OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 07.02.2018 - 5 A 1246/17.A - asyl.net: M26096
https://www.asyl.net/rsdb/M26096
Leitsatz:

[Keine Reflexverfolgung von Familienangehörigen von syrischen Wehrdienstentziehern:]

Kehren syrische Asylbewerberinnen und ihre minderjährigen Kinder, bei Jungen jedenfalls solange sie nicht über zwölf Jahre alt sind, gemeinsam mit ihrem Ehemann bzw. Vater nach Syrien zurück, so droht ihnen derzeit weder aufgrund eines Wehrdienstentzugs des Ehemannes bzw. Vaters noch aufgrund ihrer Herkunft aus einem (ehemaligen) Oppositionsgebiet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrelevante Verfolgung. Ihnen steht nur subsidiärer Schutz zu und erst nach unanfechtbarer Flüchtlingsanerkennung des Ehemannes bzw. Vaters ggf. auch Flüchtlingsschutz für Familienangehörige nach § 26 AsylG.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Syrien, Familienangehörige, Sippenhaft, illegale Ausreise, Militärdienst, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, politische Verfolgung, minderjährig, Berufung, Reflexverfolgung, Verfolgungsgrund, Upgrade-Klage, Sippenhaft,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 3b, AsylG § 3c, AsylG § 26, AsylG § 28 Abs. 1a, AsylG § 4,
Auszüge:

[...]

B. Die Kläger zu 2 bis 7 erfüllen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft danach jedoch nicht, so dass ihnen von der Beklagten nur die Flüchtlingseigenschaft als Familienangehörige gemäß § 26 AsylG - in einem Folgeverfahren (vgl. BVerwG, Urt. v. 17. Dezember 2002 - 1 C 10.02 -, juris Rn. 6 ff.) - zuerkannt werden kann, sobald die Flüchtlingsanerkennung des Klägers zu 1 unanfechtbar ist (vgl. § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 5 AsylG). Einer Aussetzung des Verfahrens der Kläger zu 2 bis 7 bis dahin bedarf es jedenfalls hier wegen des ihnen bereits zustehenden subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG nicht.

Eine Verpflichtung der Beklagten, Familienangehörige schon vorher - aufschiebend bedingt durch die Unanfechtbarkeit der Anerkennung des Stammberechtigten (§ 36 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 2 Nr. 2 VwVfG) - als Flüchtlinge gemäß § 26 AsylG anzuerkennen, kommt nicht in Betracht (a. A. VG Stuttgart, Urt. v. 22. September 2017 - A 1 K 7628/16 -, juris Rn. 59; VG München, Urt. v. 22. April 2016 - M 16 K 14.30987 -, juris Rn. 40; VG Schwerin, Urt. v. 20. November 2015 - 15 A 1524/13 As -, juris Rn. 54; VG Freiburg [Breisgau], Urt. v. 19. April 2006 - A 1 K 11298/05 -, juris Rn. 10). Abgesehen davon, dass die Beklagte über eine solche Bedingung nach pflichtgemäßem Ermessen entscheidet, könnte sie die Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung nach § 26 AsylG nicht sicherstellen. Denn erst bei Unanfechtbarkeit der Flüchtlingsanerkennung des Stammberechtigten ist zu prüfen, ob dann die übrigen Voraussetzungen des § 26 AsylG bei den Familienangehörigen (noch) vorliegen, etwa keine Ausschlussgründe nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AsylG. Deshalb scheidet auch eine durch die Unanfechtbarkeit der Anerkennung des Stammberechtigten bedingte - gerichtliche - Verpflichtung der Beklagten zur Flüchtlingsanerkennung nach § 26 AsylG aus (a. A. VG Chemnitz, Urt. v. 13. Juli 2017 - 6 K 1460/16.A -, n. v.; VG Schl-H, Urt. v. 4. Dezember 2015 - 8 A 212/13 -, juris Rn. 35; VG Saarland, Urt. v. 22. Januar 2015 - 3 K 820/14 -, juris Rn. 26; VG Augsburg, Urt. v. 11. November 2014 - Au 2 K 14.30395 -, juris Rn. 40). Zugleich mit dem Stammberechtigten kann über Familienasyl nach § 26 AsylG nur das Bundesverwaltungsgericht entscheiden (BVerwG, Urt. v. 5. Mai 2009 - 10 C 21.08 -, juris Rn. 29).

Die Kläger zu 2 bis 7 mögen zwar vorverfolgt durch den IS als nichtstaatlichem Akteur (§ 3c Nr. 3, § 3d AsylG) aus ihrem Heimatort ... geflohen sein. Abgesehen davon, dass das syrische Regime ... inzwischen zurückerobert hat (Berichte v. Zeit Online v. ...), kommt es darauf jedoch nicht an, da - wie beim Kläger zu 1 - eine hypothetische Abschiebung ernsthaft nur über eine Flugverbindung zu den internationalen Flughäfen in Damaskus und Latakia denkbar ist, die das syrische Regime kontrolliert (SFH v. 21. März 2017, a.a.O.). Als Verfolgungsakteur i.S.v. § 3c AsylG kommt daher auch bei den Klägern zu 2 bis 7 allein der syrische Staat in Betracht, der die Kläger zu 2 bis 7 im Falle der hypothetischen Rückführung nach Syrien zur Überzeugung des Senats jedoch nicht anknüpfend an einen Verfolgungsgrund gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 AsylG verfolgen würde. Jedenfalls im Herrschaftsbereich des syrischen Staates, in den die Rückkehr erfolgen würde, sind die Kläger zu 2 bis 7 daher vor flüchtlingsrelevanter Verfolgung hinreichend sicher (§ 3e AsylG), so dass ihnen insoweit nur subsidiärer Schutz gemäß § 4 AsylG vor der dort drohenden willkürlichen Gewalt durch den syrischen Staat zusteht.

1. Allein wegen ihrer illegalen Ausreise aus Syrien und der Asylantragstellung sowie des Aufenthalts in Deutschland droht den Klägern zu 2 bis 7 aus den gleichen Gründen wie dem Kläger zu 1 keine flüchtlingsrelevante Verfolgung durch den syrischen Staat (vgl. oben unter A.II.1.). Ebenso wenig sind sie als Frauen und Kinder im Herrschaftsbereich des syrischen Staates wehrpflichtig [vgl. oben unter A.II.2.a)].

2. Den Klägern zu 2 bis 7 droht auch nicht, abgeleitet vom Kläger zu 1, der wegen Wehrdienstentzugs politische Verfolgung durch den syrischen Staat zu befürchten hat, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Reflexverfolgung. Dass sie begründet befürchten müssen, bei einer Rückkehr nach Syrien die dem Kläger zu 1 wahrscheinlich zugeschriebene regimefeindliche Gesinnung auch selbst zugerechnet zu bekommen und/oder deshalb als ein Druckmittel gegen ihn benutzt zu werden, ist nach den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht beachtlich wahrscheinlich.

Nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes (Auskunft v. 2. Januar 2017 an das VG Dresden zum Az. 4 K 689/16.A) werden Familienangehörige von in Deutschland anerkannten Flüchtlingen nicht allein wegen deren Flüchtlingsanerkennung als Oppositionelle angesehen. Zwar war und ist in Syrien die sog. Sippenhaft, d.h. die Reflexverfolgung von Familienangehörigen, insbesondere von Frauen und Kindern, ein vertrautes politisches Instrument, das seit Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 zusätzlich an Gewicht gewonnen hat (u. a. SFH, Syrien: Reflexverfolgung, 10. September 2015; Deutsches Orient-Institut an HessVGH v. 1. Februar 2017). Die tatsächlich oder vermeintlich oppositionellen Ansichten einer Person werden häufig auch Personen in ihrem Umfeld, wie Familienmitgliedern, Nachbarn und Kollegen zugeschrieben. Davon sind gezielt insbesondere Familienmitglieder von Wehrdienstentziehern betroffen, die willkürlich verhaftet, in Isolationshaft genommen, gefoltert und in sonstiger Weise misshandelt oder sogar hingerichtet werden. Allerdings geschieht dies nach den vorliegenden Erkenntnismitteln, um Druck auf Männer im wehrfähigen Alter auszuüben, in den Militärdienst zu treten, oder zur Vergeltung ihrer Aktivitäten bzw. des Loyalitätsbruchs der gesuchten Person oder um Informationen über ihren Aufenthaltsort zu erhalten oder um sie dazu zu bewegen, sich zu stellen bzw. gegen sie erhobene Anschuldigungen anzuerkennen (vgl. UNHCR April 2017, Auskunft an den HessVGH v. 30. Mai 2017 und v. November 2015, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus Syrien fliehen, 4. Fassung; SFH v. 23. März 2017 und 10. September 2015, jeweils a. a. O.; ähnlich: Petra Becker, Auskunft an das VG Dresden v. 2. Januar 2017 zum Az. 4 K 689/16.A). Demgemäß spricht auch das Auswärtige Amt (Auskunft v. 13. September 2017 an das VG Köln) davon, dass aufgrund der in Syrien vom Regime praktizierten Sippenhaft negative Konsequenzen für in Syrien verbliebene Familienangehörige von

Wehrdienstentziehern nicht ausgeschlossen sind.

Diese Form der Reflexverfolgung Familienangehöriger beruht somit vor allem darauf, dass das syrische Regime der Männer, die sich dem Wehrdienst entzogen haben und daher - wie ausgeführt - als Regimegegner angesehen werden, nicht habhaft werden konnte und nunmehr stattdessen auf die Familienangehörigen zugreift, um sie als Druckmittel gegen den Wehrdienstentzieher einzusetzen oder ihn dadurch für sein regimefeindliches Handeln zu bestrafen. Den Erkenntnismitteln ist hingegen nicht zu entnehmen, dass insbesondere den Frauen und Kindern selbst eine regimefeindliche Gesinnung unterstellt wird. Sie werden vielmehr bei Würdigung der vorliegenden Erkenntnismittel zur Überzeugung des Senats menschenrechtswidrig als Mittel benutzt, um den Mann in seiner Abwesenheit zu erpressen und für sein Handeln zu bestrafen. Eine solche Konstellation liegt aber bei einer - ohnehin hypothetisch - allein ernsthaft in Betracht zu ziehenden gemeinsamen Rückführung der gesamten Familie einschließlich des Klägers zu 1 nach Syrien nicht vor, weil die syrischen Sicherheitskräfte dann bei der Einreisekontrolle des Mannes bereits habhaft wären, so dass sie auf ihn selbst zugreifen könnten. Seiner Familie droht daher zwar ebenso wie allen anderen syrischen Rückkehrern bei den strengen Einreisekontrollen eine wahllos-routinemäßige Befragung mit willkürlicher Folter und Misshandlung, weshalb ihnen auch subsidiärer Schutz nach § 4 AsylG zusteht. Es gibt in den vorliegenden Erkenntnismitteln jedoch keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass diese Verfolgungshandlungen dann an eine den Frauen und Kindern selbst oder ihnen abgeleitet vom Mann zugeschriebene oppositionelle Gesinnung oder einen anderen Verfolgungsgrund anknüpfen würden.

Nichts anderes gilt, soweit nach den vorhandenen Erkenntnismitteln die sich verstärkende Besonderheit des Konflikts hinzutritt, dass u.a. die Regierungsstreitkräfte oftmals größere Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganze Städte, Dörfer und Wohngebiete als regierungsfeindlich betrachten und durch Bodenoffensiven, Belagerungen, Hausdurchsuchungen und an Kontrollstellen durch Inhaftierung, Folter, sexuelle Gewalt, extralegale Hinrichtungen sowie in belagerten Gebieten durch das Abschneiden von der Grundversorgung, ausgedehnten Artilleriebeschuss, Bombardierungen usw. ins Visier nehmen, um so die breite Unterstützung der bewaffneten Opposition auszuhöhlen, die Zivilbevölkerung in diesen Gebieten zu bestrafen und zur Aufgabe zu zwingen (UNHCR April 2017 und v. November 2015, a.a.O.). Von dieser Form der in Syrien ebenfalls verbreitet praktizierten Sippenhaft können die Kläger zu 2 bis 7 bei ihrer hypothetischen Rückführung nicht betroffen sein, da sie aus dem Ausland in den Herrschaftsbereich des syrischen Staates zurückkehren würden und nicht aus einem der Oppositionsgebiete.

3. Schließlich drohen jedenfalls den Klägern zu 2 bis 7 nicht deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei ihrer Rückkehr nach Syrien Verfolgungshandlungen in Anknüpfung an einen flüchtlingsrelevanten Verfolgungsgrund, weil die Familie aus einem (ehemaligen) Oppositionsgebiet, dem vom IS beherrschten ..., stammt. Ob dies auch für den Kläger zu 1 gelten würde, bedarf hier keiner Entscheidung, da ihm aus anderen Gründen (oben unter A.) die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist.

Insofern gilt für Frau und Kinder des Klägers zu 1 nichts anderes als im Hinblick auf die Reflexverfolgung. Soweit nach den vorliegenden Erkenntnismitteln das syrische Regime - wie bereits beschrieben - ganze Regionen, Städte, Dörfer und Wohngebiete als regierungsfeindlich betrachtet und wahllos gegen die Zivilbevölkerung in diesen der Opposition zugeschriebenen Gebieten vorgeht bzw. an den Kontrollstellen Personen aus diesen Gebieten inhaftiert, foltert oder sogar hinrichtet, trifft das auf die Kläger zu 2 bis 7 bei ihrer hypothetischen Rückführung nicht zu, da sie aus dem Ausland in den Herrschaftsbereich des syrischen Staates zurückkehren würden und nicht aus diesen Gebieten. [...]