OVG Sachsen

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OVG Sachsen, Beschluss vom 13.02.2014 - 3 B 415/13 - asyl.net: M21962
https://www.asyl.net/rsdb/M21962
Leitsatz:

1. Für die Ermittlung der örtlich zuständigen Behörde ist zunächst festzustellen, welches Bundesland die Verbandskompetenz zur Sachentscheidung und zur Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen besitzt.

2. Diese Frage ist mangels spezieller koordinierter landesrechtlicher Kompetenzregelungen durch entsprechende Anwendung der mit § 3 VwVfG übereinstimmenden Regelungen über die örtliche Zuständigkeit in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder zu beantworten (Anschluss: BVerwG, 2012–03–22, 1 C 5/11, BVerwGE 142, 195; VGH Mannheim, 2013–12–10, 6 S 2112/13, GewArch 2014, 83).

3. Ein Häftling kann am Ort seiner Inhaftierung einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen.

Schlagwörter: Verbandskompetenz, gewöhnlicher Aufenthalt, Zuständigkeit, örtliche Zuständigkeit, Fortbestandswirkung, Fortgeltungsfiktion, sachliche Zuständigkeit, Ausländerbehörde, Inhaftierung, Verlängerungsantrag, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Haftort, Justizvollzugsanstalt,
Normen: AufenthG § 81 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

aa) Ohne Erfolg macht der Antragsteller geltend, sowohl im Hinblick auf die Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis als auch hinsichtlich eventuell erforderlicher aufenthaltsbeendender Maßnahmen sei nunmehr der Freistaat Bayern zuständig, in dessen räumlichen Bereich er gemäß einer Bewährungsauflage des Landgerichts Gera seit dem 27. März 2013 bei einem Verwandten wohne. Da die Ausführungen des Verwaltungsgerichts hierzu (S. 9 unten, 10 oben der Verwaltungsakte) auch dem Senat nicht recht verständlich erscheinen, ist der diesbezügliche Beschwerdevortrag zwar als noch ausreichend im Sinne des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO zu werten. In der Sache verhilft er der Beschwerde jedoch nicht zum Erfolg.

Für die Ermittlung der örtlich zuständigen Behörde ist zunächst festzustellen, welches Bundesland die Verbandskompetenz zur Sachentscheidung und zur Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen besitzt. Diese Frage ist mangels spezieller koordinierter landesrechtlicher Kompetenzregelungen durch entsprechende Anwendung der mit § 3 VwVfG übereinstimmenden Regelungen über die örtliche Zuständigkeit in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder zu beantworten (BVerwG, Urt. v. 22. März 2012 - 1 C 5.11 -, juris Rn. 19, Fricke, jurisPR-BVerwG 15/2012 Anm. 1; VGH BW, Beschl. v. 10. Dezember 2013 - 6 S 2112/13 -, juris Rn. 46; a. A. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 14. Aufl. 2013, § 3 Rn. 3 unter Bezug auf ältere Rechtsprechung). Die Verbandskompetenz beurteilt sich mithin nach § 1 SächsVwVfZG i. V. m. § 3 VwVfG und nicht nach § 71 Abs. 1 AufenthG i. V. m. §§ 1 und 2 SächsAAZuVO. Danach besaß hier der Freistaat Sachsen bei Bescheiderlass am 23. Juli 2012 die Verbandskompetenz für die Sachentscheidung, und er hat sie auch aktuell noch inne.

Aus der entsprechenden Anwendung des § 1 SächsVwVfZG i. V. m. § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG ergibt sich, dass die Ausländerbehörden des Freistaates Sachsen für die Bescheidung des Verlängerungsbegehrens des Antragstellers und der Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen zuständig waren und sind. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG ist in Angelegenheiten, die eine natürliche Person betreffen, die Behörde zuständig, in deren Bezirk die Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte. Vor seiner Überstellung in die Justizvollzugsanstalt H./ T. am 26. Januar 2012 hatte der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Sachsen, wo er seit 2001 lebte. Der Senat lässt dahingestellt, ob der Antragsteller im Zuge seiner Verlegung in die Justizvollzugsanstalt H. dort einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt, der grundsätzlich die Verbandskompetenz des Landes T. nach sich gezogen hätte, begründet haben kann. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Legaldefinition des gewöhnlichen Aufenthalts in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I ist geklärt, dass auch ein Zwangsaufenthalt einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen kann; dabei kommt es darauf an, ob die Umstände, unter denen sich der Betroffene aufhält, ein nicht nur vorübergehendes Verweilen erkennen lassen. Demgemäß ist es eine Frage des Einzelfalls, ob bei der Verbüßung einer Freiheitsstrafe der Haftort den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts darstellt (BVerwG, Beschl. v. 8. Dezember 2006 - 5 B 65.06 -, juris Rn. 2; BVerwG Urt. v. 4. Juni 1997 - 1 C 25.96 -, juris Rn. 16 f.). Bei der Beurteilung ist nicht allein auf die Dauer der Inhaftierung abzustellen, sondern es sind auch die sonstigen Lebensumstände zu berücksichtigen (BVerwG, Urt. v. 4. Juni 1997 a.a.O. Rn. 18). Gemessen daran bestehen hier zumindest Zweifel am Fortbestand des gewöhnlichen Aufenthalts des Antragstellers in Sachsen. Denn der Antragsteller verbrachte in der Justizvollzugsanstalt H. nicht allein eine um ca. zwei Monate längere Haftzeit (vom 26. Januar 2012 bis zur Aussetzung der Reststrafe nach Verbüßung von mehr als Zweidrittel der Strafe zum 27. März 2013) als in Sachsen (vom 4. Januar 2011 bis 25. Januar 2012). Vielmehr hatte er bereits kurze Zeit nach seiner Verlegung nach H. laut einem Aktenvermerk vom 14. Februar 2012 (Bl. 403 der Verwaltungsakte) der dortigen Justizvollzugsanstalt mitgeteilt, dass er beabsichtige, "nach seiner Entlassung in B. (richtig: H.) bei seinem Schwager zu wohnen, der ihn unterstützen wolle". Hintergrund für seine Absicht, nicht mehr nach Sachsen zurückzukehren, dürfte die seitens seiner Ehefrau vollzogene Trennung und sein offenbar schweres Augenleiden gewesen sein, dessentwegen er Unterstützung benötigte und die Justizvollzugsanstalt zum damaligen Zeitpunkt sogar eine vorzeitige Entlassung nach Verbüßung der Hälfte der Strafe zum 3. April 2012 für möglich erachtete.

Ob der von dem Antragsteller nur für die verbleibende Haftdauer in H. zwangsweise hingenommene Aufenthalt wegen des ungewissen Entlassungstermins vor dem Ende der vollen Strafhaft am 4. Juli 2013 nicht bloß vorübergehenden, sondern gewöhnlichen Charakter gehabt hatte, kann indes offen bleiben. Denn selbst wenn dies zu bejahen wäre, fehlt es nicht an der fortbestehenden Verbandskompetenz des Freistaates Sachsen. Diese folgt dann nämlich aus der entsprechenden Anwendung von § 1 SächsVwVfZG i. V. m. § 3 Abs. 3 VwVfG. Nach dieser Vorschrift kann bei einer sich im Lauf des Verwaltungsverfahrens ergebenden Änderung der die Zuständigkeit begründenden Umstände, hier des gewöhnlichen Aufenthalts, die bisher zuständige Behörde das Verwaltungsverfahren fortführen, wenn dies unter Wahrung der Interessen der Beteiligten der einfachen und zweckmäßigen Durchführung des Verfahrens dient und die nunmehr zuständige Behörde zustimmt. Diese Voraussetzungen sind jedenfalls erfüllt. Es dient nämlich der einfachen und zweckmäßigen Durchführung des Verwaltungsverfahrens, wenn die Ausländerbehörde des Antragsgegners, die im Falle des Antragstellers die Ermittlungen zur nach § 31 Abs. 4 AufenthG maßgeblichen Ehebestandszeit getroffen hatte, auf deren Grundlage über die Ablehnung des weiteren Aufenthalts des Antragstellers zu entscheiden war, das Verfahren fortführt. Ein entgegenstehendes Interesse des Antragstellers, der sich wenn überhaupt nur zwangsweise für die Dauer der verbleibenden Strafhaft in T. aufhalten wollte, ist nicht erkennbar. Der Fortführung des Verfahrens durch den Antragsgegner hat das Landratsamt Greiz ausweislich seines Schreibens vom 17. Januar 2012 (Bl. 402 der Verwaltungsakte), mit dem für den Fall, dass der Antragsgegner "die Ausländerakte in eigener Zuständigkeit behalten" sollte, um kurze schriftliche Mitteilung gebeten worden war, auch konkludent zugestimmt.

Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist die analog § 1 SächsVwVfZG i.V.m. § 3 Abs. 3 VwVfG fortbestehende Verbandskompetenz des Freistaates Sachsen auch nicht infolge seines Zuzugs nach H. nach seiner Haftentlassung zum 27. März 2012 entfallen. Dadurch konnten sich die die Zuständigkeit begründenden Umstände, d. h. der analog § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG maßgebliche gewöhnliche Aufenthalt des Antragstellers, nicht mehr erneut im Verlaufe des nunmehr bei der Landesdirektion Sachsen anhängigen Vorverfahrens ändern. Denn zum Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts gehört es, dass sich der Betroffene ebendort nicht nur vorübergehend, sondern auf unabsehbare Zeit aufhält, so dass eine Beendigung des Aufenthalts ungewiss ist. Dazu reicht der Wille, sich dauerhaft aufzuhalten, nicht aus. Vielmehr muss der Betroffene hierzu auch die Möglichkeit haben. Daran fehlt es, wenn er nach den gegebenen Umständen nicht im Bundesgebiet bleiben kann, weil sein Aufenthalt in absehbarer Zeit beendet werden wird. Dies zu entscheiden und vor allem durchzusetzen, ist Sache der zuständigen Ausländerbehörden. Wenn nach dem Aufenthaltsgesetz oder nach den aufgrund dieses Gesetzes getroffenen Anordnungen der Ausländerbehörde ein Ende des Aufenthalts des Betroffenen abzusehen ist, ist die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts ausgeschlossen. Ein gewöhnlicher Aufenthalt kommt in solchen Fällen nur dann in Betracht, wenn die Ausländerbehörde den Aufenthalt auf nicht absehbare Zeit hinnimmt. Das Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthalts wird daher durch die ausländerbehördlichen Entscheidungen und deren Durchsetzung beeinflusst (vgl. BVerwG, Urt. v. 28. September 1993 - 1 C 1.93 -, juris Rn. 14 f. zum synonymen Begriff des dauerhaften Aufenthalts).

Ausgehend davon konnte der Antragsteller nach Fortfall der Fortbestandswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG durch Erlass des angegriffenen Bescheids vom 23. Juli 2012 im März 2013 keinen gewöhnlichen Aufenthalt in H. begründen, weil er nicht mehr im Besitz einer für das Bundesgebiet gültigen Aufenthaltserlaubnis, sondern nach § 50 Abs. 1, § 58 Abs. 2 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig war. Damit war sein Aufenthalt zugleich kraft Gesetzes nach § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auf das Gebiet des Freistaates Sachsen als desjenigen Landes beschränkt, durch dessen Entscheidung er vollziehbar ausreisepflichtig geworden ist. Im Übrigen hat das Landratsamt Hof per e-Mails vom 2. und 4. April 2013 (Bl. 606 und 636 der Verwaltungsakte) dem Zuzug nach H. im Hinblick auf die räumliche Beschränkung des Aufenthalts des Antragstellers auf den Freistaat Sachsen auch widersprochen. Der Umstand, dass der Antragsgegner dem Antragsteller mit Schreiben vom 28. Mai 2013 im Hinblick auf die Bewährungsauflage des Landgerichts Gera und die Unterstützungsbedürftigkeit des Antragstellers gemäß § 12 Abs. 5 Satz 1 AufenthG erlaubt hat, den Freistaat Sachsen zu verlassen und sich in H. aufzuhalten, konnte ebenfalls nicht zu einem dort neu begründeten gewöhnlichen Aufenthalt des Antragstellers führen. Denn der Antragsgegner hat diese Verlassenserlaubnis lediglich im Hinblick auf den angekündigten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, ursprünglich befristet bis 10. September 2013, erteilt und zugleich zu erkennen gegeben, dass er den Antragsteller danach "in Kürze" abschieben wolle. Auch die noch andauernde faktische Duldung des Aufenthalts des Antragstellers in H. ist der Dauer des anhängigen Beschwerdeverfahrens geschuldet und bringt nicht zum Ausdruck, dass der Antragsgegner den dortigen Aufenthalt des Antragstellers auf unabsehbare Zeit hinnehmen werde.

Nach alldem ist die Rüge der fehlenden Verbandskompetenz des Antragsgegners unbegründet. Nicht in Frage gestellt hat die Beschwerde, dass der Antragsgegner innerhalb des Freistaates Sachsen die für die Entscheidung örtlich und sachlich zuständige Ausländerbehörde ist.

bb) Soweit der Antragsgegner die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis als eheunabhängiges Aufenthaltsrecht nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG in der seit dem 1. Juli 2011 geltenden Fassung versagt hat, kann offen bleiben, ob das Verwaltungsgericht - wie die Beschwerde geltend macht - zu Unrecht bereits die Tatbestandsvoraussetzung der dreijährigen Mindestehebestandszeit abgelehnt hat. Das Verwaltungsgericht hat zusätzlich und selbstständig tragend darauf hingewiesen, dass der Verlängerungsanspruch ferner sowohl an der Regelerteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) als auch aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung wegen Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln an der Regelerteilungsvoraussetzung des Nichtvorliegens eines Ausweisungsgrundes (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) scheitert. Ist die angefochtene Entscheidung auf mehrere selbstständig tragende Erwägungen gestützt, so reicht es zur Erfüllung der oben genannten Darlegungsanforderungen nicht aus, wenn der Beschwerdeführer nur eine von ihnen angreift (SächsOVG, Beschl. v. 17. August 2006 a.a.O.). Dem genügt die Beschwerde, die sich zu den Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 AufenthG in keiner Weise verhält, nicht.

cc) Auch soweit der Antragsteller der Sache nach gegen den vom Verwaltungsgericht verneinten Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG pauschal einwendet, das Gericht habe sich nicht ausreichend mit einem Abschiebungshindernis aufgrund seiner Augenerkrankung befasst, kann die Beschwerde keinen Erfolg haben. Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass die Seheinschränkung nach ihrem Umfang und einem erwarteten zeitlichen Erblindungsverlauf nach Aktenlage nicht näher konkretisiert worden sei; ferner sei im Verhältnis zum Antragsgegner das Nichtbestehen eines gesundheitlichen oder sonstigen zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses nach § 24 Abs. 2 AsylVfG durch das Bundesamt bindend festgestellt worden und ein Asylfolgeantrag nicht ersichtlich. Auch mit diesen Ausführungen setzt sich der Antragsteller nicht - wie nach § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO erforderlich - auseinander. Die Beschwerde genügt insoweit ebenfalls nicht ansatzweise den gesetzlichen Darlegungsanforderungen. [...]