VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 31.01.2005 - 11 B 02.31597 - asyl.net: M6554
https://www.asyl.net/rsdb/M6554
Leitsatz:

Jedenfalls für junge, gesunde, männliche Tschetschenen ist außerhalb von Tschetschenien und Inguschetien eine inländische Fluchtalternative in der Russischen Föderation eröffnet.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenen, Tschetschenien, Interne Fluchtalternative, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Krasnodar, Stawropol, Freizügigkeit, Situation bei Rückkehr, Pass, Registrierung, Polizei, Übergriffe, Schikanen, Existenzminimum, Nichtstaatliche Verfolgung, Rassismus
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Jedenfalls für junge, gesunde, männliche Tschetschenen ist außerhalb von Tschetschenien und Inguschetien eine inländische Fluchtalternative in der Russischen Föderation eröffnet.

(Leitsatz der Redaktion)

 

An die Stelle des § 51 Abs. 1 AuslG ist mit Wirkung ab dem 1. Januar 2005 die Vorschrift des § 60 Abs. 1 AufenthG getreten. Auch nach dieser Bestimmung, die in ihrem Kernbestand mit dem Regelungsgehalt des § 51 Abs. 1 AuslG übereinstimmt, ist die vollziehende Gewalt nicht gehindert, den Beigeladenen in die Russische Föderation abzuschieben.

Es kann dahinstehen, ob der Beigeladene die Russische Föderation als individuell vorverfolgte Person verlassen hat. Ebenfalls auf sich beruhen kann, ob er einer Gruppe angehört, die im Zeitpunkt seiner Ausreise in einem Teil des russischen Staatsgebiets politisch verfolgt wurde bzw. heute dort verfolgt wird. Denn auch wenn all diese Fragen zu seinen Gunsten zu beantworten sein sollten und die Prognose, ob er nach einer Rückkehr in die Russische Föderation dort politische Verfolgung zu befürchten hat, deshalb anhand des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs anzustellen wäre, wäre der Beigeladene heute in den meisten Teilen des russischen Staatsgebiets vor Maßnahmen, denen nach § 60 Abs. 1 AufenthG Rechtserheblichkeit zukommt, "hinreichend sicher".

Dass dem Beigeladenen eine Aufenthaltnahme in der Tschetschenischen Republik selbst nicht zugemutet werden kann, bedarf angesichts der Tatsache, dass sich die Sicherheitslage dort seit Mai 2004 wieder erheblich verschlechtert hat (vgl. Abschnitt I.1 des Ad-hoc-Berichts des Auswärtigen Amtes vom 13.12.2004) und die menschenrechtliche Lage dort nach wie vor äußerst Besorgnis erregend ist (Ad-hoc-Bericht vom 13.12.2004, Abschnitt I.5), es namentlich weiterhin regelmäßig zu Übergriffen der Sicherheitskräfte auch auf die Zivilbevölkerung kommt (Ad-hoc-Bericht vom 13.12.2004, ebenda), keiner näheren Darlegung.

Auf eine inländische Fluchtalternative in Inguschetien kann der Beigeladene jedenfalls derzeit ebenfalls nicht verwiesen werden. Von dieser Gegebenheit geht seit dem Ende des Jahres 2002 auch das Bundesamt aus (vgl. die diesbezügliche ausdrückliche Aussage am Ende des Abschnitts 5.2 der Ausarbeitung "Die Geiselnahme von Moskau" vom Dezember 2002).

Der Bejahung einer inländischen Fluchtalternative in Kabardino-Balkarien steht entgegen, dass nicht hinreichend gewährleistet ist, ob der Beigeladene dort einen legalen Aufenthalt begründen kann.

Ähnlich wie in Kabardino-Balkarien stellt sich die Situation in den Regionen Krasnodar und Stawropol dar, die ebenfalls wegen Verstößen gegen verfassungs- und föderationsrechtliche Bestimmungen über die Freizügigkeit durch den Ombudsmann der Russischen Föderation bereits mehrfach zur Verantwortung gezogen wurden (vgl. Abschnitt 33 der Stellungnahme des UNHCR über Asylsuchende aus der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der Lage in Tschetschenien vom Januar 2002 sowie Abschnitt 45 in der Fassung dieser Unterlage vom Februar 2003).

In den übrigen Teilen der Russischen Föderation aber ist der Beigeladene heute vor asylrechtlich relevanten Maßnahmen der russischen Staatsgewalt sowie solcher nichtstaatlicher Akteure, deren Verhalten sich die Russische Föderation nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. b) und c) AufenthG ggf. zurechnen lassen muss, hinreichend sicher.

1. Bei seiner (freiwilligen oder erzwungenen) Rückkehr nach Russland hätte er asylrechtlich relevante Übergriffe nicht bereits im Zusammenhang mit der Einreise zu befürchten.

2. Nach Absolvierung der Einreiseformalitäten wäre auch der Beigeladene weder rechtlich noch faktisch gezwungen, sich nach Tschetschenien oder Inguschetien oder in einen anderen Teil der Russischen Föderation zu begeben, in dem er vor Verfolgung nicht hinreichend sicher ist.

Ein solches Ausweispapier ist grundsätzlich bei der für den Betroffenen zuständigen Meldebehörde zu beantragen (Abschnitt III.4 des Ad-hoc-Berichts vom 13.12.2004). Das bedeutet jedoch nicht, dass der Beigeladene persönlich bei dem Einwohnermeldeamt in Tschetschenien oder Inguschetien vorsprechen muss, bei dem er zuletzt mit ständigem Wohnsitz registriert war.

Der Verwaltungsgerichtshof verkennt bei alledem nicht, dass die Erlangung gültiger Dokumente mühselig und zeitaufwändig sein kann und vom Betroffenen Engagement und Durchhaltevermögen sowie die Bereitschaft verlangt, ggf. die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen und den Rechtsweg zu beschreiten (vgl. die auf S. 59 f. der Ausarbeitung "Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation Juni 2003 ­ Mai 2004" erwähnte Notwendigkeit der Einschaltung eines Dumaabgeordneten bzw. des Komitees "Bürgerbeteiligung", ferner die auf S. 38 f. der gleichen Unterlage geschilderten Fälle der erfolgreichen Anrufung eines Gerichts durch Tschetschenen, denen außerhalb Tschetscheniens die Ausstellung von Pässen verweigert worden war).

3. Dem Beigeladenen ist es ferner möglich, innerhalb der Teile der Russischen Föderation, die als sichere Zufluchtsgebiete in Betracht kommen, einen legalen Aufenthalt zu begründen.

Als russischem Staatsbürger steht ihm von Verfassung wegen das Recht zu, seinen Wohnsitz bzw. seinen (vorübergehenden) Aufenthalt innerhalb des gesamten Föderationsgebiets frei zu wählen (vgl. Abschnitt III.2 des Ad-hoc-Berichts vom 13.12.2004). Zur Legalisierung der Niederlassung bedarf es nach der Abschaffung des früheren Systems der Zuzugsgenehmigung ("propiska") nur noch einer Anmeldung am Wohnsitz ("dauerhafte Registrierung") oder am Ort des temporären Aufenthalts ("vorübergehende Registrierung"; vgl. auch dazu Abschnitt III.2 des Ad-hoc-Berichts vom 13.12.2004).

Dessen ungeachtet ist es einem Tschetschenen selbst in der russischen Hauptstadt - wenn auch ggf. erst nach Überwindung erheblicher Hürden - möglich, sich behördlich anzumelden und so seinen Aufenthalt dort zu legalisieren; in Ansehung der Teile der Föderation, in denen eine Registrierung einfacher zu erlangen ist als in Moskau (vgl. zu den insoweit günstigeren Voraussetzungen in Südrussland Abschnitt III.2 des Ad-hoc-Berichts vom 13.12.2004, zur grundsätzlichen Möglichkeit einer Registrierung außerhalb von Großstädten das Schreiben des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 18.4.2000), ist das umso mehr zu bejahen.

Anhaltspunkte dafür, dass der nicht registrierte Teil der tschetschenischen Binnenflüchtlinge eine Legalisierung seines Aufenthalts schlechthin nicht zu erreichen vermochte, ergeben sich aus den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln nicht.

4. Besitzt ein Tschetschene aber sowohl gültige Ausweispapiere als auch eine Registrierung an dem Ort, an dem er angetroffen wird, so gibt er damit der russischen Staatsgewalt keine Handhabe, um ihn mit ggf. asylrechtlich relevanten Maßnahmen zu überziehen. Bezeichnenderweise liegen dem Verwaltungsgerichtshof keine Erkenntnisse darüber vor, dass Tschetschenen, die diese Anforderungen erfüllten und die in ihrer Person auch keinen sonstigen Anlass zu polizeilichem Einschreiten gegeben haben, in jüngerer Zeit außerhalb derjenigen Teile der Russischen Föderation, die nach dem Vorgesagten nicht als hinreichend sicher angesehen werden können, seitens der russischen Staatsgewalt in asylrechtlich erheblicher Weise belangt wurden.

Festzuhalten bleibt bei alledem, dass die Lebensumstände jedenfalls solcher Tschetschenen, die aus dem Bürgerkriegsgebiet stammen (d.h. sich nicht bereits vor Ausbruch des Konflikts andernorts in der Russischen Föderation angesiedelt und sich in einer russisch geprägten Umgebung sozialisiert haben), auch in den als hinreichend sicher einzustufenden Teilen Russlands schwierig sind. Die vorstehend aufgezeigten Gegebenheiten rechtfertigen es deshalb nicht ohne weiteres, das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative für jeden tschetschenischen Asylsuchenden zu bejahen. Gesonderter, sorgfältiger Betrachtung bedarf namentlich die Frage, ob bereits die Schwierigkeiten und die Verzögerungen, die ein Angehöriger dieses Volkes weithin in Kauf nehmen muss, um in den hierfür in Betracht kommenden Landesteilen einen legalen Aufenthalt zu begründen, ihn in eine "ausweglose Lage" bringen kann. Ob das z.B. bei Kindern, bei alten, kranken oder behinderten Personen bzw. bei solchen Menschen der Fall ist, die aus sonstigen Gründen (z.B. weil sie für andere sorgen müssen und deshalb keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können) auch nur für eine beschränkte Zeit nicht ohne Leistungen der staatlichen Daseinsfürsorge in menschenwürdiger Weise existieren können, bedarf aus Anlass des vorliegenden Falles indes keiner Entscheidung. Denn beim Beigeladenen handelt es sich um einen jungen, nach Aktenlage gesundheitlich in keiner Weise beeinträchtigten Mann, der seine Arbeitskraft in vollem Umfang zur Sicherung der eigenen Existenz einsetzen kann.

Der Beigeladene wäre nach einer Niederlassung in den als hinreichend sicher einzustufenden Teilen der Russischen Föderation ferner vor Übergriffen gesellschaftlicher Kräfte hinreichend sicher, die sich der russische Staat nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG dann zurechnen lassen müsste, falls er nicht willens oder in der Lage wäre, den Betroffenen vor solchen Angriffen Schutz zu bieten. Vor allem aber zeigt eine ins Einzelne gehende Analyse konkret dokumentierter Zwischenfälle, dass es nicht Tschetschenen, sondern zumindest ganz überwiegend Angehörige anderer Volksgruppen - nämlich Schwarzafrikaner, Asiaten mit mongolischem Erscheinungsbild sowie Menschen aus dem indischen Kulturkreis -­ sind, die in den für Tschetschenen als inländische Fluchtalternative in Betracht kommenden Gebieten Russlands nichtstaatlicher Gewalt zum Opfer fallen.