VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 24.07.2014 - 15 K 1919/14.A - asyl.net: M22563
https://www.asyl.net/rsdb/M22563
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz für Nigerianerin, der Genitalverstümmelung droht.

Schlagwörter: Genitalverstümmelung, Zwangsbeschneidung, Pfingstler, Pfingstkirche, Pentecostal Church, Nigeria, geschlechtsspezifische Verfolgung, Mädchen, Christen, Edo, Südnigeria,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3,
Auszüge:

[...]

Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass die Klägerin zu 1) bei einer Ausreise nach Nigeria dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Zwangsbeschneidung zu rechnen hat. Eine Zwangsbeschneidung ist ein asylerheblicher Eingriff, der vom Grundsatz her einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu begründen vermag. Zwangsbeschneidungen sind in Nigeria nach wie vor verbreitet, wenn auch die Schätzungen insoweit auseinandergehen. Nach dem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zu Nigeria (Update vom März 2010) wird im Nigeria Demographic and Health Survey geschätzt, dass 19 % der Frauen von Female Genital Mutilation (FGM) betroffen sind. In dem neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom August 2013 - S. 17 wird festgehalten, dass eine Betroffenheit von 50 % der Frauen von weiblicher Genitalverstümmelung realistisch sein dürfte. Dabei gebe es erhebliche regionale Diskrepanzen. In einigen Regionen im Südosten und in der Region Süd-Süd werde die große Mehrzahl der Mädchen auch heute noch Opfer von Genitalverstümmelungen. In weiten Teilen Nordnigerias dürfte der Anteil etwa dem Landesdurchschnitt von 50 % entsprechen. Im Südwesten sei er deutlich niedriger.

Die Mutter der Klägerin und deren Familie stammen aus Benin City, der Hauptstadt von Edo State. Nach der ins Verfahren eingeführten Auskunft von amnesty international vom 06.08.2002 an das VG Aachen werden im Staate Edo die Beschneidungen besonders häufig durchgeführt, wobei diese Auskunft für ganz Nigeria zum damaligen Zeitpunkt von einer Zahl von 50 bis 60 % an betroffenen Frauen ausgeht, mit leicht sinkender Tendenz. In der ebenfalls ins Verfahren eingeführten Auskunft des Instituts für Afrika-Kunde vom 05.08.2003 an das VG Düsseldorf sind Frauen, die der Pfingstkirche (Pentecostal) angehörten, mit 61,4 % etwa 2,6 mal so oft beschnitten, wie Frauen anderer Religionszugehörigkeit.

Die Mutter der Klägerin zu 1) gehört jedoch - wie unbestritten ist - der Pfingstbewegung an.

Danach muss davon ausgegangen werden, dass der Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ebenfalls eine Zwangsbeschneidung bei einer Ausreise nach Nigeria droht. Diese Annahme wird auch dadurch gestützt, dass die Mutter der Klägerin zu 1), wie sie durch ärztliches Attest nachgewiesen hat, selbst zwangsbeschnitten worden ist. Dies belegt, dass in ihrer Familie und in ihrem sozialen Umfeld von dieser Tradition Gebrauch gemacht worden ist. Die Mutter der Klägerin zu 1) hat im Übrigen in der mündlichen Verhandlung glaubhaft bekundet, dass sie selbst Teil einer Drillingsgeburt war und ihre beiden Schwestern an der Zwangsbeschneidung gestorben sind. Damit hat sie auch das Verhalten der Mutter, die sich insoweit zu ihren Lebzeiten schützend vor ... gestellt hat, plausibel erklärt. Das Gericht hat ungeachtet sonstiger Widersprüche im Vorbringen der Mutter der Klägerin keinen Zweifel, dass dieses Vorbringen den Tatsachen entspricht. Dieser Vortrag ist so individuell, dass es unwahrscheinlich ist, dass die Mutter der Klägerin zu 1) ihn erfunden hat. Auch ihr Vorbringen, wonach ihre ältere Schwester nach dem Tode der Mutter Druck gemacht habe im Hinblick auf eine Zwangsbeschneidung von ... sowie der Tochter des Bruders ist substantiiert und erscheint plausibel. Dieses Vorbringen fügt sich in die Auskunftslage ein.

Die beachtliche Wahrscheinlichkeit für die Zwangsbeschneidung der Klägerin zu 1) lässt sich auch nicht mit deren Alter verneinen. Zum Beschneidungsalter lassen sich keine generellen Aussagen für das gesamte nigerianische Staatsgebiet treffen. Das Beschneidungsalter ist abhängig von der Ethnie, kann aber auch innerhalb einer Ethnie variieren. So finden die Genitalbeschneidungen von der ersten Lebenswoche oder aber als Hochzeitsvorbereitung bis nach der Geburt des ersten Kindes statt. So Auskunft von amnesty international vom 06.08.2002 an das VG Aachen.

Zwar mag es sein, dass Zwangsbeschneidungen schwerpunktmäßig in den ersten Jahren nach der Geburt erfolgen. Die Klägerin zu 1) ist allerdings auch erst sieben Jahre alt, so dass von ihrem Alter her keine hinreichenden Anhaltspunkte bestehen, die Gefahr einer Zwangsbeschneidung hinreichend verlässlich auszuschließen.

Ähnliches gilt im Hinblick auf die Tatsache, dass die Mutter der Klägerin zu 1) aus Benin City, also einer Großstadt, stammt. Zwangsbeschneidungen mögen in den ländlichen Gebieten häufiger sein, kommen aber auch in städtischen Gebieten durchaus vor (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes von August 2013 - Seite 17).

Auch die fehlende Zustimmung der Eltern zu einer Beschneidung ist kein wirksamer Schutz (vgl. Auskunft von amnesty international vom 06.08.2002 an das VG Aachen).

Droht somit der Klägerin zu 1) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Zwangsbeschneidung, so kann ihr nicht vorgehalten werden, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausscheide, weil der nigerianische Staat - andere Organisationen kommen hier nicht in Betracht - willens und in der Lage wäre, sie vor einer drohenden Zwangsbeschneidung zu schützen. Dagegen sprechen schon die oben genannten hohen Prozentzahlen der betroffenen Frauen. Der nigerianische Staat missbilligt zwar die Beschneidungen und in einigen Bundesstaaten ist sie inzwischen unter Strafe gestellt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom August 2013). An einer wirksamen Durchsetzung dieser Gesetze und an einem effektiven Schutz von Mädchen und Frauen vor der Beschneidung fehlt es allerdings nach wie vor (vgl. Auskunft von amnesty international vom 06.08.2002 an das VG Aachen und vom 24.07.2003 an das VG Düsseldorf).

Auch an einer innerstaatlichen Fluchtalternative fehlt es, da die Mutter der Klägerin zu 1) als Alleinerziehende mit ihren Kindern nur im Einflussbereich ihrer Großfamilie überleben kann, von der u.a. der soziale Druck zu einer Beschneidung gerade ausgeht (vgl. zur Situation alleinstehender Frauen in Bezug auf Umzugsmöglichkeiten innerhalb von Nigeria auch Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom August 2013).

Nach allem steht der Klägerin zu 1) die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu. [...]