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LG Augsburg

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Zitieren als:
LG Augsburg, Beschluss vom 31.07.2020 - 053 T 1780/17 (Asylmagazin 10-11/2020, S. 391) - asyl.net: M28691
https://www.asyl.net/rsdb/M28691
Leitsatz:

Rechtswidrige Haftanordnung wegen fehlenden Einvernehmens der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung:

1. Ergibt sich aus dem Haftantrag oder den beigefügten Unterlagen ohne Weiteres ein laufendes und nicht offensichtlich zustimmungsfreies Ermittlungsverfahren, muss das Haftgericht erwarten, dass die Behörde die betroffene Person nicht ohne das erforderliche Einvernehmen abschiebt.

2. Ein Haftantrag ist in Hinblick auf die von § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 FamFG geforderten Darlegungen zur Durchführbarkeit der Abschiebung in diesen Fällen nur zulässig, wenn die Behörde auch ein etwaiges Fehlen des Einvernehmens als mögliches Abschiebungshindernis ausräumt.

3. Hierzu muss die Behörde darlegen, dass das Einvernehmen vorliegt oder entbehrlich ist oder bis zum erwarteten Abschiebungstermin voraussichtlich vorliegen oder entbehrlich geworden sein wird.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf BGH, Beschluss vom 12.02.2020 - XIII ZB 15/19 - asyl.net: M28364)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Ermittlungsverfahren, Einvernehmen der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung, Haftantrag, Begründungserfordernis, Ausländerakte, Sachaufklärungspflicht, Prognose, Verhältnismäßigkeit,
Normen: AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1, FamFG § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 5, AufenthG § 62 Abs. 3 S. 3
Auszüge:

[...]

Es fehlt bereits an einem zulässigen Haftantrag.

Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrages ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). [...]

Diesen Anforderungen genügt der Haftantrag vom 20. November 2017 nicht, weil er keine ausreichenden Angaben zu einem staatsanwaltschaftlichen Einvernehmen gemäß § 72 Abs. 4 AufenthG betreffend das im Zusammenhang mit der erfolgten Festnahme vom 03.05.2017 gegen den Betroffenen eingeleitete Ermittlungsverfahren enthält.

Nach der jüngsten Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu dem von § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG geforderten Einvernehmen erlangt dieses dann Bedeutung für die Rechtmäßigkeit einer Haftanordnung, wenn sich aus dem Haftantrag oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne Weiteres ein laufendes und nicht offensichtlich zustimmungsfreies Ermittlungsverfahren ergibt. In diesem Fall muss nämlich der Haftrichter aufgrund der Gesetzesbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) erwarten, dass die Behörde den Betroffenen nicht ohne das erforderliche Einvernehmen abschiebt. Der Haftantrag ist dann im Hinblick auf die von § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG geforderten Darlegungen zu den Voraussetzungen und zur Durchführbarkeit der Abschiebung nur zulässig, wenn die Behörde dieses mögliche Abschiebungshindernis ausräumt. Dafür genügt es in der Regel, wenn die Behörde darlegt, das Einvernehmen liege vor, sei entbehrlich oder werde bis zum vorgesehenen Abschiebungstermin voraussichtlich vorliegen oder entbehrlich geworden sein (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 15/19 - Rn. 18-20, juris). Solche Darlegungen lässt der Haftantrag vom 04.05.2017 vermissen, findet sich darin zu dem im Zusammenhang mit der erfolgten Festnahme vom 03.05.2017 gegen den Betroffenen eingeleiteten Ermittlungsverfahren nichts.

Insbesondere ergibt sich vorliegend aus dem Haftantrag und den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ein laufendes und nicht offensichtlich zustimmungsfreies Ermittlungsverfahren. So ist dem - dem Haftgericht zusammen mit dem Haftantrag vorliegenden - Fernschreiben des BLKA als Anlass der Festnahme des Betroffenen der Verdacht einer aktuell begangenen versuchten gefährlichen Körperverletzung und Sachbeschädigung zu entnehmen, das unter dem Az. BY1213-002631-17/7 geführt wurde. Aufgrund dieses Willensakts der Strafverfolgungsorgane ist bereits zu diesem Zeitpunkt ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren i.S. von § 72 Abs. 4 AufenthG eingeleitet gewesen. Maßgeblich für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ist dabei nicht die Stärke des Verdachtsgrades, sondern der durch eine bestimmte Maßnahme manifestierte Wille der Strafverfolgungsorgane, dass sich das Verfahren gegen die verdächtige Person als Beschuldigten richtet (vgl. BGHSt 34, 138, 140; 38, 214, 218). Dieser Wille wurde durch die Polizei unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. [...]