VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 05.02.2021 - 3 A 190/16 - asyl.net: M29426
https://www.asyl.net/rsdb/M29426
Leitsatz:

Modifizierter Maßstab für Abschiebungsverbote bei alleinstehenden erwerbsfähigen Männern aus Afghanistan:

"Angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie sind auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unter­haltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungs­verbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK regelmäßig erfüllt, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Derartige Umstände können dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt [sich anschließend an VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 - asyl.net: M29309]."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, humanitäre Gründe, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, alleinstehende Männer, Arbeitslosigkeit, Existenzminimum,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

39 2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG.

40 Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene dadurch tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden.

41 a) Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht dem Kläger nicht aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan. [...]

46 b) Auch die allgemeine humanitäre Lage in Afghanistan begründet für den Kläger kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.

47 Nach der Rechtsprechung des EGMR können auch schlechte sozialwirtschaftliche und humanitäre Bedingungen im Herkunftsland, die nicht auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure zurückzuführen sind, sondern maßgebend auf fehlende staatliche Mittel oder fehlende staatliche Fürsorge, in ganz besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, ein Abschiebungsverbot wegen Art. 3 EMRK begründen (vgl. dazu Nds. OVG, Urt. v. 29.1.2019 - 9 LB 193/18 -, juris Rn. 45 ff.; ferner Beschl. v. 25.5.2018 - 9 LA 64/18 -, juris Rn. 6 ff. jeweils mit Verweisen auf die Rechtsprechung des EGMR). [...]

52 Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ist eine pauschale Beurteilung der Lebensbedingungen für Rückkehrer nach Afghanistan nicht möglich. Nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland kann angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen mit der Folge, dass bei allen Rückkehrern die hohen Anforderungen zur Bejahung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllt sind. Die Lage der Rückkehrer, obwohl die Situation für sie schwierig ist, stellt sich nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, liegen dem Gericht nicht vor. Das Gericht geht daher in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass zur Beurteilung der Gefahrenlage die individuellen Umstände des Rückkehrers maßgeblich sind und in der Regel für die Personengruppe der jungen, alleinstehenden und arbeitsfähigen männlichen afghanischen Staatsangehörigen bei einer Rückkehr in die Hauptstadt Kabul oder in eine andere größere Stadt wie Herat oder Mazar-e Sharif trotz der schwierigen humanitären Situation in aller Regel eine extreme Gefahrensituation im Sinne des § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung selbst dann nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit droht, wenn der Rückkehrer beruflich nicht besonders qualifiziert ist und weder über nennenswertes Vermögen noch über Rückhalt und Unterstützung durch Familie oder Bekannte verfügt (ebenso Nds. OVG, Urt. v. 29.1.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn 55 ff.).

53 Dieser Maßstab bedarf allerdings mit Blick auf die anhaltenden Auswirkungen der im Jahr 2020 aufgetretenen Covid-19-Pandemie, insbesondere die dadurch gegebenen Erschwernisse für den Arbeitsmarkt, aktuell der Modifizierung. Auch wenn eine verlässliche Einschätzung der weiteren Auswirkungen der Pandemie aufgrund der dynamischen Entwicklung des Infektionsgeschehens nicht möglich ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei der derzeitigen Zuspitzung der humanitären Lage in Afghanistan um ein temporäres Phänomen mit der Aussicht auf alsbaldige entscheidungserhebliche Verbesserungen handelt (OVG Bremen, Urt. v. 22.9.2020 - 1 LB 258/20 -, juris Rn. 52). Derzeit sind angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie daher auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK regelmäßig erfüllt, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Derartige Umstände können dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 -, juris Rn. 105 m. w. N.).

54 Besondere günstige Umstände beim Kläger liegen hier vor. Der Kläger verfügt über ein familiäres Netzwerk in Afghanistan, welches unterstützungsfähig ist. Drei Onkel väterlicherseits leben in ..., unter anderem der Onkel, bei dem er vor seiner Ausreise in Afghanistan gelebt und in dessen Laden er gearbeitet hat. Darüber hinaus lebt eine Tante mütterlicherseits in ... sowie zwei Tanten väterlicherseits in .... Darüber hinaus halten sich sechs Cousins in ... auf, die dort im handwerklichen Bereich arbeiten (Sitzungsprotokoll, S. 2 f.). Damit verfügt der Kläger über Netzwerke in ... und in ..., über die er – im Vergleich zu Rückkehrern ohne Netzwerk – erleichterte Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt hat und zudem durch diese auch in sonstiger Weise unterstützt werden kann. Hinzu kommt, dass der Onkel in ... weiterhin den Laden führt, in dem der Kläger vor seiner Ausreise aus Afghanistan bereits gearbeitet hat. Auch wenn die wirtschaftliche Lage insgesamt aufgrund der Covid-19-bedingten Auswirkungen nach dem Vorbringen des Klägers nunmehr schlecht sei (Sitzungsprotokoll, S. 2), sind Unterstützungsleistungen der Familie hierdurch nicht ausgeschlossen. Hierbei fällt maßgeblich ins Gewicht, dass nach dem Vorbringen des Klägers die wirtschaftliche Lage seiner Familie, insbesondere die seines Onkels, vor Corona-19 gut gewesen sei (Sitzungsprotokoll, S. 3) und der Onkel in der Lage gewesen ist, die Ausreise des Klägers zu finanzieren. Hinzu kommt, dass sowohl sein Onkel als auch der Kläger selbst über Ländereien verfügen (Sitzungsprotokoll, S. 3) und der Kläger seine Familie daher als grundsätzlich "wohlhabend" bezeichnet (Sitzungsprotokoll, S. 3). Damit liegen für den arbeitsfähigen Kläger besonders begünstigende Umstände vor, nach denen die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hier nicht erfüllt sind.

55 Mit Blick auf das unterstützungsfähige Netzwerk des Klägers in Afghanistan bedarf es keiner Entscheidung, ob besondere Umstände, die trotz der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG entgegenstehen, auch darin liegen können, dass eine besondere Belastbarkeit, Durchsetzungsfähigkeit oder fachliche Qualifikation des Ausländers vorliegt, so dass er im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan in der Lage wäre, dort aus eigener Kraft - auch ohne familiäres Netzwerk - seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums nachhaltig zu sichern (so OVG Rh.-Pf., Urt. v. 30.11.2020 - 13 A 11421/19 -, juris Rn. 136; vgl. ferner OVG Bremen, Urt. v. 24.11.2020 - 1 LB 351/20 -, juris Rn. 52 ff.). [...]