VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 16.02.2005 - A 6 K 13354/03 - asyl.net: M6870
https://www.asyl.net/rsdb/M6870
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für afghanischen Staatsangehörigen wegen Konversion zum Christentum.

 

Schlagwörter: Afghanistan, religiös motivierte Verfolgung, Apostasie, Konversion, Christen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für afghanischen Staatsangehörigen wegen Konversion zum Christentum.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Jedoch hat der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG.

In Afghanistan sind das Leben oder die Freiheit des Klägers wegen seiner Religion bedroht. Er hat durch Vorlage einer Taufurkunde bewiesen, dass er am 02.09.2004 in Heilbronn römisch-katholisch getauft worden ist, also von der islamisch-sunnitischen Religion zum Christentum konvertiert ist. Das Gericht glaubt ihm ohne Weiteres, dass er seinen neuen Glauben auch ausübt und dass er ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht aufgeben würde. Als konvertiertem Christen wäre es ihm in Afghanistan aber unmöglich, seinen Glauben in irgendeiner Form zu leben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 -, BVerfGE 76, 143, 158 ff.) ist die Religionsfreiheit asylrechtlich nicht umfassend geschützt, sondern nur in einem Kernbereich, den der Mensch als religiöses Existenzminimum benötigt. Zu diesem Existenzminimum gehört die Religionsausübung im häuslich-privaten Bereich, wie etwa der häusliche Gottesdienst, aber auch die Möglichkeit zum Reden über den eigenen Glauben oder zum religiösen Bekenntnis im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich, ferner das Gebet und der Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit. Ein asylrechtlich relevanter Eingriff in die Religionsfreiheit liegt demnach nicht schon dann vor, wenn Bezeichnungen, Merkmale, Symbole oder Bekenntnisform in der Öffentlichkeit unterdrückt werden.

Aus dem Gutachten von Dr. Mostafa Danesch vom 13.05.2004 an das Verwaltungsgericht Braunschweig ergibt sich aber, dass einer Person, die vom Islam zum Christentum konvertiert ist, eine Ausübung ihres Glaubens, so diskret diese auch immer gestaltet sein mag, weder im familiären noch im nachbarschaftlichen Kontext möglich ist. Auch Zusammenkünfte mit anderen Gläubigen zum Zweck von Gebet und Gottesdiensten sind einer solchen Person nicht möglich. Dr. Danesch begründet dies damit, dass Afghanistan nach wie vor ein nicht nur islamisch, sondern fundamentalistisch geprägtes Land mit einer ausgeprägten Stammesmentalität ist. In einer solchen Gesellschaft herrschen Werte, die entweder vom Islam oder von Stammestraditionen bestimmt sind. Über die Einhaltung dieser Werte wacht auf dem Land der Clan und unter der städtischen Bevölkerung die eng verbundene Großfamilie. Die Familie ist der Garant dafür, dass die althergebrachten Werte eingehalten werden, und sie verstößt jedes Familienmitglied, das diesen zuwider handelt. Wer zum christlichen Glauben übertritt, der bringt Schande nicht nur über sich selbst, sondern über die gesamte Familie. Ein solches Verhalten kann auch in der Nachbarschaft bzw. in der moslemischen Gemeinde nicht verborgen bleiben. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Abfall vom Islam das denkbar schwerste religiöse Verbrechen ist, das in der Regel mit dem Tod geahndet wird. Dr. Danesch führt ferner aus, Personen, die zum Christentum übergetreten seien, müssten mit Sanktionen sowohl von privater als auch von staatlicher Seite rechnen. Keine afghanische Familie würde ein solches Verhalten tolerieren. Dabei räume man in einer traditionell-islamischen Gesellschaft der Familie weitgehende Sanktionsmöglichkeiten gegen Mitglieder ein, die "Schande" über sich gebracht hätten. Dazu gehörten harte Bestrafungen, Verstoßung und sogar die Tötung. Auch Übergriffe von staatlicher Seite gegen Konvertiten seien denkbar. In Kabul und im ganzen Land werde heute praktisch wieder nach der Scharia geurteilt, nach der "Abtrünnige vom Islam" streng bestraft würden. Anders sei aber die Situation, wenn eine Person einer christlichen Familie von vornherein angehöre und im christlichen Glauben aufgewachsen sei. Solche Personen seien keinen systematischen Übergriffen durch Staat und Gesellschaft ausgesetzt.

Das Gericht ist von der Richtigkeit dieser Stellungnahme überzeugt. Der Gutachter Dr. Danesch ist ein ausgewiesener Kenner der Verhältnisse in Afghanistan; er wird von zahlreichen Gerichten und Behörden als Sachverständiger hinzugezogen. Seine Ausführungen sind detailliert und ohne Weiteres nachvollziehbar. Die Beteiligten haben gegen die Richtigkeit seiner Ausführungen ebenfalls keine Einwände geäußert.