VG Saarland

Merkliste
Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 09.02.2018 - 6 K 2260/16 - asyl.net: M26075
https://www.asyl.net/rsdb/M26075
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für Künstler aus dem Irak, der vom IS verfolgt wurde:

1. Keine Asylberechtigung gem. Art. 16a Abs. 1 GG wegen zweieinhalbjährigem Aufenthalt in Jordanien mit dortiger Flüchtlingsregistrierung durch UNHCR wegen Sicherheit in sonstigem Drittstaat nach § 27 Abs. 1 AsylG (trotz fehlendem legalen Aufenthaltsstatus in Jordanien).

2. Keine Flüchtlingsanerkennung gem. § 3 AsylG. Keine Gruppenverfolgung von Künstlern im Irak. Keine darüber hinausgehende individuelle Gefährdung, da die Bedrohung bereits Jahre zurückliegt (Seite 8).

3. Flüchtlingsregistrierung durch UNHCR entfaltet im Bundesgebiet keine Bindungswirkung (Seite 9).

4. Gewährung subsidiären Schutzes wegen gefahrerhöhender persönlicher Umstände aufgrund künstlerischer Tätigkeit (Seite 11).

5. Keine inländische Fluchtalternative in der Autonomen Region Kurdistan, da der Betroffene dort aufgrund der schlechten humanitären Bedingungen keine ausreichende Lebensgrundlage vorfinden würde (Seite 12 f.).

(Leitsätze der Redaktion)

 

Schlagwörter: Irak, politische Verfolgung, IS, Islamischer Staat, islamistische Milizen, Musiker, Künstler, Berufsgruppe, interne Fluchtalternative, Drittstaatenregelung, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, willkürliche Gewalt,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4,
Auszüge:

[...]

Zwar ist davon auszugehen, dass es im Irak durchaus radikal islamistische Gruppierungen gibt, die der Kunst und der Musik und damit auch der Tätigkeit des Klägers als Musiker und Filmregisseur generell ablehnend gegenüberstehen. Zumindest in den ersten Jahren nach dem Fall des Baath-Regimes kam es im Zentral- und Südirak auch zu gezielten Bedrohungen, Entführungen oder Ermordungen von Künstlern, Schauspielern und Sängern (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe: Asylsuchende aus Irak, Position der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH, vom 25.06.2007).

Entgegen der von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung vertretenen Auffassung ist aber die Annahme, dass Künstler im Irak von einer Gruppenverfolgung bedroht sind, nicht gerechtfertigt. Eine nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. u.a. Urteile vom 21.04.2009, 10 C 11.08, InfAuslR 2009, 315, und vom 18.07.2006, 1 C 15.05, BVerwGE 126, 243) für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte ist im Irak hinsichtlich künstlerisch tätiger Personen weder landesweit noch regional feststellbar. Hierfür wäre die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssten vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht zu ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entstünde. Davon kann aber nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnisquellen nicht ausgegangen werden. Eine eigene Betroffenheit des Klägers im Sinne einer Gefahr von konkreten, individualisiert auf seine Person gerichteten Verfolgungshandlungen wegen seiner Tätigkeit im Bereich Film und Musik liegt dabei umso ferner, als diese künstlerischen Aktivitäten im Irak inzwischen mehrere Jahre zurückliegen und nichts dafür spricht, dass der Kläger irgendwelchen von ihm nicht näher bezeichneten islamistischen Gruppierungen besonders bekannt gewesen wäre und dass diese zudem von seiner Rückkehr in den Irak Kenntnis erlangen würden.

Auch aus dem von ihm in der mündlichen Verhandlung vorgelegten "Refugee Certificate" des UNHCR vom 05.01.2012 kann der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG nicht ableiten. Die in dieser Bescheinigung enthaltene Registrierung des Klägers als Flüchtling durch den UNHCR entfaltet keine Bindungswirkung für ein im Bundesgebiet betriebenes Asylverfahren. Selbst wenn die Registrierung des Klägers als Flüchtling durch den UNHCR in Syrien als ausländische Flüchtlingsanerkennung anzusehen wäre, ergäbe sich daraus kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26.10.2010, 10 B 28.10, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 43; ferner OVG Lüneburg, Urteil vom 07.12.2005, 11 LB 193/04, m.w.N., InfAuslR 2006, 157). [...]

Ob der Kläger die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 oder Nr. 2 AsyIG beanspruchen kann, kann vorliegend dahinstehen, da jedenfalls zugunsten des Klägers die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG vorliegen.

Dass in Bagdad bzw. der Provinz Bagdad als der Herkunftsregion des Klägers aufgrund der dortigen terroristischen Aktivitäten und gewalttätigen Auseinandersetzungen (vgl. dazu auch Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 07.02.2017, 508-516.8013 IRQ, sowie Länderinformation Irak, Reise- und Sicherheitshinweise, abrufbar unter www.auswaertiges-amt.de, Stand: 11.12.2017) von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt im Verständnis von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG auszugehen ist, hat die Beklagte nicht in Abrede gestellt. Im Gegenteil entspricht dies, wie der Kammer aus anderen Asylverfahren bekannt ist, der derzeitigen Auffassung der Beklagten. Zwar hat der den bestehenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt in Bagdad bzw. der Provinz Bagdad nicht bereits ein so hohes Niveau erreicht, dass die Annahme gerechtfertigt wäre, dass eine Zivilperson bei ihrer Rückkehr in die betreffende Region allein durch ihre dortige Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (ständige Rechtsprechung der Kammer, vgl. u.a. Urteile vom 28.11.2017, 6 K 1037/16, und vom 09.02.2018, 6 K 2662/16, m.w.N., wonach die Wahrscheinlichkeit, in Bagdad bzw. im Großraum Bagdad als Zivilperson infolge einer gewalttätigen Auseinandersetzung oder eines terroristischen Anschlags getötet oder verletzt zu werden, im Jahr 2016 bei 0,15 % bis 0,16 % gelegen und sich im Jahr 2017 auf etwa 0,04 % reduziert habe.

Allerdings liegen in der Person des Klägers besondere Umstände vor, die auf eine größere persönliche Gefährdung schließen lassen als in Bagdad allgemein üblich, und mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer individuellen Gefahr infolge willkürlicher Gewalt führen. [...]

Dass der Kläger aufgrund seiner künstlerischen Aktivitäten und Tätigkeiten in Bagdad einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt wäre, wird dabei nicht nur durch die Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Asylsuchende aus Irak, Position der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH, vom 25.06.2007) belegt, wonach u.a. Intellektuelle, Künstler, Schauspieler sowie Sänger im Zentral- und Südirak spezifisch bedroht seien, sondern zeigt sich auch darin, dass der Kläger nach seinem insgesamt als glaubhaft zu bewertenden Vorbringen bereits einmal von mutmaßlichen Angehörigen der Terrormiliz Islamischer Staat schiitischen Milizen [sic] im Anschluss an eine Veranstaltung angehalten und wegen seiner künstlerischen Aktivitäten mit dem Tode bedroht worden war.

Auf eine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG kann der Kläger nicht verwiesen werden. [...]

Insbesondere kommt die autonome Region Kurdistan-Irak für den Kläger nicht als inländische Fluchtalternative in Betracht. Dabei erscheint bereits fraglich, ob für den von außerhalb dieser Region stammenden Kläger neben der Einreise auch die Niederlassung in der Region Kurdistan-Irak überhaupt möglich wäre (vgl. etwa Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Ansbach vom 12.06.2017, 508-516.80/49354, wonach die Einreise in die Region Kurdistan-Irak für von dort stammende Kurden mit irakischer Staatsangehörigkeit zwar in der Regel unproblematisch möglich sei, es für Iraker anderer Volkszugehörigkeit im Einzelfall jedoch zu Einschränkungen kommen könne).

Selbst wenn dem Kläger eine Einreise in die autonome Region Kurdistan-Irak aber möglich wäre, kann von ihm unter Berücksichtigung der gegenwärtigen humanitären Bedingungen in dieser Region doch vernünftigerweise nicht erwartet werden, sich dort niederzulassen. Es ist nicht davon auszugehen, dass das wirtschaftliche Existenzminimum des Klägers in der autonomen Region Kurdistan-Irak gewährleistet wäre und er dort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinden würde. [...]

Dem entsprechend geht auch das Auswärtige Amt (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 07.02.2017, a.a.O.) ersichtlich davon aus, dass im Irak gegenwärtig Ausweichmöglichkeiten für Personen aus den umkämpften Landesteilen bzw. den derzeit noch von der Terrormiliz Islamischer Staat kontrollierten Gebieten nur ausnahmsweise in Betracht kommen können. Auch Rückkehrer aus dem Ausland, die derzeit nicht in ihre Heimat zurückkehren können, haben nach Ansicht des Auswärtigen Amtes kaum eine Möglichkeit, einen sicheren Aufnahmeplatz im Irak zu finden. Dies entspricht der Auffassung des UNHCR [...]. [...]