LSG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24.08.2016 - L 2 AS 449/16 B ER - asyl.net: M24181
https://www.asyl.net/rsdb/M24181
Leitsatz:

Einstweilige Anordnung von vorläufigen Leistungen nach SGB II:

1. Eine Reinigungstätigkeit in Teilzeitbeschäftigung begründet die europarechtliche Arbeitnehmereigenschaft.

2. Das Aufenthaltsrecht aus § 3 Abs. 4 FreizügG/EU von Kindern von ehemaligen Arbeitnehmenden und ihrem sorgeberechtigten Elternteil während ihrer (Schul-)Ausbildung stellt ein weiteres Aufenthaltsrecht dar, welches den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II entfallen lässt.

(Leitsätze der Redaktion)

 

Schlagwörter: Unionsbürger, SGB II, geringfügige Beschäftigung, Schulbesuch, Leistungsausschluss, Arbeitnehmer, Arbeitnehmerbegriff, Arbeitnehmereigenschaft, Bedarfsgemeinschaft, Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung, Ausbildung, Berufsausbildung, Kind, Kinder, Sozialhilfe, Wanderarbeitnehmerverordnung, Wanderarbeitnehmer, Sozialrecht, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Arbeitssuche,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S.1 Nr. 1, SGB II § 7 Abs. 1 S.1 Nr. 2, SGB II § 7 Abs. 1 S.1 Nr. 4, FreizügG/EU § 2, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, SGB II § 7 Abs. 2 S. 1, FreizügG/EU § 3 Abs. 4, VO 492/11 Art. 10,
Auszüge:

[...]

Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin zu 1. erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 und 4 SGB II. Sie hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht. Auch ist sie, da ihr die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt werden könnte, in der Lage, in dem in § 8 Abs. 1 SGB II beschriebenen Umfang erwerbstätig zu sein. Denn nach § 8 Abs. 2 SGB II reicht hierfür die rechtliche Möglichkeit aus, eine Beschäftigung vorbehaltlich einer Zustimmung nach § 39 des Aufenthaltsgesetzes aufzunehmen. Zudem hat die Antragstellerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt nach § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil (SGB I) im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs (vgl. dazu BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 - B 4 AS 54/12 R - juris, Rn. 18) in der Bundesrepublik Deutschland begründet. Seit dem 29. Januar 2013 tritt bei Unionsbürgern an die Stelle der Überprüfung der Voraussetzungen für die Ausstellung einer Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht die Prüfung über das Vorliegen oder den Fortbestand der Voraussetzungen für die Ausübung des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Absatz , § 5 Abs. 3 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU). Die Antragsteller zu 2. und 3. erfüllen die Anspruchsvoraussetzungen nach § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II, da sie mit der Antragstellerin zu 1. in einer Bedarfsgemeinschaft leben und keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII haben.

Der Leistungsanspruch ist auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGB II ausgeschlossen. […]

Diese Ausschlussnormen greifen nicht ein. Es besteht zumindest ein anderes Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1. als das zum Zwecke der Arbeitsuche. Deshalb greift der Leistungsausschluss nicht ein. Aufgrund des Leistungsanspruchs der Antragstellerin zu 1. gegen den Antragsgegner besteht gem. § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II auch ein Leistungsanspruch der Antragsteller zu 2. und 3. auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Diese bilden als mit der Antragstellerin zu 1. zusammenlebende Kinder eine Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II.

Den Antragstellerinnen zu 1. und zu 2. steht auch für den Zeitraum ab 1. Mai 2016 ein Aufenthaltsrecht nach § 3 Abs. 4 FreizügG/EU zu. Danach haben Kinder, die sich in der Schulausbildung bzw. Ausbildung befinden, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zusammen mit dem sorgeberechtigten Elternteil. Dieses Aufenthaltsrecht ist allein an den Zugang zur Ausbildung gebunden und setzt weiter nur voraus, dass ein Elternteil bereits freizügigkeitsberechtigt als Arbeitnehmer war, das Kind in Ausbildung ist und der Elternteil mit diesem Kind zusammenlebt. Die Antragstellerin zu 2. besucht die Schule und die Antragstellerin zu 1. übt das Sorgerecht aus.

Hintergrund dieser Regelung ist Art. 10 der Verordnung 492/11 vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der EU. Danach können Kinder eines Mitgliedsstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, unter den gleichen Bedingungen am allgemeinen Unterricht sowie der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedsstaates wohnen. Diese Kinder haben nach der Rechtsprechung des EuGH ein eigenständiges Aufenthaltsrecht unabhängig von dem ggf. beendeten Aufenthaltsrecht der Eltern nach einer abhängigen Beschäftigung. Denn wenn das Aufenthaltsrecht der Kinder entfallen würde, weil das Aufenthaltsrecht der Eltern als Arbeitnehmer beendet worden ist, könnten diese Kinder ihre Ausbildung nicht fortsetzen. Dieses ausbildungsbezogene Aufenthaltsrecht der Kinder besteht unabhängig von den Voraussetzungen der Freizügigkeits-Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 29. April 2004 (ABl. vom 30. April 2004 Nr. L 158/77). Insbesondere müssen diese Kinder und der sorgeberechtigte Elternteil nicht über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen (vgl. EuGH, Urteil vom 23. Februar 2010, C-480/08 Texeira zu der inhaltsgleichen Regelung in Art 12 der Verordnung Nr. 1612/68 vom 15. Oktober 1968). Zusammen mit dem in der Ausbildung befindlichen Kind hat der sorgeberechtigte Elternteil ein von diesem abgeleitetes Aufenthaltsrecht, auch wenn das auf den Freizügigkeitsregelungen beruhende eigene Aufenthaltsrecht des Elternteils bereits nicht mehr besteht (vgl. BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 zu B 4 AS 43/15 R). Der Antragsteller zu 3. hat ein Aufenthaltsrecht nach § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU, da er seine Mutter begleitet.

Die Antragstellerin zu 1. hatte durch die Aufnahme der Tätigkeit ab 11. September 2015 ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU als Arbeitnehmerin erworben. Dass dieses wieder entfallen Ist, ist - wie oben ausgeführt - für das Freizügigkeitsrecht aus § 3 Abs. 4 FreizügG/EU nicht von Bedeutung.

Die Antragstellerin zu 1. nahm am 11. September 2015 eine Beschäftigung als Reinigungskraft bei der Firma ... auf. Bei dieser Tätigkeit handelte es sich entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht nur um eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind freizügigkeitsberechtigte Arbeitnehmer, die eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausüben mit Ausnahme derjenigen Arbeitnehmer, deren Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt (EuGH, Urteil vom 18. Juli 2007, C-213 „Geven“, Rnr. 16). Die Tätigkeiten der Antragstellerin zu 1. dürften nicht als völlig untergeordnet und unwesentlich eingestuft werden können. Dies hat der EuGH für eine Arbeitnehmertätigkeit mit einem Durchschnittslohn von etwa 175 E pro Monat verneint, ohne sich auf eine feste Untergrenze festzulegen. Dabei hat der EuGH auch herausgehoben, dass es auf eine Gesamtbetrachtung aller Umstände ankommt (Urteil vom 4. Februar 2010 in der Rechtssache Genc - C-14/09 - Slg 2010, I-931).

Die bisher bekannten Umstände sprechen dafür, dass es sich bei der Reinigungstätigkeit der Antragstellerin zu 1. um eine normale Teilzeitbeschäftigung gehandelt hat, die die Arbeitnehmereigenschaft begründete. Die Antragstellerin zu 1. sollte neun Stunden in der Woche tätig sein und die Arbeitgeberin hatte sich verpflichtet, ein Entgelt von 9 Euro in der Stunde zu zahlen. An Entgelten flossen aus dieser Tätigkeit im Oktober 2015 186,78 Euro und im November 2015 364,73 Euro zu. Die Tätigkeit endete aufgrund einer Arbeitgeberkündigung am 7. November 2015. Es sind keine Gründe dafür ersichtlich, dass die Tätigkeit aus Sicht der Antragstellerin zu 1. von vornherein nur für kurze Zelt ausgeübt werden sollte. Dies ergibt sich auch nicht zwingend aus der familiären Situation der Antragstellerin zu 1., die in der Zeit dieser Tätigkeit während der Woche in Köln gelebt und die Kinderbetreuung in Halle/Saale über eine Bekannte geregelt hatte. Eine berufsbedingte Abwesenheit einer Arbeitnehmerin oder eines Arbeitnehmers von der Restfamilie in der Woche ist nicht unüblich. Ob sich hier aufgrund des verhältnismäßig geringen Umfangs der Tätigkeit und des Entgelts und der Situation der Antragstellerin zu 1. als Alleinerziehenden etwas anderes in dem Sinne ergibt, dass die Tätigkeit von Anfang an nur für kurze Zeit ausgeübt werden sollte, was für eine untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit sprechen könnte, mag im Hauptsacheverfahren aufgeklärt werden. Nach Sicht des Senats drängen sich jedenfalls im Eilverfahren keine gewichtigen Gründe dafür auf, den Arbeitnehmerstatus der Antragstellerin zu 1. aufgrund dieser Beschäftigung in Zweifel zu ziehen. [...]