Ermessensfehlerhafte Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts:
1. Bei Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts von drittstaatsangehörigen Eheleuten sind auch Nachteile zu berücksichtigen, die Betroffene im Herkunftsland zu erwarten hben.
2. Das gilt uneingeschränkt für Nachteile, die das Gewicht eines Abschiebungsverbots nicht erreichen. Gefahren, die so schwerwiegend sind, dass sie ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot begründen, sind jedenfalls dann nicht zu berücksichtigen, wenn eine ausschließliche Prüfungszuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge besteht.
3. Eine mögliche Doppelbestrafung im Herkunftsland nach erfolgter Verurteilung in Deutschland ist geeignet, sich auf die Verhältnismäßigkeit der Verlustfeststellung auszuwirken.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
1 Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung der Beklagten, dass er sein Freizügigkeitsrecht als Familienangehöriger von Unionsbürgern nach § 6 FreizügG/EU verloren habe, sowie eine damit verbundene Abschiebungsandrohung. [...]
14 Die zulässige Revision ist begründet. Die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts, die angefochtene Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts sei ermessensfehlerfrei erfolgt, verletzt Bundesrecht. Die Verlustfeststellung ist vielmehr wegen eines Ermessensfehlers rechtswidrig, weil die Beklagte das Vorbringen des Klägers zu einer ihm in der Türkei möglicherweise drohenden Doppelbestrafung in ihren Ermessenserwägungen nicht zumindest nachträglich berücksichtigt hat. [...]
17 2. Die Klage ist auch begründet. Zwar ist die angefochtene Verfügung vom 5. Juli 2018 in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden (2.1). Vom Kläger geht auch eine Gefahr aus, die in materieller Hinsicht unter Berücksichtigung der konkret einschlägigen Gefahrenschwelle eine Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Ordnung grundsätzlich rechtfertigen kann (2.2). Die Verlustfeststellung der Beklagten leidet jedoch an einem Ermessensfehler, der zu ihrer Aufhebung führt (2.3). Damit können auch die Folgeentscheidungen keinen Bestand haben (2.4). [...]
47 2.3 Die Verfügung der Beklagten leidet jedoch an einem Ermessensfehler, der zu ihrer Aufhebung führt (§ 114 VwGO). Die gegenteilige Auffassung des Berufungsgerichts ist mit § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU unvereinbar.
48 2.3.1 Nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU steht die Verlustfeststellung im pflichtgemäßen Ermessen (§ 40 BremVwVfG) der Ausländerbehörde, wie sich aus der Formulierung "kann" ergibt. Daran hat der nationale Gesetzgeber auch nach der Umgestaltung des nationalen Ausweisungsrechts, das die Ausweisung jetzt als gerichtlich unbeschränkt überprüfbare Abwägungsentscheidung ausgestaltet hat, festgehalten. Der Vorrang des Unionsrechts steht dem nicht entgegen. Auch wenn das Unionsrecht in Gestalt der Freizügigkeitsrichtlinie eine Ermessensentscheidung im Sinne von § 40 VwVfG nicht verlangt (vgl. Dienelt, in: Bergmann/ Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 6 FreizügG/EU Rn. 22), hindert es den nationalen Gesetzgeber doch nicht daran, eine solche vorzusehen. Die - zwingend vorgegebene - Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Art. 27 Abs. 2 RL 2004/38/EG) ist auch bei einer Ermessensentscheidung sichergestellt und insoweit voll gerichtlich überprüfbar. Eine rechtmäßige Ermessensentscheidung setzt in der Regel allerdings auch voraus, dass die Behörde den entscheidungserheblichen und für eine sachgemäße Wahrnehmung der Letztverantwortlichkeit maßgeblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt und in ihre Erwägungen eingestellt hat. Hat die Behörde wesentliche Umstände übersehen oder konnte sie diese noch nicht berücksichtigen und kommt es nicht zu einer Nachbesserung im gerichtlichen Verfahren nach § 114 Satz 2 VwGO, führt dies wegen Ermessensfehlgebrauchs zur Rechtswidrigkeit der Ermessensentscheidung (vgl. Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 41. EL Juli 2021, § 114 VwGO Rn. 53).
49 Da für die gerichtliche Überprüfung der Entscheidung über die Verlustfeststellung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist (s.o.), trifft die Ausländerbehörde auch während des gerichtlichen Verfahrens - wie nach altem Recht bei der Ermessensausweisung - eine Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer Verlustfeststellungsentscheidung und gegebenenfalls zur Ergänzung ihrer Ermessenserwägungen (BVerwG, Urteil vom 15. November 2007 - 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20 Rn. 20 m.w.N.; siehe auch Urteil vom 22. Februar 2017 - 1 C 27.16 - BVerwGE 157, 356 Rn. 23).
50 2.3.2 Bei der Ermessensentscheidung über eine Verlustfeststellung sind neben den in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU ausdrücklich erwähnten Gesichtspunkten im Grundsatz auch Nachteile zu berücksichtigen, die den Ausländer im Herkunftsland erwarten. Dies gilt uneingeschränkt für solche Nachteile, die das Gewicht eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nicht erreichen, aber gleichwohl so erheblich sind, dass sie sich auf die durch Art. 7 GRC und Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Belange des Ausländers auswirken können (a). Gefahren, die so schwerwiegend sind, dass sie die Voraussetzungen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots begründen, sind im Ausweisungsverfahren jedenfalls dann nicht zu berücksichtigen, wenn für diese eine ausschließliche Prüfungszuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) besteht (b).
51 a) Nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU, der Art. 28 Abs. 1 RL 2004/38/EG nahezu wortgleich umsetzt, sind bei der Entscheidung über die Verlustfeststellung insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Gefahren und Nachteile, die dem Ausländer im Herkunftsland drohen, werden dabei zwar nicht ausdrücklich erwähnt. Ebenso wie bei der Ausweisung (§ 53 Abs. 2 AufenthG) ist die Aufzählung der zu berücksichtigenden Gesichtspunkte aber nicht abschließend ("insbesondere"). Die Erwähnung der "Bindungen zum Herkunftsstaat" in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU (vgl. dazu auch EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006 - 46410/99, Üner - Rn. 58, sowie EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 [ECLI:EU: C:2011:809], Ziebell - Rn. 80), könnten darauf schließen lassen, dass die Ermessensentscheidung jedenfalls dann, wenn eine Abschiebung nicht von vornherein rechtlich ausscheidet, auch - ausgewählte - Folgen im Herkunftsstaat einzubeziehen hat und nicht etwa allein am Interesse des Ausländers am Verbleib in Deutschland ausgerichtet werden kann. Zur - strukturell vergleichbaren - Ausweisung hat das Bundesverwaltungsgericht schon unter Geltung des Ausländergesetzes 1965 darauf hingewiesen, dass das private Interesse des Ausländers, sich nicht in einen (bestimmten) anderen Staat begeben zu müssen, sondern im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, aus sämtlichen Nachteilen resultiert, die mit der Ausweisung verbunden sind. In die Abwägung der für und gegen die Ausweisung sprechenden Gründe seien daher auch solche Belange des Ausländers einzubeziehen, die keinen derart strikten rechtlichen oder verfassungsrechtlichen Schutz genießen, dass er unter allen Umständen vor ihnen bewahrt werden muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Dezember 1987 - 1 C 29.85 - BVerwGE 78, 285, 291).
52 Eine Berücksichtigung der Folgen einer Ausweisung für den Ausländer im Herkunftsland unter dem Aspekt des Art. 8 EMRK erscheint dem Grunde nach auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) geboten (vgl. EGMR, Urteile vom 20. Dezember 2018 - 18706/16, Cabucak/Deutschland - Rn. 51 und vom 6. Februar 2001 - 44599/98, Bensaid/Vereinigtes Königreich - Rn. 46 ff.). Der EuGH geht ebenfalls ganz allgemein davon aus, dass die Folgen einer Ausweisung nicht nur für die Familienangehörigen, sondern auch für die betreffende Person bei der Entscheidung über eine Ausweisung zu berücksichtigen seien (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 - Rn. 80). Selbst wenn nach aktueller Rechtslage weder im allgemeinen Ausweisungsrecht noch in § 6 FreizügG/EU eine Regelung enthalten ist, nach der Duldungsgründe und Abschiebungsverbote bei der Entscheidung über eine Ausweisung zu berücksichtigen sind (vgl. zuletzt § 55 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG in der bis 31. Dezember 2015 geltenden Fassung) und dies Zweifel begründen mag, ob diese Verpflichtung noch fortbesteht, ist an der älteren Rechtsprechung zur Berücksichtigungspflicht von Nachteilen und Gefahren im Herkunftsland jedenfalls insoweit festzuhalten, als es um Nachteile geht, die unterhalb der Schwelle eines Abschiebungsverbots verbleiben, sofern sie sich a f die durch Art. 7 GRC und Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Belange des Ausländers auswirken können.
53 b) Geltend gemachte Gefahren im Herkunftsstaat, die die Schwelle zu einem zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 AufenthG überschreiten, können hingegen im Rahmen der Ermessensentscheidung bzw. (bei der Ausweisung) der Interessenabwägung jedenfalls insoweit nicht berücksichtigt werden, als für das Abschiebungsverbot eine ausschließliche Prüfungszuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge besteht und dieses ein solches Verbot bisher nicht festgestellt hat. Dies gilt insbesondere für zielstaatsbezogene Gefahren, die ihrer Art nach objektiv geeignet sind, eine Anerkennung als Asylberechtigter oder Flüchtling oder die Zuerkennung subsidiären Schutzes zu begründen. Denn nach der - vom Berufungsgericht zutreffend zugrunde gelegten - Rechtsprechung des Senats ist ein Ausländer mit einem materiellen Asylbegehren, das nach § 13 AsylG i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3474) seit dem 1. Dezember 2013 auch das Begehren auf subsidiären Schutz umfasst, hinsichtlich aller zielstaatsbezogener Schutzersuchen und Schutzformen auf das Asylverfahren vor dem Bundesamt zu verweisen; er hat kein Wahlrecht zwischen einer Prüfung durch die Ausländerbehörde und einer Prüfung durch das Bundesamt (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2019 - 1 C 30.17 - Buchholz 402.251 § 29 AsylG Nr. 6 Rn. 22). Ein Ausländer ist daher nach aktueller Rechtslage schon dann - gemäß § 24 Abs. 2 AsylG auch hinsichtlich nationaler Abschiebungsverbote - zwingend auf das Asylverfahren vor dem Bundesamt verwiesen, wenn er sich auf Gefahren beruft, die ihrer Art nach objektiv geeignet sind, subsidiären Schutz zu begründen. Hat er bereits erfolglos ein Asylverfahren durchgeführt, ist unabhängig davon die Ausländerbehörde zudem gemäß § 6 Satz 1 und § 42 Satz 1 AsylG an die in jenem Verfahren (zuletzt) getroffene Entscheidung des Bundesamts oder des Verwaltungsgerichts gebunden. Diese Bindungswirkung kommt nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch negativen Entscheidungen des Bundesamts zu (vgl. BVerwG, Urteile vom 7. September 1999 - 1 C 6.99 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 20, vom 21. März 2000 - 9 C 41.99 - BVerwGE 111, 77 <80 f.> und vom 27. Juni 2006 - 1 C 14.05 - BVerwGE 126, 192 Rn. 12). Auch bei nachträglicher erheblicher Änderung der Sachlage ist ausschließlich das Bundesamt zur Korrektur seiner einmal getroffenen Feststellungen befugt, und zwar unabhängig von dem Zeitraum, der seit der Erstentscheidung des Bundesamts verstrichen ist.
54 Die Ausländerbehörde ist deshalb im Ausweisungsverfahren an eine negative Entscheidung des Bundesamtes über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 5 und 7 AufenthG gebunden. Sie ist nach bisheriger Rechtsprechung auch nicht verpflichtet, das Ausweisungsverfahren auszusetzen, bis das Bundesamt eine aktuelle Entscheidung über einen Asylfolgeantrag oder ein Folgeschutzgesuch getroffen hat, sondern darf ihre Entscheidung (zunächst) auf der unterstellten, nicht notwendigerweise weiterhin zutreffenden tatsächlichen Grundlage treffen, dass kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot vorliegt. Wird später ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot festgestellt, kann der Betroffene gegebenenfalls einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens stellen.[...]
56 2.3.3 Nach diesen Maßstäben erweist sich die Entscheidung der Beklagten als ermessensfehlerhaft, soweit diese die geltend gemachte Gefahr einer dem Kläger in der Türkei drohenden erneuten langjährigen Freiheitsstrafe bezüglich der Auswirkungen auf das durch Art. 7 GRC, Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Familien- und Privatleben des Klägers nicht durch eine nachträgliche Ergänzung ihrer Ermessenserwägungen berücksichtigt hat. Der Kläger hat sich im Klageverfahren hinreichend substantiiert auf die Gefahr berufen, dass gegen ihn in der Türkei ein neues Strafverfahren wegen der 2017 in Deutschland abgeurteilten Betäubungsmitteldelikte droht. Er hat darauf hingewiesen, dass das diesen Delikten zugrundeliegende Tatgeschehen (Einfuhr von Heroin aus der Türkei) einen eindeutigen Bezug zur Republik Türkei aufweist und dass nach obergerichtlicher Rechtsprechung gerade bei Betäubungsmitteldelikten mit Türkeibezug eine erneute Strafverfolgung in der Türkei grundsätzlich in Betracht komme. Des Weiteren hat er auf Feststellungen in der Rechtsprechung hingewiesen, nach denen zwischen der Türkei und der Bundesrepublik Deutschland ein regelmäßiger Strafnachrichtenaustausch stattfinde; jeder Staat unterrichte den anderen von allen dessen Staatsangehörige betreffenden strafrechtlichen (rechtskräftigen) Verurteilungen und nachfolgenden Maßnahmen, die in das Strafregister eingetragen worden seien.
57 Der Hinweis des Klägers auf den nur begrenzt geltenden, hier nicht einschlägigen Grundsatz "ne bis in idem" geht insoweit zwar fehl, als er hieraus ein zwingendes Abschiebungsverbot herleitet. Denn es gibt keine unions-, völker- oder verfassungsrechtlich zwingende Regel, nach der ein straffälliger Ausländer absolut davor geschützt werden muss, in der Türkei für eine bereits in Deutschland abgeurteilte Straftat ein weiteres Mal verurteilt zu werden und diese Strafe - gegebenenfalls auch ohne Anrechnung der im Bundesgebiet verbüßten - auch verbüßen zu müssen (vgl. Berufungsgericht UA S. 23). Eine nach Art. 3 EMRK unzulässige unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung dürfte erst dann vorliegen, wenn die den Ausländer im Herkunftsland erwartende Strafe mit Blick auf eine Nichtanrechnung oder Nichtberücksichtigung der in der Bundesrepublik Deutschland wegen derselben Tat erlittenen Strafe als unerträglich hart und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erscheint (vgl. etwa VG Aachen, Beschluss vom 21. Januar 2020 - 6 L 1332/19.A - juris Rn. 30 ff.; VGH Mannheim, Urteil vom 10. Juli 2002 - 13 S 1871/01 - juris Rn. 46; OVG Münster, Beschluss vom 22. Januar 2002 - 17 B 519/01 - juris Rn. 4).
58 Eine (mögliche) Doppelbestrafung ist allerdings auch unterhalb der Schwelle eines zwingenden Abschiebungsverbots geeignet, sich auf die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das durch Art. 7 GRC, Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Familienund Privatleben des Klägers auszuwirken. Sie muss deshalb in die Ermessensentscheidung über die Verlustfeststellung einbezogen werden. Dies gilt nicht nur unter dem - vom Berufungsgericht erwogenen - Gesichtspunkt, dass eine erneute Freiheitsstrafe dem Kläger die Aufrechterhaltung der Kontakte zu seiner Familie während der Dauer der verfügten Verlustfeststellung mit einem vierjährigen Einreiseverbot erschweren würde. Vielmehr wäre im Falle einer dem Kläger drohenden, vier Jahre (möglicherweise deutlich) übersteigenden Freiheitsstrafe neu zu bewerten, ob sich die Verlustfeststellung auch unter Berücksichtigung der damit faktisch verlängerten Dauer der Familientrennung als verhältnismäßig und angemessen erwiese. Dies setzt zunächst voraus, im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren aufzuklären, ob dem Kläger eine erneute Verurteilung in der Türkei tatsächlich droht, welches Strafmaß gegebenenfalls in Betracht käme und inwieweit mit einer Anrechnung der in Deutschland verbüßten Strafhaft zu rechnen wäre. Zur selbstständigen Prüfung dieser auf das Herkunftsland bezogenen Umstände ist die Beklagte - gegebenenfalls unter Zuhilfenahme der Sachkunde des Bundesamtes - befugt und verpflichtet, wenn und weil sie die Schwelle einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art. 3 EMRK voraussichtlich nicht erreichen (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2009 - 1 C 11.08 - BVerwGE 134, 124 Rn. 22).
59 Die Beklagte war mithin auf das erwähnte Klagevorbringen hin - mit Blick auf die Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer Verlustfeststellungsentscheidung - unter dem Aspekt des Art. 7 GRC, Art. 8 Abs. 1 EMRK gehalten, die Aufrechterhaltung der Verlustfeststellung zu überprüfen und ihre Ermessenserwägungen gegebenenfalls bis zum Abschluss der Tatsacheninstanzen entsprechend zu ergänzen. Diesen Anforderungen genügt die Reaktion der Beklagten vorliegend nicht. Denn diese beschränkt sich auf den Hinweis im Berufungsverfahren, das Vorbringen des Klägers sei allenfalls geeignet, ein vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu prüfendes Abschiebungsverbot zu begründen, das nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sei und auch nicht "per se" vorliege. Eigene Erwägungen des Berufungsgerichts können unzureichende Ermessenserwägungen der Behörde insoweit nicht ersetzen. [...]