VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 08.07.2019 - 1 A 1112/17 HAL - asyl.net: M27612
https://www.asyl.net/rsdb/M27612
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für den Bruder eines afghanischen Polizisten:

1. Bei dem Bruder eines von den Taliban ermordeten Polizisten, der selbst von den Taliban aufgrund der Verweigerung einer Zusammenarbeit mit dem Tod bedroht wurde, ist davon auszugehen, dass die Taliban ihm eine ihnen entgegenstehende politische Einstellung i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG zuschreiben.

2. Es steht keine inländische Fluchtalternative in Afghanistan zur Verfügung, da in den größeren Städten aufgrund der hohen sozialen Kontrolle die Gefahr besteht, von den Taliban entdeckt und identifiziert zu werden (detaillierte Ausführungen hierzu). In "sicheren" ländlicheren Gebieten ist es für alleinstehende Personen ohne Familienverband mit einem Patronage-Netzwerk nicht möglich, ihr wirtschaftliches Existenzminimum zu sichern.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, interne Fluchtalternative, politische Überzeugung, vermeintliche politische Überzeugung, Bruder, Polizei, Polizist, Flüchtlingsanerkennung, Kabul, interner Schutz, soziales Netzwerk, Familie, Patronage-Netzwerk, Familienangehörige,
Normen: AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3d, AsylG § 3e, AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Der Bescheid der Beklagten vom 13. Oktober 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Er hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. Die dem entgegenstehenden Feststellungen des Bundesamts erweisen sich somit als rechtswidrig und sind folglich aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]

Der Kläger ist vorliegend zwar nicht selbst tätlich angegriffen worden, das Gericht ist aber davon überzeugt, dass der Kläger als Bruder eines Polizisten und aufgrund der Verweigerung einer Zusammenarbeit mit dem Tod bedroht wurde und daher vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist ist. Die Taliban lassen ihren Einschüchterungen stets gezielte Gewalttaten, u.a. auch Entführungen und Tötungen, folgen. So wurden landesweit extralegale Hinrichtungen, Folter urjd Misshandlungen von Zivilisten durch sog. regierungsfeindliche Kräfte festgestellt; ein Großteil der regierungsfeindlichen Kräfte sind den Taliban zuzuordnen (vgl. UNHCR-Richtlinien 19. April 2016, S. 25): im UNAMA Jahresreport 2015 wurden ebenfalls 76 Opfer infolge von Todesstrafen und Auspeitschungen durch regierungsfeindliche Kräfte dokumentiert. Einen konkreten Übergriff auf sich musste der Kläger wegen der Schwere des zu erwartenden Schadens nicht abwarten.

Dem Kläger wird darüber hinaus nach Überzeugung des Gerichts eine von den Taliban eine gegen diese Organisation gerichtete abweichende Einstellung im Sinne von § 3b Abs. 2 AsylG zugeschrieben. Bei dieser abweichenden Einstellung handelt es sich um eine politische Überzeugung nach § 3b Abs. 1 i.V.m. 5 AsylG. [...]

Bei den Taliban handelt es sich um nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG, von denen Verfolgung ausgehen kann. [...]

Auf Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG durch den afghanischen Staat kann der Kläger nicht verwiesen werden, da dieser nicht in der Lage ist, für die Sicherheit des Klägers zu sorgen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Oktober 2016, S. 4, 17; Lagebeurteilung vom 28. Juli 2017, Rn. 40). [...]

Dem Kläger steht auch keine zumutbare inländische Fluchtalternative im Sinne von § 3e AsylG zur Verfügung. [...]

Der UNHCR kommt zu dem Ergebnis, dass In Kabul im Allgemeinen keine Flucht- oder Neuansiedlungsalternative mehr zur Verfügung steht (z.B. UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018, S. 129).

Das Gericht geht weiter davon aus, dass der aus der Provinz Laghman stammende Kläger gerade in den größeren Städten Afghanistan die oben geschilderte Verfolgung zu befürchten hat und von daher auch aus diese Grunde dort keinen internen Schutz erlangen kann.

Aufgrund der Erkenntnislage vermag das Gericht es zwar nicht als gesichert anzusehen, dass die Taliban mit ihren in Afghanistan vorhandenen Netzwerken gezielt nach dem Verbleib des Klägers sucht bzw. dass sie diese Fähigkeit hierzu besitzt (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 28. Juli 2014 - 9 LB 2/13 -, juris m.w.N.; ACCORD: Fähigkeit der Taliban, Personen in Afghanistan aufzuspüren, Schutzfähigkeit des Staates, 14. August 2013). Jedoch geht das Gericht davon aus, dass für den Kläger zumindest das tatsächliche Risiko ("real risk") besteht, durch Zufall - aufgrund der hohen sozialen Kontrolle - von der Taliban entdeckt und identifiziert zu werden. [...]

Zu einer anderen Bewertung der Gefahrenprognose sieht sich das Gericht nicht dadurch veranlasst, dass der Kläger möglicherweise in der Anonymität einer Großstadt "untertauchen" und sich vor den Taliban versteckt halten könnte. Durch die hohe soziale Kontrolle ist auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2018, S. 20). [...]

Der Kläger kann auch nicht auf die Möglichkeit verwiesen werden, internen Schutz außerhalb einer größeren Stadt in einem "sicheren" ländlichem Gebiet - etwa in der Provinz Bamyan und Panjshir - zu suchen, in dem möglicherweise keine Netzwerke der Taliban bestehen. Der Kläger wird dort sein wirtschaftliches Existenzminimum nicht sichern können. [...]