VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07.12.2015 - 11 S 1998/15 - asyl.net: M23488
https://www.asyl.net/rsdb/M23488
Leitsatz:

1. Wird ein humanitäres Aufenthaltsrecht beantragt, ist in aller Regel davon auszugehen, dass sich der Antrag auf sämtliche diesem Aufenthaltszweck zuzurechnenden Erteilungsvorschriften stützt, soweit der zugrunde gelegte Lebenssachverhalt ein einheitlicher ist. Insoweit gilt nichts anderes als für die Bestimmung des Streitgegenstandes einer Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, der ebenfalls durch die Aufenthaltszwecke und den zu Grunde gelegten Lebenssachverhalt bestimmt und begrenzt wird, aus denen der Anspruch hergeleitet wird, nicht aber aus der Verortung eines Anspruchs im Gesetz (Fortführung der Senatsrechtsprechung: VGH Bad. - Württ., Beschl. v. 01.09.2014 - 11 S1245/14 - juris Rn. 16; BVerwG, Urt. v. 4.09.2007 - 1 C 43/06 - juris Rn. 12 und 2 zu § 104a AufenthG aF).

2. Eine Klage ist in diesen Fällen nicht wegen Fehlens einer nicht nachholbaren Klagevoraussetzung unzulässig, soweit sie zuletzt auf eine Erteilungsvorschrift gestützt wird, die erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens in Kraft getreten ist (hier: § 25b AufenthG).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Streitgegenstand, Änderung der Rechtslage, Prüfungsumfang, Bleiberecht, Altfallregelung, Gesetzesänderung, Zulässigkeit,
Normen: AufenthG § 25b,
Auszüge:

[...]

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts spricht hier nichts dafür, dass es der Klage in Bezug auf § 25b AufenthG an einer nicht nachholbaren Klagevoraussetzung fehlen könnte, weil die Klägerin insoweit noch keinen Antrag bei der Beklagten gestellt hätte. Das Verwaltungsgericht sieht zwar, dass die Klägerin schon im Verwaltungsverfahren mit Schreiben vom 01.08.2013 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen beantragt hat, zieht daraus jedoch nicht den richtigen Schluss. Aus der maßgeblichen Sicht des Empfängerhorizonts des Beklagten (§§ 133, 157 BGB) konnte nicht zweifelhaft sein, dass sie ihren Antrag zu keinem Zeitpunkt auf einen Anspruch auf § 25 Abs. 5 AufenthG beschränkt wissen wollte. Insoweit gilt nichts anderes als für die Bestimmung des Streitgegenstandes einer Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, der ebenfalls durch die Aufenthaltszwecke und den zu Grunde gelegten Lebenssachverhalt bestimmt und begrenzt wird, aus denen der Anspruch hergeleitet wird, nicht aber aus der Verortung eines Anspruchs im Gesetz (BVerwG, Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 43/06 - juris Rn. 12 und 42 zu § 104a AufenthG aF).

Mit Blick auf den hier maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der (letzten) gerichtlichen Entscheidung in der Tatsacheninstanz (BVerwG, Urt. v. 16.06.2004 - 1 C 20/03 - juris Rn. 11) ist eine erhebliche Änderung des maßgeblichen Rechts - hier die Einführung des § 25b AufenthG zum 01.08.2015 - im gerichtlichen Verfahren daher zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.06.2002 - 7 AV 1.02 - DVBl. 2002, 1556 und vom 15.12.2003 - 7 AV 2.03 - NVwZ 2004, 744). Unzweifelhaft statuiert § 25b AufenthG ein humanitäres Aufenthaltsrecht, das daher vom Verwaltungsgericht in der Sache zu prüfen gewesen wäre. Dies gilt umso mehr, da die Klägerin bei Klageerhebung auf § 25b AufenthG noch gar nicht abstellen konnte. Soweit sich aus dem Umstand, dass § 25b AufenthG erst zum 01.08.2015 in Kraft getreten ist, ergibt, dass die Behörde sich zu dieser Vorschrift noch nicht verhalten konnte, lag die Entscheidungsreife im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht möglicherweise noch nicht vor, worauf dieses mit einer geeigneten Verfahrensführung hätte reagieren müssen, etwa durch eingehende Erörterung im Termin oder durch Vertagung.

2. Vor diesem Hintergrund ist der Ausgang des Verfahrens offen. Wenn das Verwaltungsgericht in seinen die angegriffene Entscheidung nicht tragenden Ausführungen zu § 25b AufenthG zu der Einschätzung gelangt, dass die Klägerin dessen Voraussetzungen nicht erfülle, führt dies nicht zu dem sicheren Schluss, dass sich die angegriffene Entscheidung - jedenfalls im Ergebnis - als zutreffend erweist. Denn diese Ausführungen erschöpfen sich in einer lediglich kursorischen, und nicht abschließenden rechtlichen Bewertung eines möglicherweise nicht hinreichend gewürdigten Sachverhalts. Zudem sind wesentliche Fragen die Vorschrift betreffend noch nicht gerichtlich geklärt. Nach § 25b AufenthG soll ein Aufenthaltsrecht erteilt werden, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 1 der Vorschrift vorliegen. Da diese ausweislich des Wortlauts der Norm regelmäßig zu erfüllen sind, wird in der bisher verfügbaren Literatur und Rechtsprechung davon ausgegangen, dass es diesbezüglich einer Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls bedarf (Zühlcke, HTK-AuslR, Stand: 04.10.2015, § 25b AufenthG zu Abs. 1 Rn. 17; etwas enger wohl: OVG NRW, Beschl. v. 21.07.2015 - 18 B 486/14 - juris Rn. 10: Regel-/Ausnahmeverhältnis). Näheres hierzu ist noch zu klären. Die Reichweite dieser Ausnahme ist vorliegend möglicherweise auch entscheidungserheblich:

Sofern das Verwaltungsgericht meint, es sei nicht erkennbar, dass die Klägerin über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet im Sinne des § 25b Abs. 1 Nr. 2 AufenthG verfüge, ist zunächst festzustellen, dass solche Grundkenntnisse vor Einführung dieser Vorschrift für die Erlangung eines humanitären Aufenthaltsrechtes nicht erforderlich waren. Der Nachweis der Grundkenntnisse soll, wie auch in Fällen des § 9 AufenthG, über den erfolgreichen Besuch eines Integrationskurses geführt werden können (so etwa: Zühlcke, HTK-AuslR, Stand: 04.10.2015, § 25b AufenthG zu Abs. 1 Rn. 74). Geht man davon aus, liegt es auf der Hand, dass die Klägerin schon keine realistische Möglichkeit hatte, bis zur mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts diesen Nachweis zu erbringen, nachdem die Vorschrift erst 18 Tage zuvor in Kraft getreten war. Zudem ist aufklärungsbedürftig, ob für die betroffene Personengruppe überhaupt schon Integrationskurse angeboten werden. Mit anderen Worten: Die Frage, ob und ggf. in welcher Form von der Klägerin den Nachweis von Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verlangt werden kann, ist offen.

Dies gilt nicht weniger, soweit das Verwaltungsgericht meint, vom Erfordernis der überwiegenden Sicherung des Lebensunterhaltes nach § 25b Abs. 1 Nr. 3 AufenthG könne bei der Klägerin nicht nach § 25b Abs. 3 AufenthG abgesehen werden, da die ärztliche Stellungnahme des Dr. ... vom 10.08.2015 sich mit keinem Wort zur Frage der Arbeitsfähigkeit der Klägerin verhalte und nicht erkennbar sei, dass sich aus den geschilderten Krankheitsbildern die Arbeitsunfähigkeit ergebe. Offenkundig war diese Fragestellung für die ärztliche Stellungnahme nicht von Relevanz; sie ist erkennbar einzig vor dem Hintergrund der Frage der Zumutbarkeit der Ausreise der Klägerin verfasst worden. Die ärztliche Stellungnahme wird vom Verwaltungsgericht zudem stark verkürzt zu Grunde gelegt. Schon die Wiedergabe der geschilderten Krankheitsbilder lässt wesentliche Bewertungen hinsichtlich des Schweregrads der Erkrankungen und deren Auswirkungen auf die Lebensführung der Klägerin außen vor. Nimmt man den gesamten Inhalt der Stellungnahme in den Blick und berücksichtigt die familiäre Entwicklung bei der Klägerin (schwere Krebserkrankung ihres Mannes und dessen Tod Anfang 2015), spricht einiges dafür, dass deren Arbeitsfähigkeit schon seit längerem zweifelhaft ist, was im Weiteren aufzuklären ist. [...]