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VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Beschluss vom 24.04.2018 - 7 K 4032/18 - asyl.net: M26286
https://www.asyl.net/rsdb/M26286
Leitsatz:

1. Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO im Hinblick auf zahlreiche ärztliche Atteste, die zwar nicht den Vorgaben des § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG entsprechen, aber Anhaltspunkte liefern, dass die betroffene Person an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung leidet, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde.

2. Zur weiteren Abklärung, ob eine mit einer Abschiebung verbundene Gesundheitsgefahr besteht, muss von der Ausländerbehörde eine weitere ärztliche Untersuchung angeordnet werden.

(Leitsätze der Redaaktion)

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Reisefähigkeit, psychische Erkrankung, Attest, Suizidgefahr, Abschiebungshindernis,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2c S. 1, AufenthG § 60a Abs. 2c S. 2, AufenthG § 60a Abs. 2c, AufenthG § 60a Abs. 2c S. 3,
Auszüge:

[...]

Nach § 60a Abs. 2c Satz 1, 2 AufenthG wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, wenn nicht der Ausländer eine im Rahmen der Abschiebung beachtliche Erkrankung durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft macht. Diese ärztliche Bescheinigung soll nach Satz 3 der Norm insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Insofern hat der Gesetzgeber im Wesentlichen die obergerichtliche Rechtsprechung (vgl. u.a. BVerwG, Urteile vom 11.09.2007 - 10 C 8.07 -, BVerwGE 129, 251, und vom 11.09.2007 - 10 C 17.07 -, beide juris) nachvollzogen. Umfang und Genauigkeit der erforderlichen Darlegungen in den vorgelegten ärztlichen Attesten richten sich jeweils nach den Umständen des Einzelfalls (insbesondere: Komplexität des Krankheitsbildes, Gewichtigkeit und Konsequenzen der Diagnose; vgl. im Einzelnen VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10.07.2003, a.a.O.).

Der Antragsteller hat die von ihm geltend gemachte Erkrankung, welche die Abschiebung beeinträchtigen soll, nicht durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Sinne von § 60a Abs. 2c AufenthG belegt und damit die gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit nicht widerlegt. Eine ärztliche Bescheinigung ist grundsätzlich nur dann als qualifiziert anzusehen, wenn die in § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG genannten Merkmale und Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 18/7538, S. 19). Die von dem Antragsteller vorgelegten fachärztlichen Atteste des Psychiatrischen Zentrums … vom … 2015, … 2016, … 2016, … 2017, … 2017 entsprechen nicht den Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG. In diesen sind keine hinreichend konkreten Aussagen zu den Folgen enthalten, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation bei einer Abschiebung voraussichtlich ergeben, und auch nicht dazu, ob bzw. durch welche Vorkehrungen die Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Antragstellers abgewendet oder gemindert werden kann.

Ist eine die Abschiebung beeinträchtigende Erkrankung nicht durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft gemacht und die gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit damit nicht widerlegt, kommt zwar eine Aussetzung der Abschiebung in der Regel nicht in Betracht. Eine Ermittlungspflicht der Ausländerbehörde besteht in diesem Fall grundsätzlich nicht. Etwas anderes gilt aber dann, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Ausländer an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung leidet, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Dies folgt aus § 60a Abs. 2d Satz 2 AufenthG. Danach darf die zuständige Behörde das Vorbringen des Ausländers zu seiner Erkrankung nicht berücksichtigen, wenn der Ausländer die Pflicht zur unverzüglichen Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung nach § 60a Abs. 2c AufenthG verletzt, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Einholung einer solchen Bescheinigung gehindert oder es liegen anderweitige tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, vor. Ist Letzteres der Fall, ist die Ausländerbehörde nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, diese Anhaltspunkte zu berücksichtigen und in Anwendung des § 24 LVwVfG eine (erneute) ärztliche Untersuchung anzuordnen, die hinreichenden Aufschluss darüber gibt, ob der Ausländer an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung leidet und diese sich im Fall einer Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Eine solche Auslegung ist wegen des in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verankerten Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit verfassungsrechtlich geboten. Nur wenn der Ausländer einer Anordnung zur Durchführung einer ärztlichen Untersuchung ohne zureichenden Grund nicht Folge leistet, ist die Behörde entsprechend § 60a Abs. 2d Satz 3 AufenthG berechtigt, die vorgetragene Erkrankung nicht zu berücksichtigen (OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21.06.2016 - 2 M 16/16 -, juris; vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 01.06.2017 - 11 S 658/17 -, juris, mit Verweis auf Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG § 60a RdNr. 117.9). [...]

Aufgrund der damit möglicherweise bestehenden Reiseunfähigkeit des Antragstellers kann über das Vorliegen des geltend gemachten Duldungsanspruchs ohne ergänzende ärztliche Stellungnahme zu den aufgeworfenen Fragen oder Begutachtung des Antragstellers - etwa durch einen insoweit qualifizierten Amtsarzt - nicht entschieden werden, ob aufgrund einer Abschiebung die Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Antragstellers wesentlich verschlechtert, und mit welchen konkreten Vorkehrungen eine solche Gefahr abgewendet oder gemindert werden kann. Der Antragsgegner darf den Antragsteller deshalb nur dann nach Mazedonien abschieben, wenn ein zuvor eingeholtes ergänzendes ärztliches Gutachten die Reisefähigkeit des Antragstellers bescheinigt bzw. im Falle einer eingeschränkten Reisefähigkeit genaue Vorgaben macht, welche Vorkehrungen zu treffen sind.  [...]