VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 16.03.2017 - A 6 K 1541/15 - asyl.net: M25059
https://www.asyl.net/rsdb/M25059
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für politisch aktive kurdische Familie aus der Türkei

Die im Jahr 2012 ausgereisten Kläger können sich aufgrund der veränderten politischen Lage nach dem gescheiterten Putschversuch jedenfalls auf Nachfluchtgründe berufen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Nachfluchtgründe, objektive Nachfluchtgründe, Türkei, Änderung der Sachlage, Kurden, BDP, Barış ve Demokrasi Partisi, HDP, Halkların Demokratik Partisi, PKK, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Vor ihrer Ausreise im Jahre 2012 hielten sich die Kläger daher zur Überzeugung des Gerichts in Istanbul, also im Westen der Türkei, auf. Dort mögen sie im Jahre 2012 noch in Sicherheit gewesen sein, da sich die Übergriffe der türkischen Sicherheitskräfte seinerzeit vornehmlich auf die Kurdengebiete im Osten der Türkei beschränkt hatten. Davon kann indessen derzeit nicht mehr ausgegangen werden. Nach dem Putsch im Sommer 2016 haben sich die Verhältnisse in der Türkei grundlegend geändert.

Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in einem Urteil aus dem Jahre 2013 noch angeführt, dass die Verhältnisse in der Türkei durch einen tiefgreifenden Reformprozess gekennzeichnet gewesen seien, der wesentliche Teile der Rechtsordnung betroffen habe, wozu auch die Ausweitung der Minderheitenrechte vor allem für die Kurden und die Stärkung der Meinungsfreiheit gehörten. Zudem habe sich die allgemeine Sicherheitslage in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei verbessert. Das Notstandsregime, das in 13 Provinzen gegolten habe, sei mit der Aufhebung des Notstands in den letzten Notstandsprovinzen Diyarbakir und Sirnak im November 2002 beendet worden (VGH Bad.-Württ. Urt. v. 27.08.2013 - A 12 S 561/13 -, juris, Rdnr. 70/72).

Diese im Jahr 2013 noch zutreffende Prognose kann nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 nicht mehr aufrechterhalten werden, vielmehr ist zu befürchten, dass sich die Türkei immer mehr in Richtung Diktatur entwickelt. Davon, dass der Reformprozess vorangetrieben wird, kann keine Rede mehr sein. Von "Säuberungsmaßnahmen" ist die Rede, der landesweite Ausnahmezustand wurde um weitere 3 Monate bis Mitte April verlängert, die Meinungs- und Pressefreiheit sind akut bedroht, zahlreiche kurdische Abgeordnete sind inhaftiert.

In dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Stand: Januar 2017) heißt es, nach dem Putschversuch habe die Regierung sog. "Säuberungsmaßnahmen" gegen Individuen und Institutionen eingeleitet, welche sie der Gülen-Bewegung zurechne oder denen eine Nähe zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder anderen terroristischen Vereinigungen vorgeworfen werde. Im Zuge dieser Maßnahmen seien bislang gegen 103.850 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet, 86.519 Personen in Polizeigewahrsam genommen worden, davon befänden sich 41.034 in Untersuchungshaft (7.597 Polizei, 6.748 Militär, 2.433 Richter und Staatsanwälte) (Stand: 4.1.2017). 76.000 Beamte seien vom Dienst suspendiert worden, auch sei es zur Beendigung des Beamtenverhältnisses bei Militärangehörigen (7.536) gekommen. Die Maßnahmen zielten erklärtermaßen darauf ab, die Anhänger der Gülen-Bewegung aus allen relevanten Institutionen in der Türkei zu entfernen. Bei diesen "Säuberungen" werde nicht zwischen Personen unterschieden, denen lediglich eine Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen werde und jenen Personen, die einer aktiven Beteiligung am Putschversuch verdächtigt würden. Zur Unterstützung dieser Maßnahmen habe die Regierung am 20.07.2016 den Notstand verhängt, zunächst für drei Monate. Am 19.10.2016 und am 03.01.2017 sei dieser Notstand für jeweils weitere drei Monate verlängert worden. Er gelte nun mindestens bis 19.04.2017. … Die Regierung habe seit dem Putschversuch eine fast alles beherrschende nationalistische Atmosphäre geschaffen, die gleichermaßen auf Furcht, Euphorie, Propaganda und nationale Einheit setze. Die Atmosphäre speise sich aus den "Säuberungsmaßnahmen" und mit ihnen einhergehenden öffentlichen Aufrufen zur Denunziation, aus der Überhöhung des nationalen Widerstands, der allabendlich mit Demonstrationen auf den zentralen Plätzen der Großstädte gefeiert werde. Thematisch fahre Erdogan zur Erreichung seines Ziels seit Sommer 2015 einen verstärkt nationalistischen Kurs, dessen Kernelement das bedingungslose Vorgehen im Kurdenkonflikt gegen die PKK sei. … Viele der zunehmenden Freiheitseinschränkungen und Repressionsmaßnahmen rechtfertige die Regierung mit der Notwendigkeit, den Terrorismus zu bekämpfen. Jedoch würden jenseits der Bekämpfung realer terroristischer Bedrohungen Terrorismusvorwürfe inflationär genutzt. Neben der Einstufung der Gülen-Bewegung als Terrororganisation sei u.a. 57 von 59 Abgeordneten der prokurdischen HDP die parlamentarische Immunität entzogen worden. Die Verfahren gegen die HDP-Abgeordneten stützten sich überwiegend auf angebliche Verstöße gegen die Anti-Terror-Gesetze. Nach Abschluss der Verfahren könnten einige dieser Abgeordneten ihr Mandat verlieren. Aktuell befänden sich 13 HDP Abgeordnete in Untersuchungshaft (Stand: 30.12.2016). Die Meinungs- und Pressefreiheit seien akut bedroht. Seit Juli seien per Notstandsdekret rund 170 überwiegend Gülen-nahe und kurdische Print- und Bildmedien geschlossen worden; ca. 3.000 Journalisten hätten durch Schließungen ihren Job verloren und hätten - gebrandmarkt als Gülenisten oder PKK-Sympathisanten - keine Aussicht darauf, einen neuen zu finden. Als Grundlage für das strafrechtliche Vorgehen gegen diese Personen werde häufig ebenfalls der Terrorismustatbestand bzw. der Vorwurf der Propaganda für terroristische Organisationen angeführt. 140 Journalisten säßen nach Angaben von Human Rights Watch derzeit in Haft (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei, Stand 04.01.2017; siehe auch ZEIT ONLINE, 26.12.2016: "Anti-TerrorPolizei nimmt HDP-Vizechefin fest"; ZEIT ONLINE, 30.12.2016: "Haftbefehl gegen kritischen Journalisten in der Türkei erlassen", dieser Artikel betrifft den Journalisten und Buchautor Ahmet Sik; zur Verhaftung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel: ZEIT ONLINE, 27.02.2017: "Richter ordnet Untersuchungshaft gegen "Welt"-Korrespondenten an").

Auch nach dem 04.01.2017 wurden weitere 6000 Bedienstete entlassen (ZEIT ONLINE, 07.01.2017: "Türkei entlässt weitere 6000 Bedienstete"). Betroffen seien Polizisten, Angestellte des Justiz- und Gesundheitsministeriums und Universitätslehrkräfte. Auch gegen fast 400 Unternehmer wurden Haftbefehle erlassen, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wurden (ZEIT ONLINE, 05.01.2017: "Behörden erlassen Haftbefehl gegen 380 Unternehmer"). Auch wer in der Türkei Aussagen etwa über die PKK online veröffentlicht, muss damit rechnen, verhaftet zu werden. 1.656 Menschen sind inhaftiert worden wegen Beiträgen in sozialen Medien unter anderem über die PKK, in 3700 Fällen wird ermittelt (ZEIT ONLINE, 24.12.2016: "Mehr als 1000 Festnahmen wegen Beiträgen in sozialen Medien"; ZEIT ONLINE, 28.2.2017: "Jeder kann zum Terrorverdächtigen werden"). Auch in Deutschland müssen türkische Staatsbürger damit rechnen, dass etwaige Kritik an der türkischen Regierung bzw. Aussagen zur PKK dem türkischen Generalkonsulat gemeldet werden (ZEIT ONLINE, 23.02.2017: "Türkei fordert offenbar zu Spitzelei an Schulen auf" und SPIEGEL ONLINE, 09.03.2017: "Willkommen in Istanbul, Sie sind festgenommen" zur Festnahme von Deutschen und Österreichern mit Wurzeln in der Türkei, die nach ihrer Ankunft am Flughafen Istanbul festgenommen worden sind - wohl wegen ihrer Kritik an Präsident Erdogan. Möglicherweise wurden sie zuvor bespitzelt.)

Gerade unter dem zuletzt erwähnten Gesichtspunkt, nämlich dass der türkische Geheimdienst sehr wohl ein Interesse daran hat, auch seine in Deutschland lebenden Staatsbürger zu kontrollieren, gewinnen die beiden anonymen Anzeigen gegen den Kläger Ziffer 1 an Bedeutung. Die beiden anonymen Anzeigen, die im Laufe des Asylverfahrens des Klägers Ziffer 1 bei der Ausländerbehörde eingegangen sind, lassen vermuten, dass der Kläger Ziffer 1 hier in Deutschland ins Visier der Sicherheitskräfte der Türkei geraten ist bzw. aufgrund der Denunziation eines ihm neidisch gesonnenen Landsmannes im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen bzw. einer intensiven Befragung rechnen muss. Wenn dem Kläger Ziffer 1 unterstellt wird, in Straftaten verwickelt zu sein, kann derzeit in der Türkei nicht davon ausgegangen werden, dass gegen ihn ein rechtsstaatlichen Ansprüchen genügendes Strafverfahren durchgeführt wird. Unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung herrscht derzeit dort die absolute Willkür. Nahezu die Hälfte aller Richter wurden entlassen, zum Teil wurde ihr Vermögen eingezogen bzw. wurden sie in Haft gesetzt. Vor diesem Hintergrund kann nicht erwartet werden, dass ein Richter entgegen einer Anordnung von oben ein rechtsstaatliches Verfahren durchführt. (Vergleiche hierzu bereits kurz nach dem Putschversuch: OLG Schl.-H., Beschl. v. 22.09.2016 - 1 Ausl (A) 45/15 (41/15) -, juris). Dort heißt es:

"Nach einer offiziellen Verlautbarung des Auswärtigen Amtes in Berlin vom 16. August 2016 ("Auswirkungen des Ausnahmezustandes auf Rechtstaatlichkeit und Haftbedingungen") stellen sich die aktuellen Verhältnisse im Bereich der Strafjustiz in der Republik Türkei u. a. wie folgt dar:

Die Republik Türkei, ein Vertragsstaat der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, hat durch offizielle Meldung an den Europarat von der Möglichkeit des Artikel 15 MRK Gebrauch gemacht und auf diese Weise die in der Konvention kodifizierten Rechte eines Beschuldigten weitgehend außer Kraft gesetzt. Nach dem Inhalt des innerstaatlich in der Republik Türkei zugrunde liegenden "Ministerratsbeschlusses Nr. 667" sind danach u.a. die Möglichkeiten effektiver Verteidigung eines Beschuldigten drastisch eingeschränkt worden. Ein Beschuldigter kann von der Polizei ohne richterliche Entscheidung bis zu 30 Tagen in Haft gehalten werden, Die Staatsanwaltschaft ist befugt, ohne Zustimmung eines Beschuldigten den von ihm gewählten Verteidiger auszuwechseln und sogar die Kommunikation zwischen Verteidiger und Mandant vollständig zu untersagen. Diese Einschränkungen haben nach Mitteilung der Rechtsanwaltskammer Ankara dazu geführt, dass Verteidiger häufig das Mandat niederlegen, so dass eine wirkungsvolle Verteidigung nicht möglich sei.

In Gerichtsverfahren reicht es aus, einen Beschuldigten nur summarisch über den Inhalt der gegen ihn erhobenen Anklage zu informieren. Ein uneingeschränktes Recht des Beschuldigten, in der gegen ihn geführten Verhandlung anwesend zu sein, besteht offenbar nicht mehr.

Nach der Verhaftung tausender Richter und Staatsanwälte ist damit zu rechnen, dass Strafverfahren, die schon zuvor "häufig sehr lang" dauerten, jetzt noch deutlich länger dauern werden, als es bisher üblich war. Auch die schon vor den aktuellen Ereignissen vielfach bestehende Überbelegung von Haftanstalten hat sich nach der Verhaftung zehntausender Personen nochmals drastisch verschärft. Gefangene sind nach den Informationen des Auswärtigen Amtes "in eigentlich ungeeigneten Orten und sehr gedrängt" untergebracht. Mit überfüllten Zellen, unzureichender und schlechter Ernährung ist zu rechnen. In der Regel sind weder ausreichende Sitz- noch Schlafmöglichkeiten vorhanden.

Damit sind zurzeit nicht nur mit der Meldung nach Artikel 15 MRK an den Europarat die Grundrechte eines Beschuldigten aus Artikel 6 MRK (Verhandlung über eine Anklage innerhalb angemessener Frist, Unterrichtung über Art und Grund der erhobenen Beschuldigung in allen Einzelheiten, Recht auf Verteidigung durch einen Verteidiger eigener Wahl) offiziell außer Kraft gesetzt. Darüber hinaus verstoßen die anzutreffenden Haftbedingungen gegen die Grundrechte eines Beschuldigten aus Artikel 3 (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung), also einer Vorschrift, die selbst in Anwendung des Artikel 15 MRK nicht abbedungen werden darf, unter den faktisch herrschenden Umständen aber nicht eingehalten werden kann (so auch OLG München, Beschluss vom 16. August 2016, 1 AR 252/16, zitiert nach Juris).

Diese Verstöße gegen die Menschenrechtskonvention, in denen nach innerstaatlichen Maßstäben zugleich Grundrechtsverletzungen (Artikel 2, 103, 104 GG) lägen, lassen die Auslieferung im Lichte des § 73 IRG, der jegliche Leistung von Rechtshilfe davon abhängig macht, dass sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung nicht widersprechen darf, unzulässig erscheinen (so auch für den Fall vergleichbarer Haftbedingungen in der Republik Rumänien: OLG Stuttgart, Beschluss vom 29. April 2016, 1 Ausl. 326/15, unter Berufung u.a. auf BVerfG, Beschluss vom 22. März 2016, 2 BvR 566/15, zitiert nach Juris)." (OLG Schi.-H., a.a.O. juris,. Rn 12-17).

Soweit es im oben erwähnten Lagebericht des Auswärtigen Amtes mit Stand 04.01.2017 im weiteren Verlauf zur Frage der Behandlung von Rückkehrerinnen und Rückkehrern noch heißt, dass dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden sei, indem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten - dies gelte auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen - gefoltert oder misshandelt worden sei (Seite 29), kommt diesen Ausführungen nach der mittlerweile eingetretenen weiteren Verschärfung der Situation in der Türkei und der Verschlechterung des Verhältnisses zu Deutschland keine Aussagekraft mehr zu. Diese Passage stimmt wörtlich mit dem Lagebericht mit Stand August 2015 überein, der noch vor dem gescheiterten Putschversuch des Jahres 2016 erstellt worden ist, und ist nicht mehr aktuell. So berichten die Medien - wie bereits ausgeführt - sogar über Festnahmen bei der Einreise von Deutschen und Österreichern mit türkischen Wurzeln wegen ihrer Kritik an Präsident Erdogan. Laut Aussage eines westlichen Diplomaten gehe man von einer "hohen zweistelligen Zahl jeden Monat" aus. Von einem "Spitzelwerk im Ausland" ist die Rede und auch davon, dass es für die oben erwähnten Personen "ein unkalkulierbares Risiko" darstelle, "in die Türkei zu reisen"(SPIEGEL ONLINE, 09.03.2017, a.a.O.; vgl. zur Rückkehrgefährdung in die Türkei schon kurz vor dem Putschversuch: Nieders. OVG, Urteil vom 31.05.2016 - 11 LB 53/15 -, InfAuslR 2016, 450).

Steht nach alledem zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger Ziffer 1 im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit asylrelevanten Maßnahmen zu rechnen hat, so gilt dies auch für die ihn begleitende Ehefrau, die Klägerin Ziffer 2. [...]