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Zitieren als:
BVerfG, Urteil vom 05.11.2019 - 1 BvL 7/16 - Asylmagazin 1-2/2020, S. 42 ff. - asyl.net: M27819
https://www.asyl.net/rsdb/M27819
Leitsatz:

Entzug von Arbeitslosengeld nach SGB II bei Mitwirkungspflichtverletzungen teilweise verfassungswidrig:

1. Die physische und soziokulturelle Existenz muss einheitlich gesichert werden. Dies ergibt sich aus der grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG. Die Menschenwürde geht auch bei vermeintlich "unwürdigem" Verhalten nicht verloren.

2. Die Gewährung existenzsichernder Leistungen kann gesetzlich an den Nachranggrundsatz gebunden werden, wonach Leistungen nur dann gewährt werden, wenn Betroffene ihre Existenz nicht selbst sichern können. Erwerbsfähigen Arbeitslosengeld-II-Berechtigten können zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegt werden. Die Verletzung solcher Pflichten kann durch vorübergehenden Entzug von Leistungen sanktioniert werden.

3. Da durch den Leistungsentzug außerordentliche Belastung entstehen, sind strenge Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu stellen. Der sonst weite gesetzgeberische Einschätzungsspielraum zur Eignung, Erforderlichkeit und und Zumutbarkeit von sozialrechtlichen Regelungen ist hier beschränkt. Je länger Regelungen bereits in Kraft sind und damit ihre Wirkungen eingeschätzt werden können, desto weniger dürfen sie allein auf Annahmen gestützt werden.

4. Betroffenen muss tatsächlich möglich sein, Leistungskürzungen abzuwenden und auch in zumutbarer Weise nach einer Minderung wieder zu erhalten.

5. Die Höhe der vorliegenden Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs wegen Mitwirkungspflichtverletzung ist nicht zu beanstanden. Allerdings sind Minderungen wegen wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres, die die Höhe von 30 % des Regelbedarfs übersteigen oder sogar zum vollständigen Leistungsentzug führen, mit dem Grundgesetz unvereinbar.

6. Auch Regelungen, wonach der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist und insoweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben wird, sind unvereinbar mit dem Grundgesetz.

7. Die einschlägigen Vorschriften sind unter diesen Maßgaben bis zu einer Neuregelung weiter anwendbar.

(Leitsätze der Redaktion; Bezugnehmend auf diese Entscheidung: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 04.12.2019 - L 8 AY 36/I9 B ER - asyl.net: M27897)

Anmerkung:

Schlagwörter: SGB II, Leistungsminderung, Leistungskürzung, Arbeitsuche, Arbeitsaufnahme, Mitwirkungspflicht, Existenzminimum, soziokulturelles Existenzminimum, Arbeitslosigkeit, Arbeitslosengeld, Mitwirkungspflichtverletzung, physisches Existenzminimum, Menschenwürde, Nachrangigkeit, Nachranggrundsatz, Leistungen, Leistungsentzug, Verhältnismäßigkeit, Sozialrecht, Heilung, Sanktion, Sanktionen,
Normen: GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 1, SGB II § 31a Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

1. § 31a Absatz 1 Sätze 1, 2 und 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch in der Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 453) sowie der Bekanntmachung der Neufassung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch vom 13. Mai 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 850), geändert durch das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20. Dezember 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 2854), geändert durch das Neunte Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung – sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht vom 26. Juli 2016 (Bundesgesetzblatt I Seite 1824), ist für Fälle des § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch in der genannten Fassung mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz unvereinbar, soweit die Höhe der Leistungsminderung bei einer erneuten Verletzung einer Pflicht nach § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch die Höhe von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt, soweit eine Sanktion nach § 31a Absatz 1 Sätze 1 bis 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch zwingend zu verhängen ist, auch wenn außergewöhnliche Härten vorliegen, und soweit § 31b Absatz 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch für alle Leistungsminderungen ungeachtet der Erfüllung einer Mitwirkungspflicht
oder der Bereitschaft dazu eine starre Dauer von drei Monaten vorgibt.

2. Bis zum Inkrafttreten der Neuregelung durch den Gesetzgeber sind § 31a Absatz 1 Sätze 1, 2 und 3 und § 31b Absatz 1 Satz 3 in Fällen des § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch in der Fassung folgender Übergangsregelungen weiter anwendbar:

a. § 31a Absatz 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch ist in den Fällen des § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Leistungsminderung wegen einer Pflichtverletzung nach § 31 Absatz 1 SGB II nicht erfolgen muss, wenn dies im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Insbesondere kann von einer Minderung abgesehen werden, wenn nach Einschätzung der Behörde die Zwecke des Gesetzes nur erreicht werden können, indem eine Sanktion unterbleibt.

b. § 31a Absatz 1 Sätze 2 und 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch sind in den Fällen des § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter Pflichtverletzungen eine Minderung der Regelbedarfsleistungen nicht über 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen darf. Von einer Leistungsminderung kann abgesehen werden, wenn dies im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Insbesondere kann von einer Minderung abgesehen werden, wenn nach Einschätzung der Behörde die Zwecke des Gesetzes nur erreicht werden können, indem eine Sanktion unterbleibt.

c. § 31b Absatz 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch ist in den Fällen des § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch mit folgender Maßgabe anzuwenden: Wird die Mitwirkungspflicht erfüllt oder erklären sich Leistungsberechtigte nachträglich ernsthaft und nachhaltig bereit, ihren Pflichten nachzukommen, kann die zuständige Behörde unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ab diesem Zeitpunkt die Leistung wieder in vollem Umfang erbringen. Die Minderung darf ab diesem Zeitpunkt nicht länger als einen Monat andauern. [...]

Das Vorlageverfahren betrifft die Frage, ob die Minderung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aufgrund der Verletzung der in § 31 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) normierten Mitwirkungsanforderungen nach § 31a Abs. 1, § 31b SGB II bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr vollendet haben, mit dem Grundgesetz vereinbar ist. [...]

Der Leistungsgewährung liegt das in §§ 1 und 2 SGB II verankerte Konzept des "Förderns und Forderns" zugrunde, zu dem bestimmte Mitwirkungsanforderungen an erwerbsfähige Leistungsberechtigte gehören, deren Verletzung durch Leistungsminderungen sanktioniert wird. [...]

Nunmehr finden sich in § 31 Abs. 1 SGB II die hier entscheidungserheblichen Tatbestände der Verletzung der Mitwirkungsanforderungen, in § 31a SGB II die leistungsmindernden Rechtsfolgen und in § 31b SGB II deren Beginn und Dauer. [...]

Mit den hier zur Überprüfung vorgelegten Regelungen der §§ 31, 31a, 31b SGB II schuf der Gesetzgeber Mitwirkungspflichten insbesondere mit dem Ziel der Aufnahme einer Erwerbsarbeit, die mit zwischenzeitlich verschärften, zwingend zu verhängenden und starr andauernden Sanktionen einer Minderung oder des gesamten Wegfalls von Leistungen durchgesetzt werden. [...]

4. Die Vorgaben zu gemäß §§ 31a, 31b SGB II sanktionierten Mitwirkungsanforderungen nach § 31 Abs. 1 SGB II richten sich an erwerbsfähige, nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch leistungsberechtigte Personen. Dazu gehören nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II in der im Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenzen von § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, die erwerbsfähig im Sinne von § 8 SGB II und hilfebedürftig im Sinne von § 9 SGB II sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. [...] Die zu überprüfenden Regelungen folgen dem Nachranggrundsatz (a) und statuieren bestimmte Verhaltenspflichten (b), deren Verletzung mit gestuften Leistungsminderungen sanktioniert wird (c).

a) Der Gesetzgeber hat sich im System der Grundsicherung entschieden, erwerbsfähigen Menschen und denjenigen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, staatliche Leistungen wie schon nach früherem Recht (oben Rn. 6) nachrangig zu gewähren. [...]

b) Mit dem Nachranggrundsatz und dem Konzept des "Förderns und Forderns" verbindet der Gesetzgeber eine aktive Pflicht zur Mitwirkung, um wieder Einkommen zu erlangen. [...]

II.

Zwar hat der Gesetzgeber in § 55 SGB II vorgegeben, dass die Wirkungen der Leistungen zur Eingliederung und der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts regelmäßig und zeitnah zu untersuchen sind, doch liegt eine solche umfassende Untersuchung für sanktionierte Mitwirkungspflichten nach §§ 31, 31a, 31b SGB II nicht vor. Aus den sonstigen Studien und den Stellungnahmen in diesem Verfahren ergibt sich ein heterogenes, vielfach aber insbesondere zu den Wirkungen der Mitwirkungspflichten und der Sanktionen nicht durch tragfähige Daten gefülltes Bild. [...]

B.

Die Normenkontrollvorlage des Sozialgerichts zur Klärung der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen in § 31a Abs. 1 Sätze 1, 2, 4 und 5, § 31b Abs. 1 Sätze 1, 3 und 5 SGB II in den Fällen des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGB II ist zulässig (I). Die Vorlagefrage ist um § 31a Abs. 1 Satz 3 und um die Fälle des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II zu erweitern (II). [...]

Die Vorlagefrage bedarf der Erweiterung (dazu BVerfGE 139, 285 <297 Rn. 38> m.w.N.). [...]

Demgegenüber besteht Anlass, die Sanktionen in den Fällen des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II in die Prüfung einzubeziehen, da es sich um eine gleichgelagerte Mitwirkungspflicht handelt, um die zulässig vorgelegten Normen einheitlich beurteilen zu können. Desgleichen ist die Sanktionsregelung in § 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II so gelagert wie die unmittelbar entscheidungserheblichen Sanktionsnormen der § 31a Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB II, weshalb auch sie in die Prüfung einzubeziehen ist.

C.

Im Ausgangspunkt steht die Entscheidung des Gesetzgebers in § 31a Abs. 1 SGB II, existenzsichernde Geldleistungen nach Maßgabe des § 31b SGB II zu mindern oder ganz zu entziehen, um Mitwirkungspflichten nach § 31 Abs. 1 SGB II durchzusetzen, mit den Anforderungen des Grundgesetzes in Einklang. Die Regelungen genügen aber in der konkreten Ausgestaltung nicht den hier geltenden strengen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit.

I.

Die zentralen Anforderungen an den Gesetzgeber für die Ausgestaltung der Grundsicherungsleistungen für Erwerbsfähige ergeben sich aus der grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG (1). Gesichert werden muss die physische und soziokulturelle Existenz als einheitliche Gewährleistung (1 a). Der Gesetzgeber darf sich dafür entscheiden, existenzsichernde Leistungen nur nach Maßgabe der Bedürftigkeit zur Verfügung zu stellen (1 b). Er verfügt insofern über einen Ausgestaltungsspielraum (1 c). Das Grundgesetz steht auch der Entscheidung nicht entgegen, staatliche Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz nur nachrangig zu gewähren und sie deshalb an Mitwirkungspflichten zu binden, die darauf zielen, die Hilfebedürftigkeit zu überwinden, sofern sie gemessen an dieser Zielsetzung verhältnismäßig sind (2). Dem Gesetzgeber ist es dann nicht verwehrt, Instrumente zu schaffen, um derartige Mitwirkungspflichten durchzusetzen; auch sie müssen den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit genügen. Entscheidet er sich hierbei wie mit den vorgelegten Regelungen für das Durchsetzungsinstrument der Leistungsminderungen, setzt er also im Bereich der Gewährleistung der menschenwürdigen Existenz selbst an, sind diese Anforderungen besonders streng (3). Bei der Ausgestaltung der Sanktionen sind im Übrigen weitere Grundrechte zu beachten, wenn ihr Schutzbereich berührt ist (4).  [...]

II.

Die zu überprüfenden Regelungen sind zwar im Ausgangspunkt mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Gesetzgeber kann erwerbsfähigen Leistungsberechtigten die in § 31 Abs. 1 SGB II geregelten Pflichten auferlegen, damit diese zumutbar an der Überwindung der eigenen Bedürftigkeit selbst aktiv mitwirken (1). Er kann sich auch dafür entscheiden, die in § 31 Abs. 1 SGB II normierten Pflichten nach § 31a und § 31b SGB II, wenn nach § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II kein wichtiger Grund für ihre Nichterfüllung vorliegt, mit der Sanktion durchzusetzen, dass Leistungen in Höhe des für die Person maßgebenden Regelbedarfs im Sinne des § 20 SGB II vorübergehend gemindert werden (2). Die gesetzliche Ausgestaltung der Minderungen wird jedoch vor dem Hintergrund derzeit nur begrenzter Erkenntnisse zu den Wirkungen solcher Sanktionen den dafür geltenden strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit in verschiedener Hinsicht nicht gerecht.

Zwar verfolgt der Gesetzgeber mit § 31a Abs. 1 Sätze 1, 2 und 3 in Verbindung mit § 31b SGB II ein legitimes Ziel (2 a). Die weiteren Anforderungen der Verhältnismäßigkeit sind jedoch nicht vollständig erfüllt (2 b). Die in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II normierte Höhe einer Minderung um 30 % vom maßgebenden Regelbedarf ist für sich genommen nach derzeitigem Kenntnisstand nicht zu beanstanden. Doch genügen den hier strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit die nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II in der derzeitigen Ausgestaltung zwingende Vorgabe, auch in Fällen außergewöhnlicher Härte existenzsichernde Leistungen zu mindern, und die nach § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II unabhängig von der Mitwirkung der Betroffenen starr vorgegebene Dauer nicht (2 b aa). Mit § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II kann sich der Gesetzgeber zudem grundsätzlich dafür entscheiden, im Fall wiederholter Pflichtverletzung erneut zu sanktionieren. Eine Minderung in dieser Höhe ist jedoch nach derzeitigem Erkenntnisstand jedenfalls nicht zumutbar. Das gilt auch hier für die zwingende und starr andauernde Ausgestaltung (2 b bb). Ebenso wenig ist nach dem derzeitigen Kenntnisstand der völlige Wegfall des Arbeitslosengeldes II nach § 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II verfassungsrechtlich zu rechtfertigen (2 b cc). [...]

D.

Die in diesem Verfahren überprüften Regelungen verstoßen gegen Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. § 31a Abs. 1 Sätze 1, 2 und 3 und § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II sind in den Fällen des § 31 Abs. 1 SGB II mit dem Grundgesetz unvereinbar; sie können jedoch bis zum Inkrafttreten der Neuregelung durch den Gesetzgeber nach Maßgabe dieses Urteils angewendet werden.

I.

1. Die Regelungen in § 31a Abs. 1 Sätze 1, 2 und 3 in Verbindung mit § 31b SGB II sind in den Fällen des § 31 Abs. 1 SGB II insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar, als der Gesetzgeber in § 31 Abs. 1 SGB II erwerbsfähigen Leistungsberechtigten verhältnismäßige Pflichten auferlegt, um im Sinne von § 10 SGB II zumutbar an der Überwindung der eigenen Bedürftigkeit mitzuwirken. Auch die Entscheidung des Gesetzgebers, die in § 31 Abs. 1 SGB II normierten Pflichten nach § 31a und § 31b SGB II, wenn nach § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II kein wichtiger Grund für ihre Nichterfüllung vorliegt, mit der Sanktion durchzusetzen, dass Leistungen in Höhe des für die Person maßgebenden existenzsichernden Regelbedarfs im Sinne des § 20 SGB II vorübergehend gemindert werden, hält sich grundsätzlich in seinem Gestaltungsspielraum. Die nähere gesetzliche Ausgestaltung der Sanktionen wird den hier geltenden strengen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit jedoch nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht gerecht.

2. Das Bundesverfassungsgericht erklärt nach § 82 Abs. 1 in Verbindung mit § 78 Satz 1 BVerfGG ein Gesetz grundsätzlich für nichtig, das nach seiner Überzeugung mit dem Grundgesetz unvereinbar ist. Die bloße Unvereinbarkeitserklärung einer verfassungswidrigen Norm ist hingegen regelmäßig geboten, wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen (BVerfGE 149, 222 <290 Rn. 151>; stRspr).

Das ist hier der Fall. Der Gesetzgeber kann insbesondere auf die Vorgabe der Leistungsminderungen als Sanktionen verzichten, anstelle von Sanktionen die Umstellung von Geldleistungen auf Sachleistungen oder geldwerte Leistungen vorgeben, oder auch eine Regelung schaffen, die bei einer Verletzung von Mitwirkungspflichten geringere als die bisher geregelten oder je nach Mitwirkungshandlung unterschiedliche Minderungshöhen vorsieht. Auch hat der Gesetzgeber unterschiedliche Möglichkeiten, um außergewöhnliche Härten zu verhindern, die durch eine zwingende Sanktionierung entstehen können. Zudem kann er die Dauer einer Sanktion unterschiedlich ausgestalten, indem er nach Mitwirkungshandlungen oder auch zwischen nachgeholter Mitwirkung und der Bereitschaft, in Zukunft mitzuwirken, unterscheidet. Die Regelungen sind daher nicht für nichtig, sondern für mit dem Grundgesetz unvereinbar zu erklären.

3. Die in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II normierte Höhe einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs im Fall der Verletzung einer Pflicht nach § 31 Abs. 1 SGB II ist nach derzeitiger Erkenntnislage für sich genommen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

§ 31a Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II sind nach derzeitigem Erkenntnisstand verfassungswidrig, soweit die Minderung wegen einer ersten wiederholten und einer weiteren wiederholten Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt. Die Regelung ist insoweit für mit dem Grundgesetz unvereinbar zu erklären.

4. § 31a Abs. 1 Sätze 1, 2 und 3 SGB II sind verfassungswidrig und mit dem Grundgesetz unvereinbar, soweit danach der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist oder das Arbeitslosengeld II auch dann vollständig entfallen muss.

5. § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II ist verfassungswidrig und mit dem Grundgesetz unvereinbar, soweit er für alle hier überprüften Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgibt.

II.

1. Die Sanktionsregelungen der § 31a Abs. 1 Sätze 1, 2 und 3 und § 31b SGB II sind in den Fällen des § 31 Abs. 1 SGB II mit den tenorierten Einschränkungen weiter anwendbar. Die Übergangsregelung zu § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II orientiert sich an der Regelung in § 31a Abs. 1 Satz 6 SGB II.

2. Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber nicht dazu, rückwirkend Leistungen ohne Minderungen nach § 31a SGB II festzusetzen. a) Für bestandskräftige Verwaltungsakte bleibt es bei der Regelung des § 40 Abs. 3 SGB II als Sonderregelung zu § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X.

b) Nicht bestandskräftige Bescheide über Leistungsminderungen nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II, die vor der Urteilsverkündung festgestellt worden sind, bleiben wirksam.

c) Zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung nicht bestandskräftige Bescheide über Leistungsminderungen nach § 31a Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB II, sind, soweit sie über eine Minderung in Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen, aufzuheben.

3. Die Verfassungswidrigkeit der Regelungen ist im Übrigen bei Kostenentscheidungen zugunsten von klagenden Hilfebedürftigen angemessen zu berücksichtigen, soweit dies die gesetzlichen Bestimmungen ermöglichen (vgl. BVerfGE 125, 175 <259>; 132, 134 <178 f. Rn. 111 ff.>).

III.

Der Gesetzgeber hat neu zu regeln, ob und wie Pflichtverletzungen nach § 31 Abs. 1 SGB II sanktioniert werden. Es liegt in seinem Entscheidungsspielraum, ob er weiterhin Leistungsminderungen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten vorgeben und in unterschiedlicher Höhe ansetzen will. [...]