OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 07.02.2018 - 5 A 1237/17.A - asyl.net: M26094
https://www.asyl.net/rsdb/M26094
Leitsatz:

[Keine Verfolgung von Minderjährigen in Syrien wegen Wehrdienstentziehung bei früher Ausreise:]

Einem männlichen Flüchtling aus Syrien, der im Alter von zwölf Jahren ausgereist ist und im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung das wehrpflichtige Alter von 18 Jahren noch nicht erreicht hat, droht im Fall einer Rückkehr keine staatliche Verfolgung, die an ein asylrelevantes Merkmal nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG anknüpft. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass ihm eine regimefeindliche Gesinnung zugeschrieben würde, da es an einem Wehrdienstentzug sowie an einem zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang zwischen der Ausreise und dem Auslandsaufenthalt einerseits und der Wehrfähigkeit und Wehrpflichtigkeit andererseits fehlt. Ebenso ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem minderjährigen Flüchtling aufgrund seiner Herkunft aus einem Oppositionsgebiet eine regimefeindliche Gesinnung zugeschrieben würde.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Syrien, Wehrdienstentziehung, Militärdienst, minderjährig, illegale Ausreise, Flüchtlingseigenschaft, politische Verfolgung, Berufung, Auslandsaufenthalt, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG 3 Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

2. Die Furcht vor flüchtlingsrelevanter Verfolgung wird zur Überzeugung des Senats nicht dadurch begründet, dass der Kläger infolge seiner Flucht und des Aufenthalt im Ausland bislang nicht zum Wehrdienst herangezogen worden ist.

a) Der Kläger hat sich der Wehrpflicht bislang nicht entzogen, weil er erst 16 Jahre alt ist und das wehrfähige Alter noch nicht erreicht hat. [...]

b) Zwar ist nicht auszuschließen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien trotz seines Alters zum Wehrdienst herangezogen oder Repressalien des Militärs oder der Sicherheitskräfte ausgesetzt würde. Derartige staatliche Maßnahmen würden im Fall des Klägers jedoch nach ihrer objektiven Gerichtetheit nicht an den in § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG genannten Verfolgungsgrund einer - ihm vom syrischen Staat gemäß § 3b Abs. 2 AsylG zugeschriebenen - politischen Überzeugung anknüpfen. Es wäre nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass dem Kläger eine regimefeindliche Gesinnung unterstellt würde.

Von Aktivisten wird über Zwangsrekrutierungen Minderjähriger in die syrische Armee berichtet. Zunehmend geraten noch nicht 18 Jahre alte Jugendliche vornehmlich an den zahlreichen im ganzen Land verstreuten Checkpoints in den Blick der Sicherheitskräfte und des Militärs und laufen Gefahr, Repressalien ausgesetzt zu werden (Auskunft der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 23. März 2017, S. 5; Ergänzende aktuelle Länderinformation des UNHCR vom 30. November 2016, S. 4 ff.).

Zwar wird jeder Wehrpflichtige, der in dem in Syrien herrschenden Bürgerkrieg das Regime durch Wehrdienstentzug zugunsten der - auch militärischen - Opposition schwächt, als Verräter oder Oppositioneller angesehen; dementsprechend ist er häufiger und verschärfter Verfolgungshandlungen ausgesetzt. So führt der UNHCR im Bericht von April 2017 nach Auswertung unterschiedlicher Quellen aus, die syrische Regierung betrachte Wehrdienstentziehung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck politischen Dissenses und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen "terroristische" Bedrohungen zu schützen (vgl. SächsOVG, Urt. v. 7. Februar 2018 - 5 A 1234/15 -).

Eine solche Haltung könnte aber nicht dem Kläger zugeschrieben werden, der bereits im Alter von zwölf Jahren - also mehrere Jahre vor Beginn der Wehrfähigkeit - aus Syrien ausgereist ist und sich bislang auch nicht einer Wehrpflicht entziehen konnte. In dieser Konstellation fehlt es zwischen der Ausreise und dem Auslandsaufenthalt einerseits und der Wehrfähigkeit und Wehrpflichtigkeit andererseits an einem zeitlichen und an einem inhaltlichen Zusammenhang. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass eines der Motive des Klägers dafür, Syrien zu verlassen, seine Angst vor einer Rekrutierung durch das Militär gewesen ist. Allein hierdurch hat sich noch nicht eine - gegenwärtig für die Sicherheitsbehörden erkennbare - Einstellung des Klägers manifestiert, die auf eine Ablehnung des Regimes schließen lassen könnte.

c) Hinzu kommt, dass der Kläger möglicherweise auch bei Erreichen der Volljährigkeit nicht der Wehrpflicht unterliegen wird, weil er der einzige Sohn der Familie ist. Einen Aufschub von der Wehrpflicht erhalten Männer, die keine männlichen Geschwister haben und deswegen als alleinige Altersvorsorge der Eltern gelten (UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen, Syrien: Militärdienst, 30. November 2016, S. 3; Gutachten Petra Becker an das Verwaltungsgericht Dresden vom 6. Februar 2017, S. 2). Diese Regelung gilt formal weiter, findet in der Praxis allerdings aufgrund des stark zunehmenden Personalbedarfs nur noch sehr eingeschränkt und zunehmend willkürlich Anwendung (UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen, Syrien: Militärdienst, 30. November 2016, S. 3; SFH, Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als "einziger Sohn", 20. Oktober 2015).

3. Auch würden dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen in Anknüpfung an einen flüchtlingsrelevanten Verfolgungsgrund drohen, weil er und seine Familie aus dem ehemaligen Oppositionsgebiet Afrin stammen.

a) Zwar wird berichtet, dass in den Oppositionsgebieten die Regierungsstreitkräfte oftmals größere Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganze Städte, Dörfer und Wohngebiete als regierungsfeindlich betrachten und durch Bodenoffensiven, Belagerungen, Hausdurchsuchungen und an Kontrollstellen durch Inhaftierung, Folter, sexuelle Gewalt, extralegale Hinrichtungen sowie in belagerten Gebieten durch das Abschneiden von der Grundversorgung, ausgedehnten Artilleriebeschuss, Bombardierungen usw. ins Visier nehmen, um so die breite Unterstützung der bewaffneten Opposition auszuhöhlen, die Zivilbevölkerung in diesen Gebieten zu bestrafen und zur Aufgabe zu zwingen (UNHCR April 2017 und v. November 2015). Von dieser Form der in Syrien verbreitet praktizierten Sippenhaft kann der Kläger bei seiner hypothetischen Rückführung aber nicht betroffen sein, da er aus dem Ausland in den Herrschaftsbereich des syrischen Staates zurückkehren würde und nicht aus einem der Oppositionsgebiete.

b) Ferner wird von Fällen berichtet, in denen männliche Personen aufgrund ihrer Herkunft aus einem Oppositionsgebiet bei einer Rückkehr nach Syrien dem Verdacht einer oppositionellen Haltung ausgesetzt sein können (Auskünfte von Petra Becker an das VG Dresden v. 6. Februar 2017 und Niederschriften über die öffentlichen Verhandlungen des VG Dresden v. 1. März 2017 - 4 K 991/16.A und 4 K 1073/16.A - ). Berichtet wird konkret über einen syrischen Rückkehrer, der im August 2015 aus Australien kommend in Syrien zunächst festgenommen wurde, weil er aus einer Oppositionshochburg stammte, und dann als vermeintlicher Geldgeber der Revolution 20 Tage inhaftiert und gefoltert wurde, da er Rückkehrhilfe-Gelder der australischen Behörden bei sich hatte (SFH v. 21. März 2017, a.a.O.; Immigration and Refugee Board of Canada v. 19. Januar 2016). Demgemäß sprechen weitere Erkenntnismittel dafür, dass das syrische Regime vor allem die wehrfähigen Männer und Jungen im Alter von über zwölf Jahren aus den (ehemals) umkämpften Oppositionsgebieten verfolgt. So wird dargelegt, dass in den Gebieten, in denen die Regierung die Kontrolle wiedererlangt hat, zahlreiche Personen im Rahmen von Rasterfahndungen wegen der ihnen zugeschriebenen Unterstützung oder Sympathie für regierungsfeindliche bewaffnete Gruppen festgenommen werden, insbesondere Männer und Jungen, die älter als zwölf Jahre sind (UNHCR April 2017, S. 20 Fn. 92; SFH, Syrien: Situation in Aleppo, 5. Juli 2017). Einer solchen Rasterfahndung sind Kontrollen bei der Einreise aber nicht gleichzusetzen. Ferner droht dem Kläger schon deshalb nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen seines Herkunftsgebietes Afrin, weil er dieses bereits als Zwölfjähriger verlassen hat und aufgrund seines Alters nicht anzunehmen ist, dass er dort oder im Ausland für die Oppositionskräfte aktiv war. [...]