BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 21.01.2000 - 2 BvR 2125/97 - asyl.net: R5538
https://www.asyl.net/rsdb/R5538
Leitsatz:

Vorläufige Untersagung des Vollzugs der Abschiebung eines Asylbewerbers - Klärungsbedarf bzgl inländischer Fluchtalternative.

Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Sympathisanten, Demonstrationen, Hausdurchsuchung, Festnahme, Misshandlungen, Verfolgungszusammenhang, Berufungszulassungsantrag, Divergenzrüge, Rechtliches Gehör, Grundsätzliche Bedeutung
Normen: AsylVfG § 78; GG Art. 19 Abs. 4
Auszüge:

Eröffnet das Prozeßrecht eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG auch in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. Zwar gewährleisten weder Art. 19 Abs. 4 GG noch andere Verfassungsbestimmungen einen Instanzenzug. Sehen aber prozeßrechtliche Vorschriften Rechtsbehelfe oder - wie vorliegend Art 78 AsylVfG - die Möglichkeit vor, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten, so verbietet Art. 19 Abs. 4 GG eine Auslegung und Anwendung dieser Rechtsnormen, die die Beschreitung des eröffneten (Teil-)Rechtswegs in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschweren. Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes (Teil-)Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leerlaufen" lassen.

Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt der angegriffene Beschluß des Oberverwaltungsgerichts nicht. Nach allgemeiner Auffassung ist ein Antrag auf Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) in einen Antrag auf Berufungszulassung wegen Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) umzudeuten, wenn zwischenzeitlich die aufgeworfene grundsätzliche Frage durch eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts beantwortet worden ist; denn die Divergenzberufung ist ein Unterfall der Grundsatzberufung und dient ebenso wie diese der Sicherung der Rechtseinheit.

Dies hat das Oberverwaltungsgericht nicht beachtet und dadurch den Zugang zur Berufungsinstanz in einer aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert. Im maßgeblichen Zeitpunkt seiner Beschlußfassung hatte das Oberverwaltungsgericht die von der Beschwerdeführerin in ihrem Zulassungsantrag als grundsätzlich bezeichnete Frage zur hinreichenden Verfolgungssicherheit im Gebiet der inländischen Fluchtalternative schon durch sein Urteil vom 26. September 1996 - 1 L 10/95 - im Sinne der Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin und entgegen der vom Verwaltungsgericht vertretenen Ansicht grundsätzlich geklärt. Danach seien solche Kurden aus der Südosttürkei, die bei den Sicherheitskräften am Heimatort im Verdacht stehen, mit der militanten kurdischen Bewegung zu sympathisieren, in der Westtürkei nicht hinreichend sicher vor Verfolgung. Mit seiner Annahme, eine inländische Fluchtalternative sei (nur) dann nicht gegeben, wenn Anhaltspunkte dafür bestünden, daß gegen die Person eine landesweite Fahndung eingeleitet worden sei (vgl. Urteilsabdruck S. 8), hat das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung eine tatsächliche Feststellung mit verallgemeinerungsfähigen Auswirkungen zugrunde gelegt, die von dieser - nachträglich in der Rechtsprechung des OVG getroffenen - verallgemeinerungsfähigen Tatsachenfeststellung (vgl. BVerwGE 70, 24) abweicht. Das OVG hat - über die Annahme des Verwaltungsgerichts hinaus - eine hinreichende Verfolgungssicherheit nicht erst bei Einleitung landesweiter Fahndungsmaßnahmen verneint, sondern bereits bei einem bloßen Verdacht der Sicherheitsbehörden am Heimatort, mit der militanten kurdischen Bewegung zu sympathisieren. Als Folge hiervon war die von der Beschwerdeführerin aufgeworfene Grundsatzfrage nunmehr zwar nicht mehr in einem Berufungsverfahren klärungsbedürftig. Hingegen wich das Urteil des Verwaltungsgerichts jetzt objektiv von der Rechtsprechung des OVG ab (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG), so daß der auf grundsätzliche Bedeutung gestützte Berufungszulassungsantrag der Beschwerdeführerin gem. dem unter 2. a) dargelegten Grundsatz umzudeuten war.