VG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 10.09.2014 - 10 A 477/13 (ASYLMAGAZIN 11/2014, S. 382 f.) - asyl.net: M22287
https://www.asyl.net/rsdb/M22287
Leitsatz:

Die Islamische Republik Afghanistan ist nicht in der Lage, Schutz vor Zwangsverheiratung durch nichtstaatliche Akteure zu bieten.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Afghanistan, nichtstaatliche Verfolgung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Kinderheirat, Zwangsehe, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Frauen, Mädchen,
Normen: AsylVfG § 3, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

a) Es steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin in Afghanistan unter schwerster Gewalteinwirkung von einem Stiefonkel zu einer Heirat mit dessen Sohn gezwungen werden sollte und dass der afghanische Staat ihr insoweit keine Schutzmöglichkeit gab.

Diese Überzeugung hat das Gericht gewonnen durch die Angaben, die die Klägerin und ihre Eltern sowohl im Rahmen der Anhörungen vor der Beklagten als auch in der mündlichen Verhandlung des Gerichts gemacht haben. Dabei hat das Gericht bei der Frage der Glaubhaftigkeit der Angaben auch die eingeführten Erkenntnisquellen zu Afghanistan zugrunde gelegt.

Danach steht fest, dass in Afghanistan die Gefahr einer Zwangsverheiratung minderjähriger Mädchen weit verbreitet ist, ohne dass insoweit eine staatliche Hilfe durch die Betroffenen erfolgreich in Anspruch genommen werden könnte.

So ist zwar davon auszugehen, dass inzwischen Verfassung und Gesetzgebung Afghanistans zunehmend die Rechte der Frauen stärken. Die Regierung hat seit 2001 einige wichtige Schritte zur Verbesserung der Situation der Frauen im Land unternommen, darunter die Aufnahme internationaler Standards zum Schutz der Rechte der Frauen in die nationale Gesetzgebung, insbesondere durch Verabschiedung des Gesetzes über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (EVAW-Gesetz), den Erlass von Maßnahmen zur Stärkung der politischen Teilhabe von Frauen und die Einrichtung eines Ministeriums für Frauenangelegenheiten.

Allerdings wird die überwiegende Mehrheit dieser Fälle, einschließlich schwerer Straftaten gegen Frauen, noch immer nach traditionellen Streitbeilegungsmechanismen statt nach Gesetzen verfolgt. UNAMA berichtet, dass sowohl die afghanische nationale Polizei als auch die Staatsanwaltschaften zahlreiche Fälle, einschließlich schwerwiegender Straftaten, an Jirgas (Ältestenversammlungen) und shuras (Ratsversammlungen der Geistlichen) zum Zweck der Beratung oder Entscheidung weiterleiten und dadurch die Umsetzung des EVAW-Gesetzes unterminieren und die Praktizierung schädlicher traditioneller Brauche fördern. Durch derartige Entscheidungsmechanismen werden Frauen und Mädchen der Gefahr weiterer Schikanierungen ausgesetzt.

Auch hat der UN-Generalsekretär festgestellt, dass sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen in Afghanistan nach wie vor endemisch ist. Dazu gehören Ehrenmorde, Entführung, Vergewaltigung, erzwungene Abtreibung und häusliche Gewalt. Da sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe von weiten Teilen der afghanischen Gesellschaft als Schande für die Familien betrachtet werden, besteht für Vergewaltigungsopfer die Gefahr, geächtet, zu Abtreibungen gezwungen, inhaftiert oder sogar getötet zu werden. Gesellschaftliche Tabus und die Angst vor Stigmatisierung und Vergeltungsmaßnahmen einschließlich durch die eigene Gemeinschaft oder Familienmitglieder sind häufige Gründe dafür, dass Opfer sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalttaten nicht anzeigen. Gleichzeitig ist die Zahl der Selbstverbrennungen aufgrund von häuslicher Gewalt weiter angestiegen. In vielen Gegenden mit schwachem Strafrechtssystem leiten Behörden die meisten Anzeigen wegen häuslicher Gewalt weiterhin an traditionelle Institutionen zur Streitbeilegung zur Entscheidung weiter. Frauen und Mädchen, die vor Misshandlung oder drohender Zwangsheirat von zu Hause weglaufen, werden oftmals vager oder gar nicht definierter "moralischer Straftaten" bezichtigt, einschließlich des Ehebruchs oder des "von Zuhause Weglaufens". Während Frauen in diesen Situationen oftmals verurteilt und inhaftiert werden, bleiben die für die häusliche Gewalt oder Zwangsheirat verantwortlichen Männer fast immer straflos.

Auch die schädlichen traditionellen Bräuche, die in diskriminierenden Ansichten zur Rolle und Position der Frauen in der afghanischen Gesellschaft wurzeln, betreffen in unverhältnismäßig hohem Maße Frauen und Mädchen. Zu diesen Bräuchen gehören unterschiedliche Formen der Zwangsheirat, einschließlich Kinderheirat, Hausarrest und Ehrenmorde. Zu den Formen der Zwangsheirat in Afghanistan gehören u.a.:

- "Verkaufsheirat", bei der Frauen und Mädchen gegen eine bestimmte Summe an Geld oder Waren oder zur Begleichung einer Familienschuld verkauft werden,

- baad dadan, eine Methode der Streitbeilegung gemäß Stammestraditionen, bei der die Familie der "Angreifer" der Familie, der Unrecht getan wurde, ein Mädchen anbietet,

baadal, ein Brauch, bei dem zwei Familien ihre Töchter austauschen, um Hochzeitskosten zu sparen,

- Zwangsverheiratung von Witwen mit einem Mann aus der Familie des verstorbenen Ehemanns

Wirtschaftliche Unsicherheit und der andauernde Konflikt sind Gründe, warum das Problem der Kinderheirat fortbesteht, da diese oftmals die einzige Überlebensmöglichkeit für das Mädchen und seine Familie angesehen wird.

Nach dem EVAW-Gesetz stellen einige schädliche traditionelle Bräuche einschließlich des Kaufs und Verkaufs von Frauen zu Heiratszwecken, die Benutzung von Frauen als Mittel zur Streitbeilegung nach dem "baad"-Brauch sowie Kinder- und Zwangsheirat Straftatbestände dar. Eine konsequente Umsetzung des Gesetzes findet jedoch nicht statt (vgl. zur Situation der Frauen und zur Zwangsheirat: UNHCR, Richtlinien Schutzbedarf, vom 6. August 2013, G 8/13, Stichwort: Frauen, S. 54 ff.).

Vor diesem Hintergrund ist der UNHCR in den aktuellen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Schutzsuchender zu der Auffassung gelangt, dass je nach den individuellen Feststellungen, für Frauen, die der Kategorie "Opfer schädlicher traditioneller Bräuche" entsprechen, wahrscheinlich ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz besteht (vgl. UNHCR, a.a.O., S, 64).

Insbesondere vor diesem Hintergrund hat das Gericht keine ernsthaften Zweifel an den Angaben der Klägerin, ihr Stiefonkel habe sie bzw. ihre Eltern dazu zwingen wollen, dass sie seinen bereits erwachsenen Sohn heirate, dessen Ehefrau keine Kinder bekommen könne. Glaubhaft erscheint auch die Darstellung, dass der Stiefonkel zur Durchsetzung seiner Pläne die Familie mit einer Horde verhüllter Männer überfiel und die Klägerin und ihren Bruder bei dem Versuch, sich des Mädchens zu bemächtigen, ernsthaft verletzte. Hinzu kommt, dass die Aussage der Klägerin im Wesentlichen ihrem Vorbringen im Rahmen der Anhörung vor der Beklagten entsprach, wobei anzumerken ist, dass die Anhörung mehr als zwei Jahre zurückliegt und sich ein solcher Zeitraum gerade für ein Kind bzw. einen Teenager wie die Klägerin als sehr lange darstellt. Die Angaben der Klägerin waren darüber hinaus in sich widerspruchsfrei. Die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben wird auch dadurch gestützt, dass sie im Wesentlichen den Aussagen ihres Vaters und ihrer Mutter entsprachen, die ebenfalls von der Beklagten und vom Gericht angehört wurden. Dass die Aussagen zuvor untereinander abgesprochen wurden, erscheint dem Gericht nicht wahrscheinlich, zumal die Klägerin, ihr Vater und ihre Mutter vor der Beklagten aufgrund der unterschiedlichen Einreisezeitpunkte zu verschiedenen Zeiten und unabhängig voneinander angehört wurden. Auch beantworteten sowohl die Klägerin als auch ihre Eltern solche Fragen des Gerichts übereinstimmend, die zuvor von der Beklagten noch nicht gestellt worden waren und die die Klägerin und ihre Eltern - aus Sicht des Gerichts - nicht ohne Weiteres erwarten konnten (z.B. die Frage nach dem Aussehen und der Aufteilung des Hauses in Ghazni und die Fragen nach den Vornamen des Stiefonkels und seines Sohnes). Darüber hinaus ist anzumerken, dass - davon geht ersichtlich auch die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden aus - sowohl die Klägerin als auch ihr Bruder zweifelsfrei schwere Verletzungen aufwiesen, die ihren Angaben entsprechend auf die Misshandlungen durch Ihren Onkel zurückgeführt werden können.

Akteur der oben dargestellten Verfolgung war damit in erster Linie der Stiefonkel der Klägerin und deshalb nicht unmittelbar der Staat Afghanistan. Diese Verfolgung ist aber dem Staat zurechenbar, da die Klägerin nicht den Schutz des Staates oder hinreichend mächtiger Parteien, Organisationen oder internationaler Organisationen in Anspruch nehmen konnte. Denn insbesondere ist die Islamische Republik Afghanistan erwiesenermaßen nicht in der Lage, Schutz vor der Zwangsverheiratung durch nichtstaatliche Akteure zu bieten. Dies wäre dann der Fall, wenn der Staat geeignete Schritte eingeleitet hätte, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame und durchsetzbare Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung der Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn die Klägerin Zugang zu diesem Schutz gehabt hatte. Nach der oben bereits dargelegten Auskunftslage sind diese Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt.

b) Ausgehend von der zugunsten der Klägerin als Vorverfolgten eingreifenden Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sie im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit weiterhin von der oben dargestellten Verfolgung bedroht ist bzw. Repressionen seitens ihres Stiefonkels ausgesetzt sein wird.

So liegen bereits keine Anhaltspunkte dafür, vor, dass der Stiefonkel nicht mehr in Ghazni lebt oder dass er die noch immer jugendliche Klägerin als Ehefrau für seinen Sohn haben will. Selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, so sprechen jedenfalls keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass sie Misshandlungen durch ihren Stiefonkel aufgrund der dargestellten Vorgeschichte ernsthaft zu befürchten hätte. [...]