VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 20.08.2018 - 8 K 1974/16.GI.A - asyl.net: M26514
https://www.asyl.net/rsdb/M26514
Leitsatz:

Zielstaatsbezogenes Abschiebeverbot nach Italien für in Sizilien anerkannten Flüchtling:

1. Bei der Bewertung der Umstände, die Rückkehrende in Italien erwartet, ist auf die Aufnahmebedingungen der Präfektur abzustellen, die nach Abschluss des Asylverfahrens für die Inanspruchnahme von Integrationshilfen zuständig ist. Dies ist in der Regel diejenige, in der das Asylverfahren abgeschlossen wurde.

2. In Sizilien bestehen Mängel und Defizite in den Aufnahmebedingungen, so dass bei einer Rückkehr ohne Anschluss an ein SPRAR-Zentrum die Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung besteht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Aufnahmebedingungen, Erwerbslosigkeit, Obdachlosigkeit, Europäische Menschenrechtskonvention, Rückkehr, Existenzminimum,
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, GR-Charta Art. 4, AsylG § 35, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 1 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 34 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Dementsprechend kann dahingestellt bleiben, ob sich die Lebensverhältnisse für anerkannte Flüchtlinge in Italien allgemein als unmenschlich oder erniedrigend darstellen, was in der jüngeren Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt wird (verneinend: OVG Lüneburg, Urteil vom 06.04.2018 - 10 LB 109/18 -; OVG Münster, Urteil vom 24.08.2016 - 13 A 63/16 -; bejahend: VG Minden, Urteil vom 29.11.2017 -10 K 1823/15.A -; VG Berlin, Beschluss vom 02.06.2017 - 33 L 365.17 A -, VG Hannover, Beschluss vom 08.03.2017 - 3B 1492/17-, sämtlichst juris). Denn bei der Bewertung der vom Kläger im Falle seiner Rückkehr in Italien anzutreffenden Umstände ist auf die Situation von anerkannten Flüchtlingen, die in einer vergleichbaren rechtlichen und tatsächlichen Lage sind, abzustellen (vgl. OVG Münster, Urteil vom 07.03.2014 - 1 A 21/12.A -). Vorliegend ist dabei besonders in den Blick zu nehmen, dass das Asylverfahren des Klägers in Sizilien (Catania) durchgeführt wurde und auch nach Abschluss seines Asylverfahrens die betreffende Präfektur zuständig ist und er sich für die Inanspruchnahme von Integrationshilfen wiederum dorthin zu wenden hätte.

Ausgehend hiervon liegen die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG vor. Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies ist unter anderem dann der Fall, wenn im Zielstaat der Abschiebung dem Ausländer eine unmenschliche Behandlung droht (Art. 3 EMRK). [...]

Nach diesen Maßstäben besteht nach Ansicht der Einzelrichterin anhand der Erkenntnislage in dem nach § 77 Abs. 1 S. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung für den Kläger die konkrete Gefahr einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK im Falle einer Rückkehr nach Italien. Denn der Kläger, der während seines 1 1/2-jährigen Aufenthaltes in Italien bereits unter menschenunwürdigen Bedingungen gelebt hat, muss nicht nur in der ersten Zeit nach seiner Rückkehr damit rechnen, dass er keinen Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen hat. Mangels Zugang zu Integrationshilfen [ist] zu befürchten, dass er in eine wirtschaftlich und sozial aussichtslose Situation gerät, in der er auf längere Sicht wiederum von wirtschaftlicher Verelendung und sozialer Perspektivlosigkeit konkret bedroht wäre, ohne solchen ihm nicht mehr zumutbaren Verhältnissen innerhalb Italiens ausweichen zu können. [...]

Auszugehen ist davon, dass Ausländer, die in Italien als Flüchtlinge anerkannt worden sind, italienischen Staatsangehörigen gleichgestellt sind, d.h., es wird grundsätzlich von ihnen erwartet, dass sie selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt sorgen. Es gibt weder für italienische Staatsangehörige noch für anerkannte Schutzberechtigte regelmäßige Sozialhilfeleistungen, die das Existenzminimum garantieren. Das italienische Sozialsystem stützt sich nach wie vor stark auf die Unterstützung durch Familienangehörige (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aufnahmebedingungen in Italien, August 2016 [SFH August 2016], S. 49 f. und 69; Asylum Information Database [ASGI], The Dublin System and Italy: A Wavering Balance, März 2015, S. 38; Auswärtiges Amt (AA), Auskunft an das OVG NRW vom 23.02.2016, S. 4; dazu auch OVG Münster Urteil vom 24.8.2016 -13 A 63/16 -, a.a.O.). [...]

Unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisquellen nimmt auch die Einzelrichterin an, dass in Teilen Italiens weiterhin gravierende Defizite bei der Integration, Unterbringung und Versorgung von Schutzberechtigten bestehen. Dies wird scheinbar auch in einzelnen Entscheidungen des Bundesamtes nicht verkannt, was etwa in einem Bescheid vom ... - GZ: ... zum Ausdruck kommt, worin zu Gunsten eines subsidiär Schutzberechtigten aufgrund der in Italien angenommenen schlechten humanitären Bedingungen ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt wurde.

Zu sehen ist allerdings, dass die Situation in den Regionen und Gemeinden durchaus unterschiedlich ist (vgl. nur Auskunft AA an VG Hamburg vom 13.12.2017), insbesondere bezüglich der Umsetzung der für die SPRAR-Einrichtungen vorgesehenen Standards der Unterbringung und Versorgung sowie der Integrationsprogramme (borderlineeurope, "Die Situation von MigrantInnen in Sizilien" vom Januar 2018; BFA, Italien, Stand 06.07.2018, S.27 f.). Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse ist davon auszugehen, dass anerkannte Schutzberechtigte in Sizilien aufgrund dortiger Defizite in der Unterbringung, Versorgung und Integration dieses Personenkreises menschenunwürdige Zustände zu vergegenwärtigen haben, so dass der Kläger, der aufgrund des italienischen Sozialsystems an den Ort seiner Registrierung und der Durchführung seines Asylverfahrens (Catania/Sizilien) gebunden ist, (hierzu nachfolgend) von diesen betroffen ist. Im Falle des Klägers ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich die bestehenden Mängel und Defizite, für ihn zu einer extremen Gefahr, im Falle seiner Abschiebung nach Italien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. der Artikel 4 EUGrdRCh, Artikel 3 EMRK ausgesetzt zu sein, verdichtet haben.

Zwar kann sich der Kläger nach seiner Rückkehr am Flughafen in Rom von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) beraten lassen und bei der für ihn zuständigen Questura (Catania), die ihm nach seinen Schilderungen in der mündlichen Verhandlung bekannt ist, einen Antrag auf Unterkunft stellen (vgl. AA, a.a.O., S. 5; SFH, a.a.O., S. 33). Allerdings ist nicht zu erwarten, dass ihm auf diesen Antrag zeitnah eine Unterkunft zur Verfügung gestellt wird. [...]

Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist davon auszugehen, dass auch trotz der weiteren Erhöhung der Plätze im SPRAR-System die Anzahl der hier verfügbaren Plätze weiterhin signifikant niedriger als im Erstaufnahmesystem ist und hier - je nach Region - erhebliche Kapazitätsengpässe bestehen. [...]

Wie oben ausgeführt, ist bei der Bewertung der vom Kläger bei einer Rückkehr zu erwartenden Umstände auf die Verhältnisse in Sizilien abzustellen, da der Kläger seinen Asylantrag in Catania/Sizilien gestellt hat und in der zuständigen Gemeinde seinen Wohnsitz zu nehmen hat, um Zugang zu einem SPRAR zu erlangen (vgl. OVG Münster, Urteil vom 19.05.2015 - 13 A 1490/13-, juris, Rn. 107, 113, 115; AA an VG Hamburg vom 13.12.2017). Hier ergibt sich nach den vorliegenden Erkenntnisquellen und insbesondere unter Berücksichtigung aktueller Presseberichte eine hinreichend verlässliche Prognose für die Annahme, dass der Kläger, der nicht zum vulnerablen Personenkreis gehört, kaum die Chance haben wird, auf absehbare Zeit einen Platz im SPRAR-System zu erhalten und es dem Zufall überlassen wäre, Integrationsleistungen zivilgesellschaftlicher Netzwerke zu erhalten. Zur Überzeugung der Einzelrichterin ist daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr wiederum von Obdachlosigkeit betroffen sein und keine Gelegenheit haben wird, sein Existenzminimum dauerhaft aus eigener Kraft zu sichern. [...]

Für den Kläger als anerkannter Schutzberechtigter dürfte die Geltendmachung von Ansprüchen auf Gewährung von Unterstützung gegenüber den italienischen Behörden oder vor den Gerichten kaum realistisch sein, da es nach italienischem Recht in der Regel kein Anspruch auf Gewährung von Unterstützung gibt. Ihm bliebe allein, den Rechtsweg zu beschreiten, um derartige Ansprüche gestützt auf Unionsrecht oder die Europäische Menschenrechtskonvention geltend zu machen. Dies erscheint angesichts der Mittellosigkeit des Klägers und der in Italien außerordentlich lang dauernden Gerichtsverfahren mit unüberwindlichen Hindernissen verbunden (VG Minden, Urteil vom 29.11.2017 - 10 K 1823/15.A -, a.a.O., Rn. 125).

Kann der Kläger nicht mit einem Platz im SPRAR rechnen, bleibt ihm möglicherweise allein die Chance - wie vor seiner Ausreise - als Erntehelfer tätig sein. Für diesen Fall ist allerdings davon auszugehen, dass er kaum einen Verdienst wird erzielen können, die ihm die Anmietung einer Unterkunft erlauben würde. [...]

Außerhalb der Landwirtschaft wird der Kläger angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in Sizilien ohne Qualifizierung kaum einen Job finden, der ihn in die Lage versetzt, seinen Lebensunterhalt zu sichern. [...]

Dem Kläger kann auch nicht entgegen gehalten werden, dass Schutzsuchende in Italien mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein unbegrenztes Aufenthaltsrecht und freien Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten, so dass es ihm zuzumuten sei, sich an einem anderen Ort in Italien niederzulassen. Wie die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrem Bericht vom 04.08.2014 feststellt, gibt eine Aufenthaltsbewilligung dem Schutzberechtigten zwar das Recht, sich in Italien aufzuhalten, nicht aber das Recht, sich in einer beliebigen Gemeinde niederzulassen. Die Aufenthaltsbewilligung vermittle zwar die gleichen Rechte, wie sie auch italienischen Staatsbürgern zukämen. Um jedoch die Dienstleistungen einer Gemeinde in Anspruch nehmen zu können, bedürfe es einer offiziellen Wohnsitznahme in der jeweiligen Gemeinde. Für Asylsuchende, die eine Bewilligung erhalten hätten, sei die Gemeinde verantwortlich, in der sie zuerst ihr Asylgesuch eingereicht hätten. Nach Abschluss des Verfahrens gehöre die Person allerdings administrativ wieder zu der Gemeinde, in welcher das Asylverfahren in Gang gesetzt worden sei. Das bedeute, dass die Betroffenen gezwungen seien, in derjenigen Region zu verbleiben, in der sie das Asylgesuch gestellt hätten. [...]