LG München I

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Zitieren als:
LG München I, Beschluss vom 20.02.2020 - 22 Qs 6/20 - asyl.net: M28363
https://www.asyl.net/rsdb/M28363
Leitsatz:

Zustellung eines Strafbefehls nur mit Übersetzung:

1. Ein Strafbefehl muss - wie auch das Urteil - mit einer Übersetzung zur Verfügung gestellt werden, wenn der Adressat/die Adressatin der deutschen Sprache nicht mächtig ist, § 37 StPO.

2. Die Zustellung ohne Übersetzung ist nicht wirksam und löst nicht die zweiwöchige Einspruchsfrist aus.

(Leitsätze der Redaktion, siehe auch M27945)

Schlagwörter: Strafbefehl, Übersetzung, Rechtsmittelbelehrung, Frist, Einspruchsfrist, Rechtsmittelfrist, Zustellung, wirksame Zustellung,
Normen: StPO § 37 Abs. 3, GVG § 187 Abs. 1, GVG § 187 Abs. 2, StPO § 37 Abs. 1, ZPO § 171,
Auszüge:

[...]

Der Einspruch gegen den Strafbefehl vom 27. Dezember 2020 erfolgte nicht verspätet, da die zweiwöchige Einspruchsfrist (§ 411 Abs. 1 Satz 1 StPO) mangels wirksamer Zustellung des Strafbefehls schon nicht zu laufen begonnen hatte. Denn im vorliegenden Fall bestand konkreter Anlass, bei der Entscheidung über die Zustellung das Strafbefehls die Voraussetzungen des § 37 Abs. 3 StPO zu prüfen (unter a). Bei der von Amts wegen vorzunehmenden Beurteilung der Sprachkenntnisse des Beschuldigten ist dem Amtsrichter ein tatsächlicher Ermessensspielraum eingeräumt, dessen Wahrung vom Beschwerdegericht nur eingeschränkt überprüft werden kann (unten b). Vorliegend lässt sich bereits nicht ersehen, dass das Amtsgericht sich bei der Entscheidung des ihm zukommenden Ermessens überhaupt bewusst war, bei dieser Sachlage musste die Kammer von einer rechtsfehlerhaften Zustellung ausgehen (unten c).

Im Einzelnen gilt:

a) Gemäß § 37 Abs. 3 Satz 1 StPO, § 187 Abs. 1 und 2 GVG ist dem Beschuldigten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, ein Urteil zusammen mit der Übersetzung zuzustellen. Die Vorschrift ist in unionsrechtskonformer Auslegung auf die Zustellung von Strafbefehlen zu erstrecken; dies gilt auch in Fällen, in denen - wie hier $der Zustellungsempfänger Angehöriger eines Drittstaates ist, da die Richtlinie 2010/64/EU vom 20.10.2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, deren Umsetzung § 37 Abs. 3 StPO dient, Mindeststandards. des strafrechtlichen Verfahrens normiert, die gegenüber jedem Beschuldigten einzuhalten sind, unabhängig von dessen Staatsangehörigkeit (vgl. zum Ganzen BeckOK-StPO/Larcher, 35. Ed., § 37 Rn. 39; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., §.37 Rn 31; Brodowski/Jahn, StV 2018, 70 f.; zur Auslegung der Richtlinie EuGH, Urteil vom 12.10.2017 - C-278/16, NJW 2018, 142; die Entscheidung OLG München, Beschluss vom 08.04.2016 - 3 Ws 249/16, insoweit in NStZ-RR 2016, 249, nicht abgedruckt, ist insoweit überholt; vgl. zur Anwendbarkeit auf "Drittstaatler" auch den Erwägungsgrund 16 der Richtlinie 2010/64/EU). Eine ohne die Beifügung der erforderlichen Übersetzung veranlasste Zustellung ist unwirksam und kann Rechtsmittelfristen nicht in Gang ersetzen.

b) Bei der Feststellung, ob der Beschuldigte im Sinne des § 187 Abs. 1 GVG der deutschen Sprache "nicht mächtig" ist, ist dem die Zustellung veranlassenden Gericht ein Ermessensspielraum eingeräumt (vgl. - jeweils zur Hinzuziehung eines Dolmetschers - KK-StPO/Diemer, 8. Aufl., GVG § 185 Rn. 7; MünchKomm-StPO/Oğlakcıoğlu, 1. Aufl., GVG § 185 Rn. 36; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., GVG § 185 Rn. 10). Dieses ist beider vorliegenden Verfahrensanlage auch durch das Beschwerdegericht nur auf das Vorliegen von Ermessensfehlern zu überprüfen. Denn zwar erlässt das Beschwerdegericht, wenn es eine Beschwerde für begründet erachtet, die in der Sache erforderliche Entscheidungen selbst (§ 309 Abs. 2 StPO), wobei es auch eine insoweit erforderliche Ermessensentscheidung trifft (vgl. statt aller nur Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 309 Rn. 4). Das vorliegend im Raum stehende Ermessen war aber nicht bei der Entscheidung über die Zulässigkeit des Einspruchs auszuüben, sondern betrifft eine Vorfrage, nämlich die Entscheidung über die Zustellung des Strafbefehls; diese Frage ist der Kammer nicht mit der Beschwerdeeinlegung angefallen.

c) Die Kammer hatte den Sachverhalt daher nur darauf zu prüfen, ob das Amtsgericht bei der Entscheidung, den Strafbefehl ohne Beifügung einer Übersetzung zuzustellen, ermessensfehlerhaft gehandelt hat. Soweit die Entscheidung des Amtsgerichts sich im Rahmen des Pflichtgemäßen hält, hat das Beschwerdegericht sie auch dann hinzunehmen, wenn es selbst anders entschieden und dem Strafbefehl eine Übersetzung beigefügt hätte.

aa) Das Amtsgericht ist dabei nicht etwa verpflichtet, bei jeder Verfügung zur Zustellung eines Strafbefehls an den Angehörigen eines fremden Staates ausdrücklich die die Ermessensentscheidung tragenden Erwägungen zu dokumentieren. Häufig werden sich die maßgeblichen Gesichtspunkte eindeutig aus der Akte entnehmen lassen; dann besteht kein Anlass zu Zweifeln, das Amtsgericht könne die sich aufdrängenden Tatsachen nicht gesehen haben.

Bestehen aber konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Beschuldigte der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist, ist das Amtsgericht im Rahmen der Entscheidung über die Verwerfung des Einspruchs oder zumindest bei der Zuleitung an das Beschwerdegericht gehalten, die es leitenden Ermessenserwägungen in einer nachvollziehbaren Weise darzulegen. Daran fehlt es hier. [...]