufige Stromausfälle. Die Versorgung mit Lebensmitteln wird durch die Verbreitung von COVID-19 weiter gefährdet, in den meisten Städten gibt es einen Mangel an Grundnahrungsmitteln und die Preise für Nahrungsmittel steigen. Der wirtschaftliche Niedergang Libyens betrifft die gesamte Bevölkerung. Gruppen, die bereits vor dem Krieg benachteiligt waren, wie Jugendliche und Frauen, sind jedoch am stärksten betroffen.

3. Einem Mann mit syrischer und libyscher Staatsangehörigkeit, der die ersten 32 Jahre seines Lebens in Libyen verbracht und dort gearbeitet hat, droht in Libyen keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, selbst wenn er wegen seiner syrischen Herkunft diskriminiert wurde. Insbesondere wird er in der Lage sein, ein wirtschaftliches Existenzminimum für sich und seine Familie zu erwirtschaften.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 - Asylmagazin 8/2019, S. 311 f. - asyl.net: M27530)

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Syrer, Libyen, Familieneinheit, Familienverbund, humanitäre Gründe, humanitäre Krise, Diskriminierung, Armut, Existenzgrundlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

27   2. Für die Prognose, ob dem Kläger bei einer Rückkehr nach Libyen eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung droht, ist davon auszugehen, dass der Kläger gemeinsam mit seinen beiden Kindern und seiner Ehefrau nach Libyen zurückkehrt.

28   a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris Rn. 15 ff.) ist für die Prognose der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt, und zwar auch dann, wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist. Dies gilt auch dann, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft nicht schon im Herkunftsland bestanden hat, solange kein tatsachengestützter Missbrauchsverdacht besteht (so auch BayVGH, Urt. v. 19. Oktober 2020 - 13a B 20.30347 -, juris Rn. 18). Angesichts dieser überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht die Wertung des § 26 AsylG heranzuziehen, wonach Familienasyl und internationaler Schutz für Familienangehörige nur gewährt wird, wenn die Ehe oder Lebenspartnerschaft schon im Heimatland des Asylberechtigten bzw. des international Schutzberechtigten bestanden hat. Die von der Beklagten für die Auffassung, dass die familiäre Lebensgemeinschaft bereits im Heimatland bestanden haben muss, weiter herangezogene Rechtsprechung (BVerwG, Urt. v. 27. April 2021 - 1 C 45.20 - juris Rn. 18 und OVG LSA, Urt. v. 17. März 2022 - 3 L 130/19 -, juris) betrifft andere Konstellationen; die dortigen Erwägungen sind auf die vorliegende Konstellation nicht übertragbar. [...]

Der Kläger hat bezüglich beider Kinder die Vaterschaft anerkannt und er lebt mit seiner Frau und den beiden Kindern in familiärer Gemeinschaft. Ein tatsachengestützter Missbrauchsverdacht besteht insoweit offensichtlich nicht. Dass der Frau des Klägers und dem älteren Kind mit Bescheid des Bundesamtes vom 1. Februar 2017 der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde, steht der Regelvermutung, wie ausgeführt, nicht entgegen. Die Kinder des Klägers haben im Hinblick auf dessen libysche Staatsangehörigkeit und den Umstand, dass dieser in Libyen geboren wurde und bis zu seiner Ausreise dort gelebt hat, auch einen Bezug zu Libyen. Unter Berücksichtigung von Art. 6 GG/Art. 8 EMRK ist unter diesen Voraussetzungen bei realitätsnaher Beurteilung davon auszugehen, dass die gesamte Familie einschließlich der Frau des Klägers, also der Mutter der beiden Kinder, entweder insgesamt nicht oder nur gemeinsam nach Libyen zurückkehrt. [...]

Die libysche Bevölkerung leidet unter einer schweren humanitären Krise. Dazu gehören Armut, Unsicherheit, Vertreibung, Mangel an Nahrungsmitteln und Bargeld sowie häufige Stromausfälle. Die Versorgung mit Lebensmitteln, die bereits eine Herausforderung darstellt, wird durch die Verbreitung von COVID-19 weiter gefährdet. In den meisten Städten gibt es einen Mangel an Grundnahrungsmitteln in Verbindung mit einem Anstieg der Preise. Der wirtschaftliche Niedergang Libyens betrifft die gesamte Bevölkerung; jedoch sind Gruppen, die bereits vor dem Konflikt benachteiligt waren, wie Jugendliche und Frauen, am stärksten betroffen. [...]

55   Der Kläger ist von seiner Abstammung her Syrer und er hat auch die syrische Staatsangehörigkeit. Er wurde jedoch in Libyen geboren und hat bis zu seiner Ausreise im Alter vom 32 Jahren in Benghazi gelebt und er ist auch libyscher Staatsangehöriger. Der Kläger ist also mit den Verhältnissen in Libyen, speziell in Benghazi, vertraut. Er hat dort bis zu dem Ereignis mit der Schussverletzung als angelernter Maler gearbeitet. Auch wenn ihm eine Arbeit als Maler wegen der eingeschränkten Beweglichkeit seines rechten Armes nicht mehr möglich ist, kann er andere Tätigkeiten verrichten, etwa in der Gastronomie oder im Einzelhandel oder - wie in Deutschland - im Bereich der Produktion. Der Kläger arbeitet in Deutschland und hat somit weiterhin Erfahrung im Arbeitsleben. Etwaige rechtliche Beschränkungen für Syrer bestehen für ihn als auch libyscher Staatsangehöriger nicht.

56   Eine Existenzsicherung ist dem Kläger - unter Berücksichtigung seiner familiären Solidarpflichten (z.B. Anforderung an "familientaugliche" Unterkunftsverhältnisse, Versorgungsprobleme) - auch nicht deshalb unmöglich, weil nach der Auskunftslage in Libyen die einzigen verfügbaren sozialen Sicherheitsnetze Familie, Gemeinschaft und Stamm sind. Denn es existiert, wie oben ausgeführt, in Libyen eine syrische Gemeinschaft, auf die man sich verlassen kann, wenn es um den Zugang zu lebensnotwendigen Dingen wie Unterkunft und Beschäftigung geht, auch gibt es Hilfen durch libysche zivilgesellschaftliche Organisationen. [...]

57   Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass es dem arbeitsfähigen Kläger unter diesen Voraussetzungen, ggfls. mit anfänglicher finanzieller Unterstützung seiner in Deutschland lebenden Verwandten, nicht gelingen wird, mit Arbeit den existenzsichernden Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen und existenzsichernden Wohnraum zu erhalten. [...]