Passbeschaffung für eritreischen Staatsangehörigen unzumutbar:
1. Für die Frage der Zumutbarkeit der Passbeschaffung nach § 5 AufenthV ist nicht maßgeblich, ob die verfolgungsrechtliche Situation eines subsidiär Schutzberechtigten mit der eines anerkannten Flüchtlings vergleichbar ist (entgegen VGH Bayern, Beschluss vom 17.10.2018 - 19 ZB 15.428 - asyl.net: M26753).
2. Die Passbeschaffung kann unzumutbar sein, wenn der Herkunftsstaat die Passausstellung nur gegen Unterzeichnung einer sogenannten Reueerklärung vornimmt. Dafür ist entscheidend, dass die Erklärung nicht dem inneren Willen der betroffenen Person entspricht und sie sich an deren Unterzeichnung aufgrund ihrer entgegenstehenden inneren Überzeugung gehindert sieht.
3. Liegen im Fall eines subsidiär Schutzberechtigten die Tatbestandsvoraussetzungen für die Ausstellung eines Reiseausweises vor, so ist im Regelfall aufgrund von Art. 25 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU das behördliche Ermessen auf Null reduziert. Die Ausländerbehörden sind dann zur Ausstellung eines Reiseausweises verpflichtet.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Der Bescheid des Beklagten vom 9. April 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat zu dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 25.03.2014 – 2 LB 337/12 –, juris Rn. 48) einen Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer. [...]
Soweit vertreten wird, dabei sei im Einzelfall zu prüfen, ob die verfolgungsrechtliche Situation bei einer wertenden Betrachtung im materiellen Kern und vom Ergebnis her mit der eines Flüchtlings vergleichbar ist (vgl. Bay. VGH, Beschl. v. 17.10.2018 – 19 ZB 15.428 –, juris Rn. 12; Urt. v. 28.01.2011 – 19 B 10.2157 –, juris Rn. 31; daran anknüpfend VG Köln, Urt. v. 04.12.2019 – 5 K 7317/18 –, juris Rn. 31 f.), hält das Gericht diese Erwägung bei der Prüfung der Zumutbarkeit der Passbeschaffung für wenig aussagekräftig und relevant. Sowohl die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als auch die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus setzen eine dem Ausländer drohende Gefahr im Herkunftsstaat durch einen Akteur im Sinne von § 3c AsylG (i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG) voraus, so dass eine solche wertende Vergleichsbetrachtung wohl in erster Linie das Kriterium des Verfolgungsgrundes (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) in den Blick zu nehmen hätte. Weshalb dies im Hinblick auf die Zumutbarkeit einer Passbeschaffung von Bedeutung sein soll, erschließt sich – zumal ohne nähere Erläuterung – nicht. [...]
Dies zugrunde gelegt, müsste der Kläger, der zur Überzeugung des Gerichts – und zwischen den Beteiligten unstreitig – illegal ausgereist ist, die vorbeschriebene Reueerklärung unabhängig von der von ihm behaupteten Wehrdienstentziehung (dazu unten) unterzeichnen, um einen eritreischen Nationalpass erhalten zu können. Dies ist dem Kläger in seinem Einzelfall unzumutbar.
Das Gericht folgt zwar grundsätzlich der Auffassung des Bundesministeriums des Innern, dass eritreischen Staatsangehörigen die Unterzeichnung der Reueerklärung nicht per se unzumutbar ist. Den vorliegenden Erkenntnismitteln lässt sich entnehmen, dass eritreische Staatsangehörige hierzu nicht selten freiwillig bereit sind bzw. die Abgabe der Erklärung nach Abwägung der Vor- und Nachteile bereitwillig in Kauf nehmen, weil sie von den zahlreichen "Vorteilen" und "Privilegien", die die Abgabe der Reueerklärung und die Zahlung der Diaspora-Steuer bieten, profitieren möchten (vgl. dazu Tilburg University, The 2 % Tax, S. 84-96).
Diese Sachlage lässt allerdings nicht den Schluss zu, dass sämtlichen eritreischen Staatsangehörigen die Unterzeichnung der Reueerklärung zugemutet werden kann. Soweit ein eritreischer Staatsangehöriger glaubhaft und nachvollziehbar vorträgt, dass die Erklärung nicht seinem inneren Willen entspricht und er sich an deren Unterzeichnung aufgrund seiner entgegenstehenden inneren Überzeugung gehindert sieht, ist nach Auffassung des Gerichts regelmäßig von einer Unzumutbarkeit auszugehen. Von einem Ausländer trotz geltend gemachter entgegenstehender innerer Überzeugung die Abgabe einer entsprechenden Erklärung zu verlangen, würde einen nicht gerechtfertigten Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) darstellen. [...]
An die Darlegung einer der Unterzeichnung der Reueerklärung entgegenstehenden Überzeugung dürfen dabei keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Dies gilt insbesondere für eritreische Staatsangehörige, denen – wie dem Kläger – der subsidiäre Schutzstatus mit der Begründung zuerkannt worden ist, dass ihnen bei einer Rückkehr nach Eritrea eine unmenschliche Bestrafung seitens des eritreischen Staates droht. Denn sie würden sich mit der Unterzeichnung der Reueerklärung bereit erklären, diese vom Bundesamt als unmenschlich qualifizierte Bestrafung zu akzeptieren. Zwar ist nicht ersichtlich, dass sie ihren subsidiären Schutzstatus durch die Abgabe der Erklärung tat-sächlich gefährden könnten. Auch bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sich ihre rechtliche Position in Eritrea hierdurch verschlechtern würde (vgl. insoweit auch die Anfragebeantwortung der Bundesregierung v. 09.05.2018, BT-Dr. 19/2075, S. 6). Mit Blick auf die vorangehenden Ausführungen zum Selbstbestimmungsrecht ist es jedoch naheliegend, dass jedenfalls ein Teil dieser Personen nicht ohne weiteres bereit dazu ist, eine unmenschliche Strafe schriftlich zu akzeptieren. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass es nur Sache der einzelnen Person selbst sein kann, über das zu bestimmen, was ihren sozialen Geltungsanspruch ausmachen soll; insoweit wird der Inhalt des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts maßgeblich durch das Selbstverständnis seines Trägers geprägt (BVerfG, Beschl. v. 03.06.1980 – 1 BvR 185/77 –, juris Rn. 16). [...]