OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 07.04.2016 - 3 A 557/13.A - asyl.net: M23916
https://www.asyl.net/rsdb/M23916
Leitsatz:

1. Ablehnung der Berufung wegen fehlender asyl- oder flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung eines Kurden in der Türkei.

2. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats besteht für Kurden in der Türkei nicht die Gefahr einer landesweiten Gruppenverfolgung - jedenfalls stünde in wesentlichen Teilen der Türkei eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.

3. Die Heranziehung zum Wehrdienst in der Türkei stellt keine Form politischer Verfolgung dar, da sie gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen gilt und eine etwaige Sanktionierung der Wehrdienstverweigerung keine asylrelevanten Elemente aufweist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Sippenhaft, PKK, Berufung, politische Verfolgung, Strafverfolgung, Flüchtlingsanerkennung, Asylanerkennung, Gruppenverfolgung, Wehrdienstverweigerung, Militärdienst, Reflexverfolgung,
Normen: GG Art. 16a, AsylG § 3, AsylG § 4
Auszüge:

[...]

Die Angaben des Klägers bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt lassen nicht erkennen, dass er am 27. Oktober 2009 die Türkei wegen erfolgter oder unmittelbar bevorstehender politischer Verfolgung verlassen hat. Er hat geltend gemacht, in den letzten vier Jahren vor seiner Ausreise öfter bei der Fahrt in seinen Heimatort an einem Kontrollpunkt angehalten und nach seinem in Berlin lebenden Onkel, seinem gefallenen Onkel und seinem Vater befragt worden zu sein. Über seine Befragung hinausgehende Maßnahmen gegen seine Person bei diesen Kontrollen und im Anschluss an diese hat er nicht geltend gemacht. Im Hinblick auf seine Befragung an einem Kontrollposten ist nicht ersichtlich, dass es sich bei ihr um eine Rechtsverletzung handeln könnte. Jedenfalls würde es ihr an einer asylerheblichen Intensität fehlen (vgl. SächsOVG, Urt. v. 8. Juli 2010 - A 3 A 503/07 -, juris Rn. 38). Gründe für eine unmittelbar bevorstehende asylerhebliche Verfolgung lassen sich seinem Vorbringen bei der Anhörung ebenfalls nicht entnehmen. Politisch will sich der Kläger vor seiner Ausreise nicht betätigt haben. Nach seiner Darstellung sei fast jedes Familienmitglied aus politischen Gründen festgenommen worden, da der Staat sie als potentielle Straftäter betrachte. Konkrete Befürchtungen macht der Kläger insoweit jedoch nicht geltend. Gegen eine ihm konkret drohende Gefahr spricht, dass er ungeachtet der von ihm geschilderten politischen Betätigung von Angehörigen und Verwandten, die schon Jahre vor seiner Ausreise diesen gegenüber zu Strafverfolgungsmaßnahmen und Verurteilungen geführt haben soll, keinen asylerheblichen Maßnahmen ausgesetzt war. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung des Umstands, dass sein Onkel M. vor seiner Verurteilung am 21. Juli 2011 zu zehn Jahren und sechs Monaten Haft wegen PKK-Mitgliedschaft nach Darstellung des Klägers schon zuvor wegen Unterstützung der PKK zu einer Strafe von 12 Jahren verurteilt wurde, der Kläger aber gleichwohl von den Sicherheitsbehörde nicht behelligt und lediglich bei Familienheimfahrten an Kontrollpunkten nach seinen Verwandten befragt wurde.

Es ist auch nicht ersichtlich, dass asylerhebliche Maßnahmen im Vorfeld seiner Ausreise beabsichtigt gewesen sein könnten. Der Kläger hat vom türkischen Staat für seine Ausreise im September 2009 einen Reisepass erhalten, mit dem er dann ungehindert die Türkei verlassen hat. Dies wäre bei einem Verfolgungsinteresse des türkischen Staates nicht zu erwarten, da die Ausreisekontrollen an türkischen Grenzen in der Regel streng sind (Auswärtiges Amt – Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand: August 2015 - Aktueller Lagebericht -, S. 32).

Die legale Ausreise des Klägers spricht gegen die von ihm im Klageverfahren geltend gemachte Gefahr einer Sippenhaft. Gegen ein solche Gefahr spricht auch seine Behauptung im Berufungszulassungsverfahren, dass sein Onkel M. - der nach Angabe des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat namensgleich mit seinem wegen PKK-Unterstützung verurteilten Onkel sein soll - 1996 "zur Guerilla in die Berge gegangen" und im selben Jahr an den Folgen einer Verletzung gestorben sei. Nach seinen Angaben will der Kläger Ende 2012 ein Foto von diesem Onkel bei der Onlinezeitung www.gazetteoku.com (meint wohl: www.gazeteoku.com) entdeckt haben. Sofern dieses Foto schon vor seiner Ausreise im Oktober 2009 in die Hände der Sicherheitskräfte gelangt ist, wäre es schwer zu erklären, wieso der Kläger gleichwohl legal ausreisen konnte, wenn ihm in der Türkei als Familienangehörigem eines "Guerillakämpfers" die Gefahr von Sippenhaft gedroht hätte. Nach den Feststellungen des Senats in seinem Urteil vom 8. Juli 2010 (- A 3 A 503/07 -, a.a.O.) bestand jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt für Kurden/PKK-Angehörige keine Gefahr der Sippenhaft. Hiernach ist eine Gefährdung wegen der Annäherung der Türkei an die EU nicht mehr feststellbar. Ist ein naher Angehöriger einer auch exponierten Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verdächtigt oder wird gegen diesen ermittelt, ist es zwar möglich, dass der Rückkehrer verhört wird, nicht aber, dass er dabei unter Druck gesetzt wird; zu Belästigungen wie auch Beschimpfungen kann es allerdings kommen (SächsOVG, a.a.O. Rn. 38). Die Gefahr ein Sippenhaft ist auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht feststellbar (vgl. BayVGH, Beschl. v. 2. Oktober 2015 - 9 ZB 15.30097 -, juris Rn. 7 m.w.N.).

Nach der Rechtsprechung des Senats besteht für Kurden in der Türkei auch nicht die Gefahr einer – landesweiten – Gruppenverfolgung; jedenfalls stünde ihm im westlichen Teil der Türkei eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung (Urt. v. 8. Juli 2010, a.a.O. Rn. 45). Anhaltspunkte dafür, dass sich die relevanten Verhältnisse seit dieser Entscheidung des Senats maßgeblich geändert haben könnten, bestehen nicht (vgl. Aktueller Lagebericht, S. 8). Soweit sich der Kläger in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (Urt. v. 14. Oktober 2011 - 10 A 10416/11 -, juris) bezieht, übersieht er, dass diese Entscheidung eine Verfolgungsgefahr für Aktivisten der PKK zum Gegenstand hatte (a.a.O. Rn. 27).

Auch aus dem vom Kläger angeführten Aufruf Fetullah Gülens vom September 2011 folgt keine Verfolgungsgefahr. Nach dem Aktuellen Lagebericht führt die türkische Regierung seit Ende 2013 einen Kampf gegen die Anhänger des islamischen Predigers (S. 4).

Für den Kläger lässt sich auch keine Rückkehrgefährdung im Hinblick auf seinen noch nicht abgeleisteten Wehrdienst feststellen. Der Wehrpflicht unterliegt in der Türkei jeder männliche türkische Staatsangehörige ab dem 20. Lebensjahr. Das Wehrdienstalter beginnt am 1. Januar des Jahres, in dem der Betreffende das 19. Lebensjahr vollendet hat, und endet am 1. Januar des 41. Geburtstags. Ein in der Türkei abgeschlossenes Hochschulstudium verkürzt die Wehrpflicht auf sechs Monate für einfache Soldaten oder auf zwölf Monate für einen Unterleutnant. Seit der Änderung von Art. 63 tMilStGB ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Geldstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtlinge werden seit Ende 2004 nicht mehr in Personenstandsregister eingetragen (Aktueller Lagebericht, S. 16f.). Selbst wenn der Kläger infolge seines nicht angetretenen Wehrdienstes als wehrdienstflüchtig angesehen würde, wird er dadurch nicht asylerheblich berührt. Die Heranziehung zum Wehrdienst in der Türkei stellt keine Form politischer Verfolgung dar, da sie nach den vorstehenden Ausführungen allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt wird (vgl. SächsOVG, Urt. v. 22. November 2014 - A 3 A 519/12 -, juris Rn. 41). Auch eine etwaige Sanktionierung der Wehrdienstentziehung weist keine verfolgungsrelevanten Elemente auf (zu den Kriterien: BVerwG, Urt. v. 25. Juni 1991 - 9 C 131.90 -, juris Rn. 16). Im Übrigen ist schon deshalb von keiner Gefahr in diesem Zusammenhang ausgehen, da der Kläger nicht dargelegt hat, durch Erklärung gegenüber den türkischen Behörden den Wehrdienst verweigert zu haben.

Auch im Übrigen ist eine Rückkehrgefährdung des Klägers nicht ersichtlich. Nach der Rechtsprechung des Senats (Urt. v. 22. März 2012 - A 3 A 428/11-, juris Rn. 26 ff. m.w.N.) kann eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung bei Personen bestehen, bei denen Besonderheiten vorliegen, etwa weil sie in das Fahndungsregister eingetragen sind, gegen sie Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig sind oder sie sich in besonders exponierter Weise exilpolitisch betätigt haben und deshalb in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie als potenzielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristischer Organisationen angesehen werden. Bei der Einreise in die Türkei hat sich jedermann, gleich welcher Volkszugehörigkeit, einer Personenkontrolle zu unterziehen. Abgelehnte Asylbewerber müssen dabei an der Grenze, insbesondere auf den Flughäfen in Istanbul und Ankara, mit Polizeihaft rechnen, während der überprüft wird, ob sie sich politisch gegen den türkischen Staat betätigt haben oder ob sie zumindest Informationen über politische Organisationen im Ausland geben können. Hierbei haben sie aber, soweit in ihrer Person keine Besonderheiten vorliegen, nicht mit asylrelevanter Verfolgung zu rechnen. Dass exilpolitische Aktivitäten ein beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsrisiko im Allgemeinen u.a. nur dann begründen, wenn sich der Betreffende politisch exponiert hat und die Aktivitäten nach türkischen Strafrecht strafbar sein können, hat der Senat mit Urteil vom 12. September 2013 (- A 3 A 845/11 -, juris Rn. 31 ff.) und zuletzt mit Urteil vom 16. Oktober 2014 (- A 3 A 253/13 -, juris Rn. 33 ff.) unter Einbeziehung der jeweils aktuellen Erkenntnismittel und Rechtsprechung bestätigt. Die aktuelle Erkenntnislage gibt keinen Anlass, diese Einschätzung zu korrigieren. Sie entspricht im Übrigen auch der einheitlichen Rechtsprechung anderer Obergerichte (VGH BW, Urt. v. 27. August 2013 - A 12 S 561/13 -, juris Rn. 78; OVG NRW, Urt. v. 2. Juli 2013 - 8 A 2632/06 -, juris; OVG M-V, Urt. v. 21. August 2012, Asylmagazin 2012, 386; BayVGH, Urt. v. 27. April 2012, Asylmagazin 2012, 394; OVG Schl.-H., Urt. v. 1. Dezember 2011 - 4 LB 8 /11 -, juris; OVG Saarland, Urt. v. 25. August 2011 - 3 A 24/10 und 3 A 35/10 -, juris; NdsOVG, Urt. v. 11. August 2010, AuAS 2010, 236).

Eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung besteht beim Kläger danach nicht. Nach ihm wird in der Türkei nicht gefahndet. Es sind keine Ermittlungs- oder Strafverfahren gegen ihn anhängig und er hat sich nicht exilpolitisch betätigt. Daher kann nicht angenommen werden, dass er in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten ist. [...]