OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 08.12.2017 - 18 A 1125/16 - asyl.net: M26155
https://www.asyl.net/rsdb/M26155
Leitsatz:

Ausnahmsweise keine Haftung aus Verpflichtungserklärung in Rheinland-Pfalz:

1. Für eine 2013 abgegebene Verpflichtungserklärung gilt die Übergangsvorschrift von § 68a S. 1 AufenthG, wonach die Verpflichtungsgebenden für drei Jahre ab der ermöglichten Einreise haften.

2. Die Verpflichtung wurde nicht dadurch beendet, dass den Begünstigten vor Ablauf der drei Jahre die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde. Die neue Fassung des § 68 Abs. 1 S. 4 AufenthG ist auf Verpflichtungserklärungen, die vor dem 6.8.2016 abgegeben wurden, zwar nicht anwendbar. Allerdings erlischt die zur Ermöglichung einer Einreise als Bürgerkriegsflüchtling nach § 23 Abs. 1 AufenthG abgegebene Verpflichtungserklärung nicht durch nachfolgende Flüchtlingsanerkennung der Begünstigten und Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG, denn beiden Aufenthaltserlaubnissen liegt derselbe Aufenthaltszweck zugrunde (sich anschließend an BVerwG, Urteil vom 26.01.2017 - 1 C 10.16 - asyl.net: M24833, Asylmagazin 5/2017; ausdrücklich entgegen VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.07.2017 - 11 S 2338/16 - asyl.net: M25280).

3. Im Regelfall sind Verpflichtungsgebende zur Erstattung heranzuziehen. Hier ist jedoch ein Ausnahmefall gegeben, denn nach den Anwendungshinweisen zur hier einschlägigen Aufnahmeanordnung des Landes Rheinland-Pfalz wurde die Dauer der Verpflichtung auf den Zeitraum der Aufnahme nach § 23 Abs. 1 AufenthG beschränkt, und die Landesregierung ging davon aus, dass sich die Haftung nicht auf die Zeit nach der Flüchtlingsanerkennung erstreckt. Da ein Ausnahmefall vorliegt, ist eine Ermessensentscheidung geboten. Diese wurde vom Jobcenter nicht getroffen, daher ist der Leistungsbescheid aufzuheben.

(Leitsätze der Redaktion; Nichtzulassungsbeschwerde wurde vom BVerwG zurückgewiesen: Beschluss vom 18.04.2018 - 1 B 6.18 - asyl.net: M26293; während des anhängigen Verfahrens vor dem BVerwG galt der Erlass des BMAS vom 16.03.2018, asyl.net: M26241)

Schlagwörter: Verpflichtungserklärung, Syrien, Flüchtlingsanerkennung, Aufnahmeanordnung, Rheinland-Pfalz, Übergangsregelung, Wechsel des Aufenthaltszwecks, Flüchtlingsanerkennung, Ausnahme, Ausnahmefall, Ermessen, Leistungsbescheid, Haftung,
Normen: AufenthG § 68, AufenthG § 23 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 1, AufenthG § 68a S. 1, AufenthG § 68 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 68 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 68 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 68 Abs. 1 S. 4, BGB § 305c Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Die Berufung hat Erfolg.

Der Bescheid des Beklagten vom 28. Mai 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juli 2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es fehlt jedenfalls an der wegen Vorliegens eines atypischen Falls gebotenen Ermessensausübung. Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Leistungsbescheids bestimmt sich nach der im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage. Maßgeblich ist daher das zu jener Zeit geltende Aufenthaltsgesetz, soweit nicht späteren Änderungen zulässigerweise Rückwirkung auf den maßgeblichen Zeitpunkt zukommt. Letzteres ist hier nach Maßgabe der zum 6. August 2016 in Kraft getretenen Übergangsvorschrift des § 68a Satz 1 AufenthG in der Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939 - AufenthG n.F.) der Fall. Danach beruht die Erstattungsforderung des Beklagten auf § 68 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 i.V.m. § 68a Satz 1 AufenthG n.F. [...] § 68a Satz 1 AufenthG n.F: erstreckt die Anwendbarkeit von § 68 Abs. 1 Satz 1 bis 3 AufenthG n.F. rückwirkend auf vor dem 6. August 2016 abgegebene Verpflichtungserklärungen, jedoch mit der Maßgabe, dass an die Stelle des - mit der durch die Verpflichtungserklärung ermöglichten Einreise beginnenden (§ 68 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F.) - Zeitraums von fünf Jahren ein Zeitraum von drei Jahren tritt.

Die damit begründete Haftung aus den Verpflichtungserklärungen dauerte in dem hier in Rede stehenden Leistungszeitraum weiterhin an. Die gesetzliche Höchstdauer von - in Übergangsfällen - drei Jahren ist vorliegend nicht erreicht. Die Verpflichtung wurde auch nicht dadurch beendet, dass den Begünstigten vor dem einschlägigen Leistungszeitraum die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt und ihre Asylberechtigung anerkannt worden ist und sie entsprechende Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Abs. 1 AufenthG erhalten haben.

Dies ergibt sich zwar nicht schon aus § 68 Abs. 1 Satz 4 AufenthG n.F., der seit August 2016 ein Erlöschen der Verpflichtungserklärung in diesen Fällen ausdrücklich ausschließt. [...] Diese Vorschrift ist auf die hier zu beurteilenden, vor dem 6. August 2016 abgegebenen Verpflichtungserklärungen indes noch nicht anwendbar. Sie ist von § 68a AufenthG n.F., der den zeitlichen Anwendungsbereich des § 68 Abs. 1 Satz 1 bis 3 AufenthG n.F. (mit Modifikationen) auf derartige Altfälle erstreckt, nicht erfasst (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 - 1 C 10.16 -, juris Rn. 17 ff.).

Die Verpflichtung zur Kostenerstattung ist auch ohne Berücksichtigung von § 68 Abs. 1 Satz 4 AufenthG n.F. durch die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 1 AufenthG nicht erloschen. Völker- und unionsrechtliche Regelungen stehen der Fortdauer der Haftung ebenfalls nicht entgegen.

Die vom Kläger abgegebenen Verpflichtungserklärungen gelten nach dem verwendeten Formulartext "bis zur Beendigung des Aufenthalts" des Ausländers oder - darauf kommt es hier entscheidend an - "bis zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Aufenthaltszweck". [...]

Die ... Auslegung der Verpflichtungserklärungen durch den Senat führt ... zu dem Ergebnis, dass die Haftung durch die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 2 AufenthG nach Anerkennung der Verwandten des Verpflichtungsgebers als Flüchtlinge nicht beendet worden ist. Dieser Aufenthaltserlaubnis lag kein "anderer Aufenthaltszweck" zugrunde als der durch die Verpflichtungserklärungen ermöglichten Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG; denn beide Aufenthaltserlaubnisse sind aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen im Sinne des Kapitels 2, Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes erteilt worden. […]

Diesen Ausführungen schließt sich der Senat für die hier vorliegende Fallkonstellation an. Nicht zu folgen ist dagegen der vom zitierten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts abweichenden Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Urteil vom 12. Juli 2017 -11 S 2338/16 -, juris), wonach die in dem bundeseinheitlichen Formular vorgegebene Begrenzung der Verpflichtungserklärung durch die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Aufenthaltszweck in Bezug auf die Titel nach dem 5. Abschnitt aus der maßgeblichen Sicht des Verpflichtungsgebers mehrdeutig sein und diese Unklarheit in entsprechender Anwendung des § 305c Abs. 2 BGB zu Lasten des Verwenders gehen soll. Ungeachtet der Frage nach der Richtigkeit des rechtlichen Ansatzes des Verwaltungsgerichtshofs ist jedenfalls zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung zu § 305c Abs. 2 BGB ein in dessen Sinne nicht behebbarer Auslegungszweifel nur dann vorliegt, wenn nach Ausschöpfung der Auslegungsmethoden mindestens zwei Auslegungsergebnisse vertretbar sind und keines den klaren Vorzug verdient. […] Davon ausgehend ist festzustellen, dass das vom Bundesverwaltungsgericht gefundene Auslegungsergebnis - wenn nicht allein vertretbar - gegenüber dem vom Verwaltungsgerichtshof dargestellten abweichenden Verständnis jedenfalls den klaren Vorzug verdient. Dabei ist unerheblich, dass das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts erst nach Abgabe der Verpflichtungserklärung ergangen ist. Denn die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehen sich auf die Auslegung des in der Verpflichtungserklärung enthaltenen Begriffs des anderen Aufenthaltszwecks und bringen zum Ausdruck, wie dieser Begriff auch schon bei Abgabe der Verpflichtungserklärung zu verstehen war.

Die angegriffene Verfügung in der Gestalt des zugehörigen Widerspruchsbescheides ist aber rechtswidrig, weil der Kläger für die in Rede stehenden Beträge nach den abgegebenen Verpflichtungserklärungen zwar haftet, es insoweit aber an der wegen Vorliegens eines atypischen Falls gebotenen Ermessensausübung fehlt.

Der aus einer Erklärung nach § 68 AufenthG Verpflichtete ist im Regelfall zur Erstattung heranzuziehen. Ein Regelfall liegt vor, wenn die Voraussetzungen der Aufenthaltsgenehmigung einschließlich der finanziellen Belastbarkeit des Verpflichteten im Verwaltungsverfahren geprüft worden sind und nichts dafür spricht, dass die Heranziehung zu einer unzumutbaren Belastung führen könnte. Hingegen hat die erstattungsberechtigte Stelle bei atypischen Gegebenheiten im Wege des Ermessens zu entscheiden, in welchem Umfang der Anspruch geltend gemacht wird und welche Zahlungserleichterungen dem Verpflichteten ggf. eingeräumt werden. [...]

Von den vorstehenden Grundsätzen ausgehend ist hier ein Ausnahmefall gegeben. Nach der maßgeblichen Aufnahmeanordnung des Ministeriums für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen des Landes Rheinland-Pfalz vom 30. August 2013 und den zugehörigen Anwendungshinweisen vom 11. Oktober 2013 (Az.: 19 335-5:725*) war der jeweilige Verpflichtungsgeber gegen Unterschrift ausführlich über die mögliche Dauer der eingegangenen Verpflichtung zu belehren. In diesem Zusammenhang wurde die mögliche Dauer der Verpflichtung nach den Anwendungshinweisen durch den Zeitraum der Aufnahme nach § 23 Abs. 1 AufenthG bestimmt. Die Verpflichtung sollte sich danach nicht auf den Zeitraum nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Anerkennung der Asylberechtigung erstrecken. [...]

Dementsprechend hat der zuständige Referatsleiter im Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen des Landes Rheinland-Pfalz bestätigt, dass das Ministerium davon ausgegangen sei, die Haftung aus der Verpflichtungserklärung erstrecke sich jedenfalls nicht auf Zeiträume nach der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Dies zu Grunde gelegt ist der Aufnahmeanordnung in Verbindung mit den zugehörigen Anwendungshinweisen eine Begrenzung der Haftung zu entnehmen, über deren Reichweite der Verpflichtungsgeber zudem noch belehrt werden sollte. Dieser Belehrung sollte ersichtlich eine Warnfunktion gegenüber dem potentiellen Verpflichtungsgeber zukommen, um ihm u.a. die mögliche Haftungsdauer und die damit verbundenen insbesondere finanziellen Risiken vor Augen zu führen. Diesem Zweck entsprechend sollte durch die Konkretisierung der möglichen Haftungsdauer im Sinne der Angabe "Zeitraum der Aufnahme nach § 23 Abs. 1 AufenthG" nicht etwa eine für den Verpflichtungsgeber noch relativ günstige Haftungsdauer beschrieben werden, sondern ihm vielmehr die Möglichkeit einer durchaus langen Haftungsdauer verdeutlicht werden. Dies konnte und kann nur so verstanden werden, dass eine Haftung auch nach Asylanerkennung oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in der Aufnahmeanordnung nicht vorgesehen war. Das damit verbundene zeitliche Haftungsrisiko wäre nämlich deutlich über das hinausgegangen, das mit einer Haftung (lediglich) für den Zeitraum der Aufnahme nach § 23 Abs. 1 AufenthG verbunden war und hätte hinsichtlich der Haftungsdauer in Konsequenz der ohnehin vorgeschriebenen Belehrung einen dementsprechenden Hinweis nahegelegt.

Demnach ist festzustellen, dass die Haftung aus den vom Kläger abgegebenen Verpflichtungserklärungen über die Haftung hinausging, die nach den erkennbaren Vorstellungen des Ministeriums für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen des Landes Rheinland-Pfalz in der der Abgabe der Verpflichtungserklärung zugrundeliegenden Aufnahmeanordnung gewollt war. Dies begründet einen Ausnahmefall im Sinne der vorzitierten Rechtsprechung. Dies gilt zumal deshalb, weil der objektive Inhalt der abgegebenen Verpflichtungserklärungen im vorliegenden Fall hinsichtlich der Haftungsdauer die vom Anordnungsgeber angesichts des auch öffentlichen Interesses an der Aufnahme syrischer Flüchtlingen für angemessen gehaltene Lastenverteilung zwischen Verpflichtungsgebern und der öffentlichen Hand verfehlt hat (vgl. das Senatsurteil vom heutigen Tage in dem Verfahren 18 A 1197/16 im Falle einer Abweichung des Haftungsumfangs der abgegebenen Verpflichtungserklärung von dem nach der einschlägigen Aufnahmeanordnung des MIK NRW vom 26. September 2013 vorgesehenen Umfang).

Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall hinsichtlich der nach der einschlägigen Aufnahmeanordnung vorgesehenen Haftungsdauer signifikant von dem, den der Senat mit Urteil vom heutigen Tage in dem Verfahren 18 A 1197/16 entschieden hat. In jenem Verfahren hat der Senat ausgeführt, dass sich der dort einschlägigen Aufnahmeanordnung des MIK NRW vom 26. September 2013 kein hinreichender Anhalt für die Annahme entnehmen lässt, die Haftung des Verpflichtungsgebers habe sich nicht auf Zeiträume nach der Asylanerkennung oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beziehen sollen.

Die wegen Vorliegens eines Ausnahmefalls gebotene Ermessensentscheidung hat das beklagte Jobcenter nicht getroffen. [...] Liegt damit hinsichtlich der in Rede stehenden Kosten ein Ausnahmefall vor, so ist der Leistungsbescheid wegen Fehlens der gebotenen Ermessensentscheidung aufzuheben. Dabei sei klargestellt, dass der Beklagte bei Ermessenserwägungen hinsichtlich einer etwaigen Heranziehung für die in Rede stehenden Kosten von der in der Aufnahmeanordnung vorgesehenen Lastenverteilung auszugehen hat, die insoweit i.d.R. einen Rückgriff gegenüber dem Verpflichtungsgeber ausschließt. Dieser dürfte nur ausnahmsweise in Betracht kommen, etwa in Fällen besonders guter Einkommens- oder Vermögensverhältnisse oder bei relativ geringen Forderungen.

Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, dass eine Heranziehung wegen der nach der Asylanerkennung oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entstandenen Kosten nicht in jedem Falle von vornherein ausscheidet, weil diese schon unverhältnismäßig wäre. Insbesondere führt eine für den Verpflichtungsgeber nachteilige Abweichung der abgegebenen Verpflichtungserklärung von deren nach den jeweils einschlägigen Aufnahmeanordnungen vorgesehenem Inhalt als solche noch nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Heranziehung. Dies folgt schon daraus, dass die Lastenverteilung hinsichtlich der Kostentragung zwischen Verpflichtungsgeber und öffentlicher Hand in den Aufnahmeanordnungen der einzelnen Bundesländer jeweils unterschiedlich geregelt ist und die Verhältnismäßigkeit der Heranziehung nicht davon abhängen kann, welche Aufnahmeanordnung der abgegebenen Verpflichtungserklärung zu Grunde liegt. [...]