VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07.07.2020 - 11 S 1076/19 - asyl.net: M28709
https://www.asyl.net/rsdb/M28709
Leitsatz:

Zum Erlöschen der Ausbildungsduldung bei strafrechtlicher Verurteilung:

"1. Der Gesetzgeber hat bei der Ausgestaltung der Vorschrift des § 60a Abs. 2 Satz 6 AufenthG (in der bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Fassung dieser Vorschrift; heute: § 60c Abs. 4 i.V.m. § 19d Abs. 1 Nr. 7 AufenthG) betreffend das Erlöschen einer Ausbildungsduldung einen formalen Ansatz gewählt. Es wird nur auf das Vorliegen einer strafrechtlichen Verurteilung abgestellt sowie darauf, welche Strafvorschriften bei der Verurteilung zur Anwendung gekommen sind. Weder im Verwaltungs- noch im Gerichtsverfahren besteht Anlass, bei der Prüfung, ob eine Ausbildungsduldung wegen einer strafrechtlichen Verurteilung erloschen ist, der Frage nachzugehen, ob die Verurteilung zu Recht erfolgt ist.

2. Die Bagatellgrenze von 90 Tagessätzen in § 60a Abs. 2 Satz 6 AufenthG a.F. findet nur auf bestimmte Straftaten nach dem Aufenthaltsgesetz und dem Asylgesetz Anwendung, nicht aber auf nach anderen Gesetzen strafbare Taten. Dies gilt auch für tateinheitlich mit Straftaten nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz begangene, typische Begleitdelikte (hier: Urkundenfälschung nach § 267 Abs. 1 StGB).

3. Dem Wort "grundsätzlich" in § 60a Abs. 2 Satz 6 AufenthG a.F. kommt ausschließlich die Funktion zu, die Ausnahme von einer Regel einzuschränken. Die Regel lautet, dass die strafrechtliche Verurteilung eines Ausländers zum Erlöschen einer ihm erteilten Ausbildungsduldung führt. Die durch das Wort "grundsätzlich" eingeschränkte Ausnahme ergibt sich aus der Festlegung von auf das Strafmaß bezogenen Bagatellgrenzen.

4. Die Vorschrift des § 60a Abs. 2 Satz 6 AufenthG a.F. betreffend das Erlöschen von Ausbildungsduldungen enthält keinen Vorbehalt, wonach die Ausbildungsduldung im Falle einer relevanten strafrechtlichen Verurteilung nur dann erlischt, wenn der konkrete Fall nicht durch eine Atypik geprägt ist."

(Amtliche Leitsätze; der Beschluss enthält darüber hinaus umfangreiche Ausführungen zum Anwendungsbereich des Art. 31 GFK, der sich nach Auffassung des Gerichts grundsätzlich nur auf die Verletzung von Einreise- und Aufenthaltsvorschriften, nicht aber typische Begleitstraftaten erstreckt, eine andere Auffassung vertritt bspw. LG Berlin, Urteil vom 06.09.2016 - (564) 256 Js 1476/15 Ns (56/16) - asyl.net: M28578)

Schlagwörter: Ausbildungsduldung, Straftat, Bagatellgrenze, Ausländerstrafrecht, Begleitdelikt, Passfälschung, Urkundenfälschung, Urkundendelikt, gefälschter Pass, Erlöschen, unerlaubte Einreise, Genfer Flüchtlingskonvention,
Normen: AufenthG § 19d Abs. 1 Nr. 7, AufenthG § 25a Abs. 3, AufenthG § 60a Abs. 2 Satz 4 und 6 a.F., AufenthG § 60c Abs. 4, AufenthG § 95 Abs. 5, GFK Art. 31,
Auszüge:

[...]

c) Die dem Antragsteller im August 2018 erteilte Ausbildungsduldung ist am 29. November 2019 erloschen. Denn an diesem Tag wurde der Antragsteller vom Amtsgericht - Jugendrichter - Esslingen wegen eines Delikts der Urkundenfälschung (§ 267 Abs. 1 StGB) zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Das Urteil des Amtsgerichts führte gemäß § 60a Abs. 2 Satz 6 AufenthG a.F. unmittelbar kraft Gesetzes zum Erlöschen der Ausbildungsduldung. Denn das vom Amtsgericht festgesetzte Strafmaß übersteigt die nach § 60a Abs. 2 Satz 6 AufenthG a.F. maßgebende Bagatellgrenze von 50 Tagessätzen. [...]

aa) So ist zunächst festzuhalten, dass Art. 31 Abs. 1 GFK die Anwendung der Bestimmung des § 60a Abs. 2 Satz 6 AufenthG a.F. auf den Antragsteller nicht ausschließt. [...]

Nach der Gestaltung der Erlöschensvorschrift des § 60a Abs. 2 Satz 6 AufenthG a.F. spielt die Art der Straftat, auf die sich die Verurteilung bezieht, nur insofern eine Rolle, als von ihr abhängt, welche der beiden in § 60a Abs. 2 Satz 6 AufenthG a.F. genannten Bagatellgrenzen zur Anwendung kommt. Der Gesetzgeber hat bei der Ausgestaltung dieser Vorschrift, die sich in vergleichbarer oder zumindest ähnlicher Weise in § 19d Abs. 1 Nr. 7 (bis zum 29. Februar 2020: § 18a Abs. 1 Nr. 7), § 25a Abs. 3, § 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. c und § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG findet, einen formalen Ansatz gewählt, der nur auf das Vorliegen einer strafrechtlichen Verurteilung abstellt sowie darauf, welche Strafvorschriften bei der Verurteilung zur Anwendung gekommen sind. Damit hat er die Klärung der Frage, ob der betroffene Ausländer zu Recht verurteilt wurde und wie lange seine Verurteilung aufenthaltsrechtlich Berücksichtigung finden kann, bewusst in den Bereich des Strafverfahrens- und Registerrechts verlagert. [...]

bb) Der Senat teilt ferner nicht die Auffassung des Antragstellers, dass die Bagatellgrenze von 90 Tagessätzen in § 60a Abs. 2 Satz 6 AufenthG a.F. auch auf typische Begleitdelikte anzuwenden sei, die tateinheitlich mit Straftaten nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz begangen worden sind. [...]

cc) Schließlich ist die vom Antragsteller begehrte Feststellung auch nicht deshalb zu treffen, weil sein Fall eine Atypik aufweist, die dazu führt, dass § 60a Abs. 2 Satz 6 AufenthG a.F. nicht zur Anwendung gekommen ist. Dabei kann offen bleiben, ob der vorliegende Fall tatsächlich durch eine relevante Atypik geprägt wird. Denn in § 60a Abs. 2 Satz 6 AufenthG a.F. ist nicht vorgesehen, dass eine erteilte Ausbildungsduldung trotz relevanter Verurteilung des Ausländers in atypischen Fällen weiter Bestand hat. [...]

(2) Schließlich ist auch nicht davon auszugehen, dass die Vorschrift des § 60a Abs. 2 Satz 6 AufenthG a.F. unter dem ungeschriebenen Vorbehalt steht, dann keine Anwendung zu finden, wenn der konkrete Fall durch eine Atypik geprägt ist. Einen solchen Vorbehalt, wie er etwa in § 5 Abs. 1 AufenthG mit den Worten "in der Regel" ausdrücklich verankert ist, hat der Gesetzgeber für § 60a Abs. 2 Satz 6 AufenthG a.F. nicht vorgesehen. [...]