OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 02.08.2004 - 2 LA 342/03 - asyl.net: M5592
https://www.asyl.net/rsdb/M5592
Leitsatz:

Verstoß gegen Gebot des rechtlichen Gehörs, wenn das Verwaltungsgericht ohne eigene Ableitung Tatsachenfeststellungen oder rechtliche Schlussfolgerungen aus einer anderen Gerichtsentscheidung übernimmt, ohne diese vorher in das Verfahren einzuführen.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Berufungszulassungsantrag, Rechtliches Gehör, Verfahrensmangel, Erkenntnismittel, Rechtsprechung, Verfahrensgegenstand, Einführung in das Verfahren, Überraschungsentscheidung, Urteilsgründe, Begründungsmangel, Syrien, Staatenlose, Einreiseverweigerung, Divergenzrüge, Grundsätzliche Bedeutung
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 2; AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 3; VwGO § 138 Nr. 3; VwGO § 138 Nr. 6; GG Art. 103 Abs. 1
Auszüge:

Entgegen der im Zulassungsantrag vertretenen Auffassung kommt eine Berufungszulassung wegen des behaupteten Verstoßes des Verwaltungsgerichts gegen das Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren (Zulassungsgrund nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO), nicht in Betracht.

Der Zulassungsantrag behauptet hierzu, das Verwaltungsgericht habe dadurch gegen das sich aus Art. 103 Abs. 1 GG ergebende Gebot verstoßen, dass es das Urteil des Senats vom 27. Mai 2003 (2 L 2040/98 -, Asylmagazin Nr. 9/2003, S. 29), das in den Entscheidungsgründen berücksichtigt worden sei, nicht ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt habe. Dieser Vortrag kann aber nicht zur Berufungszulassung führen. Allerdings kann ein Verwaltungsgericht dadurch gegen das Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, verstoßen, dass es eine von ihm in den Entscheidungsgründen herangezogene Entscheidung, namentlich eine des Obergerichts, nicht zuvor in das Verfahren eingeführt hat. Dies gilt aber nur dann, wenn aus der herangezogenen Entscheidung - hier des Senats vom 27. Mai 2003 (a.a.O.) - ohne nähere eigene Ableitung Tatsachenfeststellungen oder rechtliche Schussfolgerungen in die Urteilsgründe übernommen worden sind. Ist dies nicht der Fall und hat das Verwaltungsgericht die herangezogene Entscheidung nur zur Stützung seiner rechtlichen Bewertung verwertet, so liegt ein Gehörsverstoß nicht vor, weil von den Verwaltungsgerichten nur zu den tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen, nicht aber zu den (voraussichtlichen) Bewertungen rechtliches Gehör zu gewähren ist (Berlit, in: GK-AsylVfG, Stand: Oktober 2003, "RdNr. 341 zu § 78 m. w. Nachw.).

So liegen die Dinge hier, soweit in dem angefochtenen Urteil des Verwaltungsgerichts auf Seite 10 a. E. das Senatsurteil vom 27. Mai 2003 dafür in Bezug genommen wird, ob durch die fehlende Rückkehrmöglichkeit der Kläger nach Syrien ihr Asyl- und Abschiebungsschutzbegehren gegenstandslos geworden ist.

Aber auch soweit in dem angefochtenen Urteil, und zwar auf Seite 9 auf die Senatsentscheidung vom 27. Mai 2003 verwiesen wird, kann hierin ein Verstoß gegen das sich aus Art. 103 Abs. 1 GG ergebende Gebot nicht gesehen werden. Das Senatsurteil vom 27. Mai 2003 ist insoweit nämlich neben dem - ordnungsgemäß durch die Verfügung vom 3. Juli 2003 - in das Verfahren eingeführten Senatsurteil vom 27. März 2001 (2 L 2505/98 -, Asylmagazin Nr. 7 - 8/2002, S. 32) lediglich als aktuelle Bekräftigung der im Übrigen durch zusätzliche, ebenfalls ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführte Erkenntnismittel (Auskünfte des Auswärtigen Amtes v. 30.1.2001 an das VG Aachen u. v. 26.4.2001 an das VG des Saarlandes; Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 8.2.2001) belegten Einschätzung angeführt worden, das von den syrischen Stellen gegenüber staatenlosen, ohne Genehmigung ausgereisten Kurden praktizierte Wiedereinreiseverbot habe "keinen asylrechtlich relevanten Anknüpfungspunkt". Dass das Verwaltungsgericht das praktizierte Wiedereinreiseverbot nach der Rechtsprechung des Senats (Urt. v. 27.3.2001, aaO) und den genannten Erkenntnismitteln nicht als asylerheblich auffassen würde, konnte damit für die Kläger nicht überraschend sein.

Soweit der Zulassungsantrag weiter meint, das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts sei in Bezug auf die Verneinung eines Anspruchs der Kläger auf Asylgewährung und/oder Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG nicht mit Gründen versehen und leide daher an einem Verfahrensmangel i. S. des § 138 Nr. 6 VwGO, weil die Frage, ob das Wiedereinreiseverbot eine politische Verfolgung darstellen könne, von dem Verwaltungsgericht nur in Bezug auf die Vorschrift des § 53 AuslG geprüft worden sei, kann auch dies nicht zum Erfolg des Zulassungsbegehrens führen.

§ 138 Nr. 6 VwGO ist nur verletzt, wenn "die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist". Die Vorschrift bezieht sich damit auf den notwendigen (formellen) Inhalt eines Urteils nach § 117 Abs. 2 Nr. 5 VwGO. Danach müssen in einem verwaltungsgerichtlichen Urteil diejenigen Entscheidungsgründe schriftlich niedergelegt werden, welche für die richterliche Überzeugungsbildung leitend gewesen sind (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO).

Nicht mit Gründen versehen i. S. des § 138 Nr. 6 VwGO ist eine Entscheidung nur, wenn sie so mangelhaft begründet ist, dass die Entscheidungsgründe ihre doppelte Funktion nicht mehr erfüllen können. Das ist nach der Rechtsprechung allerdings nicht nur dann der Fall, wenn dem Tenor der Entscheidung überhaupt keine Gründe beigegeben sind, sondern auch dann, wenn die Begründung völlig unverständlich und verworren ist, so dass sie in Wirklichkeit nicht erkennen lässt, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgebend gewesen sind (BVerwG, Urt. v. 30.6.1992 - BVerwG 9 C 5.91 -, DVBI. 1993, 47).

Nach allgemeiner Ansicht verletzt ein Urteil dagegen § 138 Nr. 6 VwGO nicht schon dann, wenn die Entscheidungsgründe lediglich unklar, unvollständig, oberflächlich oder unrichtig sind (BVerwG, Beschl. v. 5.6.1998 - BVerwG 9 B 412.98 -, NJW 1998, 3290 = Asylmagazin Nr.. 5/1998, S. 52, v. 11.9.1996 - BVerwG 9 B 352.96 - u. v. 13.6.1988 - BVerwG 4 C 4.88 -, NVwZ-RR 1989, 334).

Nach diesen Maßstäben liegt der von dem Zulassungsantrag gerügte Verfahrensmangel nach § 138 Nr. 6 VwGO nicht vor. Das Verwaltungsgericht hat, wie die Kläger selbst einräumen, auf Seite 6 der Urteilsgründe - als Obersatz - ausgeführt, die Kläger könnten weder Asyl noch Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG oder § 53 AuslG beanspruchen, weil sie Staatenlose seien und ihr entsprechendes Begehren im Hinblick auf ihre Herkunftsstaat - hier Syrien - nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts deshalb gegenstandslos sei. Damit liegt bereits aufgrund dieser Ausführungen eine ordnungsgemäße Begründung nach den eingangs erläuterten, sich aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 138 Nr. 6 VwGO ergebenden Mindestanforderungen vor. Im Übrigen beruhen die weiteren, von den Klägern monierten Ausführungen (zum "Gegenstandsloswerden des Abschiebungsschutzbegehrens nach § 53 AuslG") auf Seite 7 der Urteilsgründe ersichtlich nur auf einer ungenauen Begriffsverwendung sowie einer ohne weiteres aus dem Sinnzusammenhang zu korrigierenden Unterlassung seitens des Verwaltungsgerichts.

Soweit die Darlegung des Zulassungsantrages schließlich in diesem Zusammenhang meint, die weiteren Urteilsgründe ab Seite 7 bezögen sich nur auf die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG ("Abschiebungsschutzbegehren nach § 53 AuslG"), was ebenfalls einen Verfahrensmangel nach § 138 Nr. 6 VwGO darstelle, berücksichtigt sie schon nicht hinreichend, dass es sich bei den Ausführungen zur Frage der Asylerheblichkeit des Wiedereinreiseverbots (Urteilsgründe ab dem drittem Absatz der Seite 7) um eine selbständig tragende Erwägung des angefochtenen Urteils handelt, wie die einleitenden Worte, "Doch auch wenn...", deutlich machen. Hat ein Verwaltungsgericht seine Entscheidung aber auf zwei selbständig tragende Erwägungen gestützt und greift der geltend gemachte Zulassungsgrund (hier nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG) für eine der Erwägungen nicht durch, so kommt eine Berufungszulassung selbst dann nicht in Betracht, wenn der Zulassungsgrund bezüglich der zweiten Erwägung durchgreifen sollte; denn das angefochtene Urteil hätte aufgrund der ersten, selbständig tragende Erwägung auf jeden Fall Bestand.

Eine Berufungszulassung kommt auch nicht nach dem zusätzlich geltend gemachten Zulassungsgrund der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) in Betracht.

Die Kläger machen geltend, das Bundesverwaltungsgericht habe in der genannten Entscheidung festgestellt, dass ein "staatsangehörigkeitsrechtliches Minimum" als asylrechtlich geschützt anzusehen sei; wenn in dem angefochtenen Urteil des Verwaltungsgerichts aber das vom syrischen Staat gegenüber staatenlosen Kurden praktizierte Wiedereinreiseverbot lediglich als isolierte ordnungspolitische Maßnahme eingeordnet werde, so weiche das Verwaltungsgericht damit von der genannten Feststellung des Bundesverwaltungegerichts ab, vielmehr habe das Verwaltungsgericht das Wiedereinreiseverbot, das eine Ausbürgerung darstelle, als asylrelevant werten müssen.

Mit diesem Vorbringen machen die Kläger aber in Wahrheit nicht eine zur Berufungszulassung nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG führende Divergenz, sondern allenfalls eine insoweit unbeachtlich (s. Tz. 2.1) Rechtsanwendungsdivergenz geltend.

Eine Berufungszulassung kommt schließlich auch nicht wegen der von den Klägern geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung ihrer Rechtssache (Zulassungsgrund nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) in Betracht.

Die Kläger werfen als grundsätzlich klärungsbedürftig die Frage auf, ob - wie im angefochtenen Urteil geschehen - verneint werden dürfe, "dass die Weigerung des syrischen Staates, Personen wieder einreisen zu lassen, die keine syrische Staatsangehörigkeit besitzen und Syrien illegal verlassen hätten, auf asylerheblichen Gründen" beruht.

Diese Frage rechtfertigt indessen die Zulassung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG nicht. Denn die Frage, ob das vom syrischen Staat gegenüber aus Syrien stammenden staatenlosen Kurden (bei illegaler Ausreise) da es sich bei den Klägern nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils um aus Syrien stammende staatenlose Kurden handelt, die Syrien im Juli 2001 illegal verlassen haben, könnte sich nur dies Fragestellung in einem zuzulassenden Berufungsverfahren stellen, mithin entscheidungserheblich sein praktizierte Wiedereinreiseverbot asylerhebliche Bedeutung hat oder ob dies nicht der Fall ist, ist nämlich in der (aktuellen) Rechtsprechung des Senats (Urt. v. 22.6.2004 2 L 6129/96 -, 2 L 6130/98 u. 2 LB 86/03 - ) - grundsätzlich - geklärt.