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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 - asyl.net: M30643
https://www.asyl.net/rsdb/default-4b1b63ce64
Leitsatz:

Ausweisung sowie Einreise- und Aufenthaltsverbot bei asylrechtlicher Rückkehrentscheidung:

1. Zielstaatsbezogenen Umstände, deren Prüfung dem BAMF in einem Asylverfahren vorbehalten sind, sind in die Interessenabwägung einer Ausweisungsentscheidung nach § 53 Abs. 1 AufenthG nicht einzubeziehen. Betroffene haben weder ein Wahlrecht zwischen einer Prüfung durch die Ausländerbehörde oder durch das BAMF noch einen Anspruch auf doppelte Prüfung.

2. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot der Ausländerbehörde, welches an eine Ausweisung anknüpft, geht auch dann gemäß Art. 3 Nr. 6 Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG) "mit einer Rückkehrentscheidung einher", wenn nur eine im Asylverfahren durch das BAMF ergangene Abschiebungsandrohung vorliegt.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerwG, Urteil vom 16.12.2021 - 1 C 60.20 - asyl.net: M30529)

Schlagwörter: Ausweisung, Einreise- und Aufenthaltsverbot, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, Rückkehrentscheidung, öffentliches Interesse, Interessenabwägung, Ausweisungsgrund,
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1, AufenthG § 11 Abs. 2, AufenthG § 11 Abs. 3, AufenthG § 53 Abs. 1, AufenthG § 53 Abs. 2, AufenthG § 53 Abs. 3, AufenthG § 53 Abs. 4, AufenthG § 54 Abs. 1, AufenthG § 54 Abs. 2, AufenthG § 55 Abs. 1, RL 2008/115/EG Art. 3,
Auszüge:

[...]

34 bb) Hingegen können die vom Kläger geltend gemachten Gefahren im Herkunftsstaat, die - sollten sie zutreffen - die Schwelle zu einem zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 AufenthG überschreiten würden, bei der Ausweisung im Rahmen der Interessenabwägung und bei der freizügigkeitsrechtlichen Verlustfeststellung im Rahmen der Ermessensentscheidung jedenfalls insoweit nicht berücksichtigt werden, als für das Abschiebungsverbot eine ausschließliche Prüfungszuständigkeit des Bundesamts besteht und dieses ein solches Verbot bislang nicht festgestellt bzw. hier sogar ausdrücklich verneint hat. Dies gilt insbesondere für zielstaatsbezogene Gefahren, die ihrer Art nach objektiv geeignet wären, eine Anerkennung als Asylberechtigter oder Flüchtling oder die Zuerkennung subsidiären Schutzes zu begründen. Denn nach der - vom Berufungsgericht zutreffend zugrunde gelegten - Rechtsprechung des Senats ist ein Ausländer mit einem Asylbegehren, das nach § 13 AsylG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3474) seit dem 1. Dezember 2013 auch das Begehren auf subsidiären Schutz umfasst, hinsichtlich aller zielstaatsbezogenen Schutzersuchen und Schutzformen auf das Asylverfahren zu verweisen; er hat kein Wahlrecht zwischen einer Prüfung durch die Ausländerbehörde und einer Prüfung durch das Bundesamt (vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Februar 2019 - 1 C 30.17 - Buchholz 402.251 § 29 AsylG Nr. 6 Rn. 22 und vom 16. Dezember 2021 - 1 C 60.20 - juris Rn. 52 f.) und auch keinen Anspruch auf eine Doppelprüfung. Ein Ausländer ist daher nach aktueller Rechtslage schon dann - gemäß § 24 Abs. 2 AsylG auch hinsichtlich nationaler Abschiebungsverbote - zwingend auf das Asylverfahren vor dem Bundesamt zu verweisen, wenn er sich auf Gefahren beruft, die ihrer Art nach objektiv geeignet wären, subsidiären Schutz zu begründen. Hat er bereits (erfolglos) ein Asylverfahren durchgeführt, ist unabhängig davon die Ausländerbehörde zudem nach § 6 Satz 1 und § 42 Satz 1 AsylG an die in jenem Verfahren (zuletzt) getroffene Entscheidung des Bundesamts oder des Verwaltungsgerichts gebunden. Diese Bindungswirkung kommt nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch negativen Entscheidungen des Bundesamts zu (BVerwG, Urteile vom 7. September 1999 - 1 C 6.99 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 20, vom 21. März 2000 - 9 C 41.99 - BVerwGE 111, 77 <80 f.>, vom 27. Juni 2006 - 1 C 14.05 - BVerwGE 126, 192 Rn. 12 und vom 16. Dezember 2021 - 1 C 60.20 - juris Rn. 52 f.). [...]

35 cc) Zu Recht hat das Berufungsgericht indessen drohende Beeinträchtigungen von Belangen des Ausländers im Herkunftsstaat geprüft, die keinen strikten verfassungs- oder völkerrechtlichen Schutz in dem Sinne genießen, dass die deutschen Behörden unter allen Umständen verpflichtet wären, den Ausländer durch Absehen von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vor ihrem Eintritt zu bewahren. Dies sind solche Nachteile, die das Gewicht eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nicht erreichen, aber gleichwohl so erheblich sind, dass sie sich auf die durch Art. 7 GRC und Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Belange des Ausländers auswirken können (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2021 - 1 C 60.20 - juris Rn. 50 ff. m.w.N.). Das Berufungsgericht ist hier rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gekommen, dass es nicht möglich ist, die vom Kläger geltend gemachten Gefahren einer drohenden Verhaftung und Misshandlung durch Sicherheitskräfte in der Türkei - sollten sie tatsächlich bestehen - in rechtlicher Hinsicht als unterhalb der Schwelle des § 60 AufenthG und damit als bloße Reintegrationsschwierigkeiten zu betrachten. Im Übrigen hat das Berufungsgericht die Reintegrationsmöglichkeiten und -schwierigkeiten des Klägers in der Türkei umfassend gewürdigt. [...]

39 d) Der Ausweisung steht vorliegend auch nicht entgegen, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts jedenfalls eine ausländerbehördliche Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 der RL 2008/115/EG nicht vorgelegen hat.

40 Nach der Rechtsprechung des Senats lässt das Nichtergehen oder die Aufhebung einer Rückkehrentscheidung die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung unberührt (BVerwG, Urteil vom 9. Mai 2019 - 1 C 21.18 - BVerwGE 165, 331 Rn. 10 ff. und Beschluss vom 9. Mai 2019 - 1 C 14.19 - Buchholz 451.902 Europ. Ausländer- und Asylrecht Nr. 100; so auch Bauer/Hoppe, Urteilsanmerkung, NVwZ 2021, 1207 <1210 f.). Zwar ergibt sich aus Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG, dass die Mitgliedstaaten unbeschadet der Ausnahmen nach den Abs. 2 bis 5 verpflichtet sind, gegen alle in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen. Folglich muss ein Mitgliedstaat, wenn er mit einem Drittstaatsangehörigen befasst ist, der sich in seinem Hoheitsgebiet befindet und nicht oder nicht mehr über einen gültigen Aufenthaltstitel verfügt, nach den einschlägigen Bestimmungen ermitteln, ob diesem Drittstaatsangehörigen ein neuer Aufenthaltstitel zu erteilen ist. Ist dies nicht der Fall, ist der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet, gegen diesen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, die gemäß Art. 11 Abs. 1 RL 2008/115/EG mit einem Einreiseverbot im Sinne des Art. 3 Nr. 6 der RL 2008/115/EG einhergehen kann oder muss. Folglich läuft es sowohl dem Gegenstand Richtlinie 2008/115/EG, wie er in deren Art. 1 angeführt ist, als auch dem Wortlaut des Art. 6 RL 2008/115/EG zuwider, das Bestehen eines Zwischenstatus von Drittstaatsangehörigen zu dulden, die sich ohne Aufenthaltsberechtigung und ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates befinden und gegebenenfalls einem Einreiseverbot unterliegen, gegen die aber keine wirksame Rückkehrentscheidung mehr besteht. Dies gilt auch für Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates befinden und gegebenenfalls einem Einreiseverbot unterliegen, gegen die aber keine wirksame Rückkehrentscheidung (mehr) besteht. Es ergibt sich aus Art. 9 Abs. 1 Buchst. a Richtlinie 2008/115/EG, dass dieser Umstand es nicht rechtfertigt, in einer solchen Situation keine Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen zu erlassen, sondern seine Abschiebung in Vollstreckung dieser Entscheidung aufzuschieben (EuGH, Urteil vom 3. Juni 2021 - C-546/19 [ECLI:EU:C:2021:432], BZ - Rn. 55 ff.). [...]