VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 19.09.2018 - 3 A 492/16 - asyl.net: M26596
https://www.asyl.net/rsdb/M26596
Leitsatz:

Familienasyl für Somalier, dessen Ehe nach islamischen Ritus geschlossen wurde:

1. Widersprüchliche Angaben zum Datum der Eheschließung begründen für sich genommen noch keine Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Heirat. Auch dass die Eheschließung vor einem Sheikh durch einen Vertreter der Ehefrau in deren Abwesenheit erfolgte, entspricht dem islamischen Gesetz und ist aus vergleichbaren Fällen bekannt (sog. Stellvertreterhochzeit).

2. Der Umstand, dass die Eheleute auf unterschiedlichen Wegen aus ihrem Heimatland ausreisten, begründet ebenso wenig Anlass, an der Ernsthaftigkeit der Eheschließung zu zweifeln. Vielmehr spricht für die Ernsthaftigkeit, dass seit der Ausreise über sechs Jahre vergangen sind und die Eheleute mit ihren mittlerweile vier Kindern gemeinsam in Deutschland leben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylfolgeantrag, Eheschließung, Wiederaufnahme des Verfahrens, Wiederaufnahmegründe, Familienasyl, Familienflüchtlingsschutz, Ernsthaftigkeit,
Normen: AsylG § 51, AsylG § 26, VwVfG § 51, VwVfG § 51Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Nach dem rechtskräftigen Abschluss seines Asylerstverfahrens (Gerichtsbescheid des VG Göttingen vom 06.09.2016 - 3 A 612/14) aufgrund seiner bereits am 01.10.2014 erhobenen Klage stellt sich das vorliegende Verfahren als ein solches aufgrund eines weiteren Asylantrages des Klägers dar. Gemäß § 71 AsylG ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) vorliegen. Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben.

Vorliegend hat sich gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG entgegen der Auffassung der Beklagten die der ursprünglichen Ablehnung seines Asylbegehrens zugrundeliegende Sach- und Rechtslage nachträglich zugunsten des Klägers geändert. Frau …, der durch inzwischen bestandskräftigen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 24. Februar 2016 unanfechtbar die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, ist nämlich entgegen der Auffassung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Ehefrau des Klägers i.S.v. § 26 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 5 AsylG.

Nach der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung und unter Berücksichtigung des gesamten bisherigen Vorbringens des Klägers steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass keine Zweifel daran bestehen, dass der Kläger und Frau … Ehegatten im Sinne dieser Norm sind. Soweit die Beklagte im angefochtenen Bescheid scheinbar widersprüchliche Angaben zum Datum der Eheschließung zum Anlass nimmt, an der Ernsthaftigkeit des nach islamischen Ritus geschlossenen Ehe zu zweifeln, ist dies für das Gericht nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass die Wichtigkeit solcher Daten im außer-mitteleuropäischen Kulturkreis keineswegs gleich hoch anzusiedeln ist, ergibt sich aus dem Zusammenhang der in den Akten befindlichen Schilderungen und insbesondere unter Berücksichtigung der ausführlichen Einlassung des Klägers in der mündlichen Verhandlung unter Vorlage einer Ausfertigung seiner amtlichen Heiratsurkunde im Original, dass der Kläger zwar bei seiner ersten Anhörung als Datum den ... 2012 angegeben hat, seine Frau bei ihren Anhörungen zunächst den 8., dann wieder den 12. und schließlich den … 2012 angegeben hat. Ganz offenbar war sich der Kläger aber bei seiner ersten Angabe nicht über die Relevanz der Angabe im Klaren, sondern hat dies dann nachträglich gegenüber dem Bundesamt auf das jetzt auch aus der vorgelegten Heiratsurkunde ersichtliche Datum, nämlich den … 2012 korrigiert. Allein diese durchaus festzustellende Nachlässigkeit rechtfertigt jedoch nach der Überzeugung des Gerichts im Ergebnis keinesfalls, die Eheschließung und die Ernsthaftigkeit der dabei eingegangenen Lebens- und Beistandsgemeinschaft auch nur ansatzweise in Frage zu stellen. So hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung zu den Umständen seiner Eheschließung einschließlich der Anbahnung der Beziehung zu seiner jetzigen Ehefrau bereits im Jahre 2008 und der dann Anfang 2012 forcierten Konkretisierung der Heiratsabsichten und schließlich dem Vollzug der Eheschließung nachvollziehbar und in allen Einzelheiten überzeugend darzulegen vermocht, dass es aufgrund der soziokulturellen Umstände in der islamisch geprägten Gesellschaft Somalias keineswegs ein einfaches Unterfangen ist, eine solche Eheschließung vor dem Hintergrund durchzuführen, dass weder für den Kläger noch seine Ehefrau aufgrund fehlenden familiären Hintergrundes die Möglichkeit bestand, durch "die Familien" eine Eheschließung zu arrangieren und, eine solche im Falle des Klägers und seiner Ehefrau dann schließlich erfolgreich durchgeführte Eheschließung aus Zuneigung durch Partner, die sich selbst kennen und lieben gelernt haben, in die Tat umzusetzen. So hat der Kläger nachvollziehbar dargelegt, dass seine Frau von einem "Onkel", der mit ihr aber nicht verwandt war, "betreut" wurde, so lange sie nicht verheiratet war. Dieser Vormund war dann auch der Vertreter der Klägerin bei der eigentlichen Eheschließung vor dem Sheikh, die nach dem islamischen Gesetz ganz regulär in Anwesenheit von zwei (männlichen) Trauzeugen, dem Onkel des Klägers und eben dem Vormund der Ehefrau des Klägers stattgefunden hat. Es ist für das Gericht nachvollziehbar und aus vergleichbaren Fallkonstellationen bekannt, dass solche Eheschließungen formal durch einen Vertreter der Ehefrau in Abwesenheit derselben stattfinden. Vorliegend kommt hinzu, dass sich die Braut nach Angaben des Klägers ebenfalls am Ort der Zeremonie aufgehalten hat, jedoch in einem anderen Raum und eben nicht zusammen in dem Raum, wo sich die Männer aufhielten.

Auch das vom Kläger nachvollziehbar beschriebene Prozedere, um diese Eheschließung durchführen zu können, und der Umstand, dass sich der Kläger und seine Braut vor der Eheschließung persönlich lediglich einmal persönlich getroffen haben, erstaunt angesichts des im islamischen Kulturkreis durchaus üblichen Vorgehens, dass sich die einander versprochenen Eheleute vor der Eheschließung meist gar nicht sehen, persönlich treffen oder gar überhaupt nicht kennen, nicht. [...]

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der Umstand, dass der Kläger und seine Ehefrau auf verschiedenen Wegen ihr Heimatland verlassen haben, kein Anlass, an der Ernsthaftigkeit ihres Ehewillens zu zweifeln. [...]

Schließlich hat auch der Kläger in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar dargelegt, dass es für ihn und seiner Ehefrau klar war, heiraten zu wollen mit dem Ziel, als Ehepaar in Kenia zu leben, weil ihrer Erwartung nach das Leben dort für sie beide leichter werden würde. Erst nachdem sich dies als Trugschluss herausgestellt hafte, planten beide ihren (getrennten) Weg nach Europa, was wegen der dort nicht vorhandenen finanziellen Mittel für beide dann nicht ohne Rückgriff auf den Onkel des Klägers und den Vormund der Ehefrau des Klägers in Somalia möglich war.

Die Ernsthaftigkeit der Eingehung der Ehe als Lebens- und Beistandsgemeinschaft bereits im März 2012 vor dem Verlassen Somalias durch den Kläger und seine Ehefrau ergibt sich angesichts des nunmehr verstrichenen Zeitraums von über 6 1/2 Jahren nicht zuletzt daraus, dass der Kläger und seine Ehefrau mit inzwischen 4 gemeinsamen Kindern ihr gemeinsames Leben in der Bundesrepublik Deutschland so gut eingerichtet haben wie es angesichts der Verhältnisse eben ging.

Schließlich ist dem Kläger auch nicht vorzuwerfen, dass er mit seinen Vorsprachen bei der somalischen Botschaft in Berlin bisher gescheitert ist (zuletzt am 22./23.05.2018, Blatt 69 Gerichtsakte) für sich einen Nationalpass ausstellen zu lassen. [...]