OVG Niedersachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 26.05.2020 - 10 LA 104/20 (Asylmagazin 9/2020, S. 313) - asyl.net: M28556
https://www.asyl.net/rsdb/M28556
Leitsatz:

Familienasyl auch bei internationalem Schutz in anderem EU-Staat:

1. Wurde einer schutzsuchenden Person bereits in einem anderen EU-Mitgliedsstaat internationaler Schutz gewährt, ist ein weiterer Asylantrag in Deutschland grundsätzlich nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig.

2. Diese Vorschrift tritt jedoch zurück, wenn ein Anspruch auf Familienasyl oder internationalen Schutz für Familienangehörige gemäß § 26 AsylG besteht.

(Leitsätze der Redaktion; so auch VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 21.05.2019 - 22 K 16904/17.A - asyl.net: M27428 sowie OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19.02.2019 - 4 L 201/17 - asyl.net: M27161; entgegen VG Hannover, Urteil vom 22.03.2018 - 13 A 12144/17 - asyl.net: M26193)

Schlagwörter: Familienschutz, Familienasyl, Familienflüchtlingsschutz, internationaler Schutz in EU-Staat, Sperrwirkung, Unzulässigkeit, Zulässigkeit, Asylantrag,
Normen: AsylG § 26 Abs. 5 Satz 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 31 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

16 [...] Wie vom Verwaltungsgericht zutreffend angenommen ist ein Antrag auf Gewährung von Familienasyl gemäß § 26 Abs. 5 Sätze 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 AsylG von der Ausschlusswirkung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht erfasst (so auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 09.10.2019 - 11 A 2229/19.A -, juris; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19.02.2019 - 4 L 201/17 -, juris; Günther in BeckOK Ausländerrecht, Stand: 01.03.2020, AsylG § 29 Rn. 76; kritisch Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: März 2020, AsylG § 26 Rn. 24; a.A. VG Berlin, Urteil vom03.12.2018 - 23 K 323.18 A -, juris Rn. 20 m.w.N.).

17 Dies folgt bereits aus der Überlegung, dass die von der Beklagten angenommene Ausschlusswirkung (theoretisch) eine Trennung der Familie zur Folge hätte, was der Zielsetzung des § 26 AsylG, der neben der Verwaltungsvereinfachung auch der Integration der Familienangehörigen und dem Schutz der Familieneinheit dient (Günter in BeckOK, Ausländerrecht, Stand: 01.03.2020, AsylG § 26 Rn. 1 f.; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19.02.2019 - 4 L 201/17 -, juris Rn. 28; zum Integrationsziel vgl. auch BVerwG, Urteil vom 21.01.1992 - 9 C 63.91 -, NVwZ 1992, 577, 578 zu § 7a Abs. 3 AsylVfG a.F.) und der seine Rechtfertigung insoweit auch zum Teil in Art. 6 Abs. 1 GG findet (BVerwG, Urteil vom 21.01.1992 - 9 C 66.91 -, NVwZ 1992, 987, 988 zu § 7a Abs. 3 AsylVfG a.F.; vgl. zum Verhältnis von Familienasyl und Art. 6 GG auch BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 14.12.2000 – 2 BvR 517/99 –, juris Rn. 3 zu § 26 AsylVfG), zuwiderliefe. Zwar würde die Einheit der engeren Familie grundsätzlich auch aufgrund eines gegebenenfalls bestehenden inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisses gewahrt werden und der Angehörige würde hierdurch einen gewissen Schutz vor einer Trennung von seiner Familie erfahren. Die durch § 26 Abs. 5 Sätze 1 und 2 AsylG vorgesehene Rechtsfolge der Zuerkennung der Eigenschaft des in Deutschland bereits als international schutzberechtigt anerkannten Familienmitglieds und die damit verbundenen Rechte würden ihm jedoch nicht zuteil (vgl. auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19.02.2019 - 4 L 201/17 -, juris Rn. 30; vgl. zu diesem Gedanken auch EuGH, Urteil vom 13.11.2019 - C-540/17 -, juris Rn. 40, 42, und BVerwG, Urteil vom 21.01.1992 - 9 C 63.91 -, NVwZ 1992, 577, 578 zu § 7a Abs. 3 AsylVfG a.F.). Die Gleichstellung hinsichtlich der Rechte dient aber gerade auch dem § 26 AsylG immanenten Ziel der Förderung der Integration (Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 26 Rn. 3; BVerwG, Urteil vom 09.05.2006 - 1 C 8.05 -, juris Rn. 20 zu § 26 AsylVfG a.F.; vgl. zu dieser Zielsetzung OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19.02.2019 - 4 L 201/17 -, juris Rn. 28 m.w.N.).

18 § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG soll demgegenüber das Bundesamt davon entbinden, den Anspruch eines ausländischen Schutzsuchenden auf Gewährung internationalen Schutzes in der Sache prüfen zu müssen, wenn diesem bereits in einem anderen Mitgliedsstaat ein solcher Schutz gewährt wurde (OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19.02.2019 - 4 L 201/17 -, juris Rn. 27). Der mit einer Doppelprüfung des Asylantrags verbundene Aufwand fällt bei der Geltendmachung eines Anspruchs auf Familienasyl nach § 26 AsylG aber gerade nicht an, da sich in diesem Fall eine gegebenenfalls umfangreiche und / oder schwierige Prüfung eigener Verfolgungsgründe des Antragstellers erübrigt (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19.02.2019 - 4 L 201/17 -, juris Rn. 28; zu dieser Zielsetzung bereits des § 7a Abs. 3 AsylVfG a.F. BVerwG, Urteil vom 21.01.1992 - 9 C 66.91 -, NVwZ 1992, 987, 988).

19 Demnach ist es in der Sache gerechtfertigt, § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hinter § 26 AsylG, dem eine gewichtigere Zielsetzung zukommt, zurücktreten zu lassen. [...]