VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 06.03.2018 - 1 K 2902/16 - asyl.net: M26478
https://www.asyl.net/rsdb/M26478
Leitsatz:

1. Die Einreise mit einem von einem Schengen-Staat erteilten nationalen Visum ist auch dann nicht unerlaubt, wenn von vornherein ein Daueraufenthalt im Bundesgebbiet beabsichtigt ist (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 16.11.2010 - 1 C 17.09 - asyl.net: M18228).

2. Für den Ehegattennachzug nach § 30 Abs. 1 AufenthG zu einem ordnungsgemäß beschäftigten türkischen Arbeitnehmer dürfte mit Rücksicht auf die Stand-Still-Klausel des Art. 7 ARB 2/76 die Einholung eines nationalen Visums nicht erforderlich sein (vgl.  VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 16.09.2015 - 11 S 1711/15 (= ASYLMAGAZIN 11/2015, S. 390 ff.) - asyl.net: M23217)

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: türkische Staatsangehörige, Türkischer Arbeitnehmer, Familiennachzug, nationales Visum, Schengen-Staat, unerlaubte Einreise, Visumsverfahren, Ausweisung, Straftatbestand, Ausweisungsinteresse, Stillhalteklausel,
Normen: AufenthG § 30 Abs. 1, ARB 2/76 Art. 7, AufenthG § 6, AufenthG § 4, SDÜ Art. 21 Abs. 1, SDÜ Art. 21 Abs. 2a, AufenthG § 14 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 3, AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 9,
Auszüge:

[...]

40 Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG benötigen Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet einen Aufenthaltstitel, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des Abkommens vom 12.09.1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (BGBl. 1964 II S. 509; Assoziationsabkommen EWG/Türkei) ein Aufenthaltsrecht besteht. Nach Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Anhang I der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15.03.2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von der Visumpflicht befreit sind (vgl. Art. 1 Abs. 2 i.V.m. Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 539/2001), müssen türkische Staatsangehörige wie die Klägerin zu Ziffer 1 (sog. "Anhang-I-Staater") beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft im Besitz eines Visums sein.

41 Zwar war die Klägerin zu Ziffer 1 nicht im Besitz eines Schengen-Visums (vgl. § 6 Abs. 1 und 2 AufenthG) oder eines nationalen Visums (vgl. § 6 Abs. 3 AufenthG), allerdings war ihr die Einreise in das Bundesgebiet aufgrund von Art. 21 Abs. 1 und 2a SDÜ gestattet.

42 Gemäß Art. 21 Abs. 1 SDÜ können Drittausländer, die Inhaber eines gültigen, von einem der Mitgliedstaaten ausgestellten Aufenthaltstitels sind, sich aufgrund dieses Dokuments und eines gültigen Reisedokuments bis zu 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen frei im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten bewegen, sofern sie die in Artikel 5 Abs. 1 Buchstaben a, c und e der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.03.2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllen und nicht auf der nationalen Ausschreibungsliste des betroffenen Mitgliedstaats stehen. Das in Art. 21 Abs. 1 SDÜ festgelegte Recht auf freien Personenverkehr gilt gemäß Art. 21 Abs. 2a SDÜ auch für solche Drittausländer, die Inhaber eines von einem der Mitgliedstaaten gemäß Artikel 18 SDÜ erteilten Visums für den längerfristigen Aufenthalt sind.

43 Die Klägerin besaß zum Zeitpunkt ihrer Einreise ein vom 05.03.2015 bis zum 11.03.2016 gültiges italienisches Visum vom Typ D für einen Aufenthalt von mehr als 90 Tagen (Visum für den längerfristigen Aufenthalt) im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Satz 1 SDÜ. Sie erfüllte auch die weiteren in Art. 21 Abs. 1 SDÜ normierten Voraussetzungen, insbesondere verfügte sie über einen gültigen Reisepass.

44 Die Einreise der Klägerin zu Ziffer 1 war auch nicht deshalb unerlaubt, weil diese nicht bloß einen Kurzaufenthalt von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen plante, sondern zwecks Ehegatten- bzw. Familiennachzugs zu ihrem bereits in Deutschland lebenden Ehemann bzw. Vater der Kläger zu Ziffer 2 und 3 von vornherein einen Daueraufenthalt anstrebte. Der Umstand, dass die Klägerin zu Ziffer 1 gemäß §§ 4 Abs. 2 Satz 1 und 2 Nr. 1, 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zu diesem Zweck ein nationales Visum benötigt hätte, führt nicht zu einer unerlaubten Einreise im Sinne von § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, sondern lediglich dazu, dass ihr die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG versagt werden kann.

45 Diese Auslegung des § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG hat nicht nur die Gesetzesbegründung zur Neufassung des § 14 AufenthG (BT-Drs. 15/420, S. 73) auf ihrer Seite, in der es heißt, dass durch den Verweis in Nr. 2 auf die Erforderlichkeit des Aufenthaltstitels nach § 4 "[...] angesichts der unterschiedlichen Auffassung in Rechtsprechung und Lehre klargestellt werden [sollte], dass sich die Erforderlichkeit des Aufenthaltstitels nach objektiven Kriterien und nicht nach dem beabsichtigten Aufenthaltszweck bemisst". Sie wird auch dem Zweck des § 14 AufenthG, nämlich der Sicherung der kontrollierten Einreise, gerecht. Schutzgegenstand des § 14 AufenthG ist die Unverletzlichkeit der Staatsgrenze; die Regelung steht im Zusammenhang mit – Entscheidungen anhand formaler, schnell und unzweideutig festzustellender Kriterien erfordernden – polizeilichen und strafrechtlichen (§ 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG) Maßnahmen zur Verhinderung oder Sanktionierung unerlaubter Grenzübertritte. Davon unabhängig zu sehen – und vom Schutzzweck des § 14 Abs. 1 AufenthG nicht primär erfasst – ist das Ziel der Einhaltung des Visumsverfahrens als Steuerungsinstrument einer geordneten Zuwanderung. Dieser Zielsetzung dient stattdessen § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, der zur Versagung des begehrten Aufenthaltstitels führt, wenn bei der Einreise kein dem aktuell verfolgten Aufenthaltszweck entsprechendes Visum vorlag (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 11.01.2011 – 1 C 23/09 –, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.03.2006 – 11 S 1797/05 –, juris). Für die genannte Auslegung spricht ferner § 15 AufenthG. Diese Vorschrift begründet neben dem zwingenden Zurückweisungsgrund des Versuchs einer unerlaubten Einreise in Abs. 1 in Abs. 2 die Möglichkeit zur Zurückweisung unter anderem für den Fall, dass der begründete Verdacht besteht, dass der Aufenthalt nicht dem angegebenen Zweck dient (§ 15 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG). Der Ermächtigung zur fakultativen Zurückweisung in diesen Fällen bedürfte es nicht, wenn die Angabe eines falschen Aufenthaltszwecks (und hierunter lässt sich auch der Zweck eines vorübergehenden oder dauernden Aufenthalts fassen) stets dazu führte, dass die Einreise unerlaubt im Sinne von § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist. Schließlich bekräftigt die 2013 ins Gesetz eingefügte Regelung des § 14 Abs. 1 Nr. 2a AufenthG diese Auslegung. Aus § 14 Abs. 1 Nr. 2a AufenthG ergibt sich, dass auch derjenige, der mit einem durch unrichtige oder unvollständige Angaben erwirkten Visum einreist, bis zu dessen Rücknahme oder Annullierung ein erforderliches Visum besitzt; würde man in diesem Fall bereits die Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bejahen, wäre Nr. 2a überflüssig (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 13.06.2016 – 4 K 1497/15 –, juris Rn. 53 ff.; Winkelmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 14 AufenthG Rn. 9; Zeitler, in: HTK-AuslR, § 14 AufenthG / zu Abs. 1 Nr. 2, Stand: 20.01.2018, Rn. 11 ff.; a.A. Dollinger, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand: 01.11.2016, § 14 AufenthG Rn. 11).

46 Von dieser Auslegung geht auch das Bundesverwaltungsgericht für den Fall aus, dass der Ausländer mit einem Schengen-Visum für einen Kurzaufenthalt in das Bundesgebiet eingereist ist, obgleich er bereits zum Zeitpunkt der Einreise einen längerfristigen Aufenthalt angestrebt hat und infolgedessen eines nationalen Visums bedurft hätte (vgl. BVerwG, Urteile vom 11.01.2011 – 1 C 23/09 – und vom 16.11.2010 – 1 C 17/09 –, jeweils juris). Diese Auslegung muss darüber hinaus auch gelten, wenn ein Ausländer visumfrei in das Bundesgebiet eingereist ist (vgl. § 15 AufenthV, Art. 1 Abs. 2 VO (EG) Nr. 539/2001 – EG-Visa-VO – und Art. 20 SDÜ). Anderenfalls würde ein durch die Visafreiheit privilegierter Ausländer schlechter behandelt, ohne dass dafür ein sachlicher Grund ersichtlich ist (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 13.06.2016 – 4 K 1497/15 –, juris Rn. 55 ff. m.w.N.; Zeitler, in: HTK-AuslR, § 14 AufenthG / zu Abs. 1 Nr. 2, Stand: 20.01.2018, Rn. 29 ff. m.w.N.). Dieser liegt insbesondere nicht in der auf geplante Aufenthalte von bis zu drei Monaten bzw. kurzfristige Aufenthalte beschränkten Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Gemeinschaft (vgl. einerseits Art. 62 Nr. 2 lit. b) i) EGV bzgl. des visumfreien Aufenthalts geregelt in der EG-Visa-VO und Art. 62 Nr. 2 lit. b ii) EGV bzgl. sog. Schengen-Visa geregelt in der VO (EG) Nr. 810/2009 vom 13.07.2009 und andererseits Art. 77 Abs. 2 a) und c) AEUV). Denn diese besteht in beiden Fällen (visumpflichtiger bzw. von der Visumpflicht befreiter Ausländer) gleichermaßen und rechtfertigt mithin keine Ungleichbehandlung (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 13.06.2016 – 4 K 1497/15 –, juris Rn. 58 f. m.w.N.; a.A. VG Stuttgart, Beschluss vom 07.05.2014 – 5 K 4470/13 –, juris Rn. 7).

47 Vor diesem Hintergrund reist ein Ausländer, der einen nationalen Aufenthaltstitel eines Schengen-Staates besitzt und zum Zeitpunkt der Einreise bereits die Absicht hat, länger als drei Monate in Deutschland zu bleiben, nicht unerlaubt ein (vgl. Zeitler, in: HTK-AuslR, Art. 21 SDÜ, Stand: 10.07.2017, Rn. 34; a.A. VG Stuttgart, Beschluss vom 07.05.2014 – 5 K 4470/13 –, juris Rn. 6 f.). Gemäß Art. 21 SDÜ i.V.m. Art. 5 Abs. 1 c) der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 muss der Ausländer zwar unter anderem den Zweck und die Umstände des beabsichtigten Aufenthalts belegen (vgl. auch Art. 6 Abs. 1 c) Schengener Grenzkodex – SGK –). Das führt aber aufgrund der oben beschriebenen gesetzlichen Systematik der §§ 14, 15 AufenthG nicht dazu, dass die Einreise bereits wegen der Absicht eines Daueraufenthalts ohne das Hinzutreten weiterer Umstände unerlaubt wäre. Der Ausländer kann allerdings, wenn er die Zwecke und die Umstände seines beabsichtigten Aufenthalts nicht zu belegen vermag oder Anhaltspunkte für einen beabsichtigten Daueraufenthalts bestehen, gemäß § 15 Abs. 2 Nr. 2 und 3 AufenthG an der Grenze zurückgewiesen werden. Erst durch die (fakultative) Zurückweisung nach Prüfung der Einreisevoraussetzungen wird die dennoch erfolgte Einreise bzw. der (Dauer-)Aufenthalt unerlaubt. Diese Auslegung wird schließlich auch durch § 39 Abs. 1 Nr. 6 AufenthV gestützt. Danach kann ein Ausländer einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen oder verlängern lassen, wenn er einen von einem anderen Schengen-Staat ausgestellten Aufenthaltstitel besitzt und auf Grund dieses Aufenthaltstitels berechtigt ist, sich im Bundesgebiet aufzuhalten, sofern die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels erfüllt sind. Die Vorschrift legt es nahe, dass ein Ausländer, der über einen Aufenthaltstitel im Sinne des Art. 21 SDÜ verfügt, auch dann erlaubt im Sinne von § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG einreist, wenn er einen Daueraufenthalt – beispielsweise zum Zwecke des Ehegatten- oder Familiennachzugs – beabsichtigt (vgl. allgemein Samel, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 5 AufenthG Rn. 132 und Fehrenbacher, HTKAuslR, § 39 AufenthV / zu Nr. 6, Stand: 23.10.2017, Rn. 3 f.). Der Anwendungsbereich der Vorschrift würde anderenfalls ausgehöhlt, da der Ausländer die Vergünstigung in § 39 Nr. 6 AufenthV faktisch nicht nutzen könnte, weil er dazu das Risiko eingehen müsste, sich wegen unerlaubter Einreise nach § 95 Nr. 3 i.V.m. § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG strafbar zu machen. [...]

54 Unabhängig davon ist mit Blick auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 16.09.2015 – 11 S 1711/15 –, juris) davon auszugehen, dass die Klägerin zu Ziffer 1 für den beabsichtigten Ehegattennachzug gemäß § 30 Abs. 1 AufenthG zu ihrem ordnungsgemäß beschäftigten türkischen Ehemann, der nach Aktenlage gemäß Art. 6 Abs. 1 assoziationsberechtigt sein dürfte, mit Rücksicht auf die Stand-Still-Klausel des Art. 7 ARB 2/76 kein nationales Visum einholen musste. Dies braucht hier aber nicht abschließend entschieden zu werden. Selbst wenn man nämlich der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg nicht folgte und davon ausginge, dass eine Einschränkung der Stand-Still-Klausel im Fall des Vorliegens eines zwingenden Grundes des Allgemeininteresses, der in der Einhaltung der Visumvorschriften als zentralem und verhältnismäßigem Steuerungsinstrument der Zuwanderung liegen könnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 06.11.2014 – 1 C 4/14 –, juris und EuGH, Urteil vom 29.03.2017 – C 652/15 –, juris), wäre wegen der unklaren Rechtslage – eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts steht noch aus – nur von einem vereinzelten und geringfügigen Verstoß der Klägerin zu Ziffer 1 auszugehen. [...]