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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 12.02.2020 - XIII ZB 15/19 - asyl.net: M28364
https://www.asyl.net/rsdb/M28364
Leitsatz:

Keine zwingende Rechtswidrigkeit der Haftanordnung bei fehlendem Einvernehmen der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung:

"a) Ergibt sich ein laufendes Ermittlungsverfahren weder aus dem Haftantrag noch aus den ihm beigefügten Unterlagen, führt allein das Fehlen eines nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderlichen Einvernehmens der Staatsanwaltschaft nicht zur Rechtswidrigkeit einer Haftanordnung (Aufgabe von BGH, Beschluss vom 17. Juni 2010 V ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574).

b) Ergibt sich aus dem Haftantrag oder den ihm beigefügten Unterlagen ein laufendes und nicht offensichtlich zustimmungsfreies Ermittlungsverfahren, ist der Haftantrag im Hinblick auf § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG nur zulässig, wenn die Behörde dieses mögliche Abschiebungshindernis ausräumt. Dafür genügt es in der Regel, wenn die Behörde darlegt, das Einvernehmen liege vor, sei entbehrlich oder werde bis zum vorgesehenen Abschiebungstermin voraussichtlich vorliegen oder entbehrlich geworden sein (teilweise Aufgabe von BGH, Beschluss vom 20. Januar 2011 V ZB 226/10, FGPrax 2011, 144).

c) Ergibt sich aus dem Haftantrag oder den ihm beigefügten Unterlagen kein laufendes, zustimmungspflichtiges Ermittlungsverfahren, weist aber der Betroffene im Verlauf des Verfahrens über die Haftanordnung oder im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens auf ein solches hin, darf die Haft im Hinblick auf § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG nur angeordnet oder aufrechterhalten werden, wenn mit der Erteilung des Einvernehmens bis zum vorgesehenen Abschiebungstermin gerechnet werden kann."

(amtliche Leitsätze; zur bisherigen und nunmehr teilweise aufgegebenen höchstrichterlichen Rechtsprechung siehe BGH, Beschluss vom 17.06.2010 - V ZB 93/10 - asyl.net: M18088 sowie BGH, Beschluss vom 20.01.2011 - V ZB 226/10 - asyl.net: M18462)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Ermittlungsverfahren, Einvernehmen der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung, Haftantrag, Begründungserfordernis, Ausländerakte, Sachaufklärungspflicht, Haftgründe, Prognose, Verhältnismäßigkeit
Normen: AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1, FamFG § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 5, AufenthG § 62 Abs. 3 S. 3
Auszüge:

[...]

9 bb) Der Antrag musste keine Ausführungen zum Vorliegen oder zur Entbehrlichkeit eines etwa erforderlichen staatsanwaltschaftlichen Einvernehmens enthalten. Solche Ausführungen sind nur dann geboten, wenn sich aus dem Antrag oder den ihm beigefügten Unterlagen ein laufendes und nicht offensichtlich zustimmungsfreies Ermittlungsverfahren ergibt (st. Rspr. seit BGH, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, FGPrax 2011, 144 Rn. 9, vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 22. August 2019 - V ZB 179/17, juris Rn. 18 mwN). Dies ist hier nicht der Fall. Denn ein möglicherweise fehlendes Einvernehmen ergab sich nur aus der Ausländerakte, die weder Bestandteil noch Anlage des Antrags ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Mai 2019 - V ZB 188/17, juris Rn. 11 und vom 22. August 2019 - V ZB 179/17, juris Rn. 20 jeweils mwN).

10 3. Das möglicherweise fehlende Einvernehmen der Staatsanwaltschaft Siegen mit der Abschiebung des Betroffenen führt auch in der Sache nicht zur Rechtswidrigkeit der Haftanordnung. [...]

12 b) Ergibt sich indes - wie hier - ein laufendes Ermittlungsverfahren weder aus dem Haftantrag noch aus den ihm beigefügten Unterlagen, führt allein das Fehlen eines nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderlichen Einvernehmens der Staatsanwaltschaft nicht zur Rechtswidrigkeit einer Haftanordnung. Soweit der Bundesgerichtshof in bisher ständiger Rechtsprechung unter Verweis auf Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG angenommen hat, das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft stelle eine essentielle Haftvoraussetzung dar und es komme insoweit allein auf die objektive Rechtslage an (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Juni 2010 - V ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574 Rn. 6-8, vom 3. Februar 2011 - V ZB 224/10, FGPrax 2011, 148 Rn. 12-15, vom 12. Mai 2011 - V ZB 189/10, FGPrax 2011, 202 Rn. 5 sowie zuletzt vom 21. August 2019 - V ZB 142/18, juris Rn. 9 und vom 22. August 2019-  V ZB 11/16, juris Rn. 8 jeweils mwN), hält der nunmehr zuständige XIII. Zivilsenat daran nicht fest. [...]

14 bb) Bei dem Beteiligungserfordernis nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG handelt es sich indes nicht um eine freiheitsschützende Verfahrensvorschrift in diesem Sinne. Dies ergibt sich aus der Gesetzgebungsgeschichte, aus dem Wortlaut der Norm und aus ihrer systematischen Stellung im Aufenthaltsgesetz. [...]

17 cc) Für diese Sicht spricht auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Danach dient § 72 Abs. 4 AufenthG allein der Wahrung des staatlichen Strafverfolgungsinteresses. Ein Verstoß gegen die Vorschrift führt nicht zu einer Verletzung von Rechten des betroffenen Ausländers; etwaige aus ihrer Anwendung resultierende günstige Wirkungen kommen dem Ausländer nur reflexartig zugute, werden aber nicht in seinem Interesse verfolgt (vgl. BVerwG, Urteile vom 5. Mai 1998 - 1 C 17.97, juris Rn. 19, und vom 14. Dezember 2016 - 1 C 11.15, juris Rn. 24). [...]

19 aa) Bedeutung für die Rechtmäßigkeit einer Haftanordnung erlangt das von § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG geforderte Einvernehmen dann, wenn sich - anders als hier - aus dem Haftantrag oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne Weiteres ein laufendes und nicht offensichtlich zustimmungsfreies Ermittlungsverfahren ergibt. In diesem Fall muss nämlich der Haftrichter auf Grund der Gesetzesbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) erwarten, dass die Behörde den Betroffenen nicht ohne das erforderliche Einvernehmen abschiebt. Der Haftantrag ist dann im Hinblick auf die von § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG geforderten Darlegungen zu den Voraussetzungen und zur Durchführbarkeit der Abschiebung nur zulässig, wenn die Behörde dieses mögliche Abschiebungshindernis ausräumt. Dafür genügt es in der Regel, wenn die Behörde darlegt, das Einvernehmen liege vor, sei entbehrlich oder werde bis zum vorgesehenen Abschiebungstermin voraussichtlich vorliegen oder entbehrlich geworden sein (anders die bisherige st. Rspr. seit BGH, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, FGPrax 2011, 144 Rn. 9, vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 22. August 2019 - V ZB 179/17, juris Rn. 18 mwN). Dies folgt daraus, dass es sich bei dem Einvernehmen - wie oben ausgeführt - nicht um eine essentielle Haftvoraussetzung handelt. Bei seiner Prognose hat das Haftgericht nur zu prüfen, ob aus einem etwa fehlenden Einvernehmen der Staatsanwaltschaft ein Abschiebungshindernis entsteht.

20 bb) Ergibt sich aus dem Haftantrag oder den ihm beigefügten Unterlagen kein laufendes, zustimmungspflichtiges Ermittlungsverfahren, weist aber der Betroffene im Verlauf des Verfahrens über die Haftanordnung oder im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens auf ein solches hin, so darf die Haft im Hinblick auf § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG nur angeordnet oder aufrechterhalten werden, wenn mit der Erteilung des Einvernehmens bis zum vorgesehenen Abschiebungstermin gerechnet werden kann. [...]