VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 21.02.2013 - 8 K 738/10.A - asyl.net: M21722
https://www.asyl.net/rsdb/M21722
Leitsatz:

Angesichts der Stärke der yezidischen Volksgruppe und ihres Vernetzungsgrades in Georgien kann bei einer drohenden Gefahr der Verfolgung von Yeziden in Form von körperlicher Gewalt, Zwangsverheiratung und Ehrenmord durch Familienmitglieder als nichtstaatliche Akteure nicht von einer Schutzfähigkeit des georgischen Staates ausgegangen werden.

Schlagwörter: Georgien, Yesiden, Endogamie, nichtstaatliche Verfolgung, Ehrenmord, Zwangsehe, Zwangsverheiratung, Schutzfähigkeit, Ehe, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylVfG § 3, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben sind vorliegend die Voraussetzungen für eine Zuerkennung Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG erfüllt. Das Gericht ist zu der Erkenntnis gelangt, dass dem Kläger zu 1. und der Klägerin zu 2. im Fall einer - freiwilligen oder zwangsweisen - Rückkehr den Schutzbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG unterfallende Rechtsverletzungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass der Kläger 2. u 1. und die Klägerin zu 2. ihr Heimatland wegen einer bereits eingetretenen oder unmittelbar drohenden politischen Verfolgung verlassen hat. Dabei geht das Gericht im Wesentlichen von folgendem Sachverhalt aus:

Der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. sind in Georgien von nichtstaatlichen Akteuren i.S.d. § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG geschlagen und ernstlich mit körperlicher Gewalt und dem Tod bedroht worden. Bei diesen Akteuren handelt es sich einerseits um die yezidische Familie des Klägers zu 1. und die von dieser Familie instrumentalisierten Helfer und andererseits um den früheren Verlobten der Klägerin zu 2., der um die seitens der yezidischen Familie ausgestoßenen Drohungen weiß und der Verbindungen ins kriminelle Milieu unterhält. Die Drohungen hatten auch zum Inhalt, die damals noch ungeborene Klägerin zu 3. zu töten.

Dieser Sachverhalt ist zur Überzeugung des Gerichts dargelegt. Angesichts des in der yezidischen Glaubensgemeinschaft herrschenden Dogmas der Endogamie, also des strikten Verbots, Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften zu heiraten, ist die Motivation der nichtstaatlichen Akteure offenbar. Nach der Glaubensüberzeugung der Yeziden sind diese aus dem Samen des androgynen (mann-weiblichen) Adam entstanden, während alle anderen Völker der Erde von Zwillingspaaren abstammen. Die Yeziden sehen sich nicht nur als das älteste Volk der Erde, sondern fühlen sich vor allem auch dadurch ausgezeichnet, dass ihre Entstehung wegen des Ursprungs im androgynen (mann-weiblichen) Adam nicht mit sexuellem Begehren verbunden ist. Sie verstehen sich deshalb als ein auserwähltes Volk, das stolz auf seine Besonderheit und Reinheit und auf die Tatsache ist, dass sie allein von Adam abstammen und bis heute sich nicht mit anderen Gruppen vermischt haben, mithin ihr Blut rein geblieben ist (vgl. Gernot Wießner, "... in das tötende Licht einer fremden Welt gewandert - Geschichte und Religion der Yezidi, Yeziden-Colloquium.de, ders. in Auskunft vom 13. Dezember 1993 an das OVG NRW; llhan Kizilhan, Die alte yezidische Gemeinschaft im Zeitalter der Globalisierung in: Yeziden - Eine alte Religionsgemeinschaft

zwischen Tradition und Moderne, Hrsg,: Deutsches Orient-Institut, Oktober 2003).

Die unbedingte Loyalität zur Familie und den Blutsverwandten spielt in der traditionellen yezidischen Gesellschaft eine überragende Rolle (llhan Kizilhan, a.a.O.), wobei man die Yeziden als eine archaische Gesellschaft bezeichnen kann (Gernot Wießner, a.a.O.).

In einem Urteil des Landgerichts Detmold vom 16. Mai 2012 - 4 Ks 31 Js 1086/11 - 10/12 - wird ausgeführt, das religiöse Verbot der Heirat von Nichtyeziden sei

"...nach dem Verständnis des Jesidentums notwendig, um das Kollektiv zu schützen und zu bewahren. Seine Interessen gehen vor. Das Individuum spielt nur eine sekundäre Rolle. Toleranz gegenüber den eigenen Gläubigen, wenn sie die religiösen Vorschriften nicht einhalten, ist kaum vorhanden."

... Das Familienoberhaupt "hat die Aufgabe, das Verhalten der übrigen Familienmitglieder zu kontrollieren und bei einem ungebührlichen Verhalten zu bestrafen. Die Verletzung der Ehre ist dabei gleichsam identisch mit einem Angriff auf die Körperlichkeit, die daher im Idealfall nur mit einem Angriff auf die Körperlichkeit des Ehrverletzers oder der Ehrverletzerin ausgeglichen werden kann. Nicht selten spielt hier auch der soziale Druck der Gemeinschaft eine wesentliche Rolle, Die Angst vor einem "Gesichtsverlust" innerhalb der sozialen Gemeinde kann ein aktives Vorgehen gegen den Ehrverletzer verstärken."

Es ist glaubhaft, dass hier die Familie des Klägers zu 1. und ihre religiöse Gemeinschaft als Personen, die ihre religiösen Überzeugungen mit einem unumstößlichen Wahrheitsanspruch unterlegen, bereit und sogar in hohem Umfang motiviert sein können, bei Zuwiderhandlungen mit allen Mitteln die für sie verbindliche "Ordnung" wieder herzustellen.

Hier schneidet sich die daraus folgende Gefahrenlage mit den von einem weiteren nichtstaatlichen Akteur ausgehenden Bedrohungen. Die eigenen Interessen des früheren, gewaltbereiten Verlobten der Klägerin zu 2., decken sich mit denen der yezidischen Familie des Klägers zu 1. und ihrer Helfer und gehen dahin, die Beziehung der Klägerin zu 2. und des Klägers zu 1. ebenfalls mit allen Mitteln zu beenden, notfalls die sich Widersetzenden zu töten und auch die Klägerin zu 3. in diese Bedrohung einzuschließen. Die Intensität der Gefahr ist noch dadurch gesteigert, dass der frühere Verlobte nach den glaubhaften Schilderungen der Kläger Verbindungen ins kriminelle Milieu unterhält, die er sich und der Gruppe der yezidischen Verfolger nutzbar machen kann.

Die sich hieraus entwickelnde Gefahr hat sich im Heimatland der Kläger schon realisiert: Indem der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. geschlagen und ernstlich mit körperlicher Gewalt und dem Tod bedroht worden sind, waren sie nicht lediglich Belästigungen, sondern Rechtsverletzungen von asylrechtlicher Relevanz und mit asylrechtlicher Intensität ausgesetzt, die die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllen. Die erlittenen und drohenden Verfolgungshandlungen betreffen die geschützten Rechtsgüter von Leib und Leben und verletzen darüber hinaus ihre Menschenrecht auf Nichtdiskriminierung in erheblicher Weise.

Das Gericht geht davon aus, dass es dem Kläger zu 1. und der Klägerin zu 2. nicht möglich war und ist, gegenüber den von nicht staatlichen Akteuren erfolgten und drohenden Verfolgungsmaßnahmen Schutz durch staatliche Sicherheitsbehörden zu erlangen, vgl. § 60 Abs, 1 Satz 4 c) AufenthG i.V.m. Art. 7 RL 2004/83/EG.

Es ist nicht anzunehmen, dass es dem georgischen Staat im vorliegenden Einzelfell an der grundsätzlichen Schutzbereitschaft mangelt. Diese Frage, der Grad der Einsatzbereitschaft der georgischen Polizei im Bereich familiärer Auseinandersetzungen und Bedrohungen, die aus der Verletzung religiöser Vorgaben folgen, und die richtige polizeiliche Einschätzung des gegebenen Gefahrenpotenzials mögen dahin stehen. Zu verneinen ist jedenfalls die Schutzfähigkeit. Angesichts der Stärke der yezidischen Volksgruppe in Georgien und ihres Vernetzungsgrades, hier noch verstärkt durch das kriminelle Netzwerk des ehemaligen Verlobten der Klägerin zu 2., wird der georgische Staat schon rein faktisch nicht in der Lage sein, den Kläger zu 1. die Klägerin zu 2. und ihre Tochter permanent zu schützen. Ein solch dauerhafter Schutz wäre aller Wahrscheinlichkeit nach erforderlich, da es keinen Mechanismus gibt, aufgrund dessen der begangene elementare Regelverstoß für die yezidische Gemeinschaft "verzeihlich" wird.

Der Hinweis des Prozessbevollmächtigten der Kläger, wonach offenbar nicht einmal in der Bundesrepublik Deutschland "Ehrenmorde" innerhalb der yezidischen Gemeinschaft verhinderbar und daher in Georgien umso mehr wahrscheinlich seien, ist nicht von der Hand zu weisen. Selbst hier, wo der Umfang der Integrationsmöglichkeiten bzw. des Integrationsangebots und der Einfluss der "Mehrheitsgesellschaft" auf die Yeziden mutmaßlich weitaus größer sind als in Georgien und wo davon auszugehen oder zu hoffen ist, dass nach den Anschauungen der Mehrzahl der Yeziden religiöse Regelverstöße nicht zwingend mit Gewalt zu beantworten sind, hat es tatsächlich Morde an yezidischen Frauen gegeben, die sich andersgläubigen Partnern zugewandt hatten. Dies geschah 2003 im Fall eines jungen yezidischen Mädchens in Celle, das eine Verbindung zu einem Pakistani aufgenommen hatte und deswegen von ihrer Familie durch die ganze Bundesrepublik und sogar bis in die Niederlande verfolgt wurde, und zuletzt in Gestalt des Mordes an der jungen Yezidin der trotz vorheriger Anzeigen bei der Polizei, Flucht ins Frauenhaus und eingeleiteter Namensänderung geschah, abgeurteilt durch das oben erwähnte Urteil des Landgericht Detmold vom 16. Mai 2012 (vgl. auch Düchting, Ehrenmorde in der yezidischen Gesellschaft, www.ezidische-akademie.de/de/frauen/63-frauen/173).

Nach einem Bericht über den erstgenannten Mord von 2003 setzen "die Clans" die archaischen Heiratsregeln notfalls mit Gewalt durch. Zehn ähnliche Dramen um Zwangsverheiratungen bzw. flüchtende junge Yezidinnen und Yeziden bearbeite die Polizei allein im Raum Celle pro Jahr, wo etwa 5.000 Yeziden leben. Sie suchten Zuflucht auf dem Polizeirevier oder beim Jugendamt, sie bekämen eine neue Identität, würden in andere Städte gebracht, gelegentlich sogar ins Ausland. Die Familien wollten die Abtrünnigen oft mit Gewalt zurückholen oder sich einfach rächen. Um den Flüchtigen auf die Spur zu kommen, beauftragten sie auch Detektive oder die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK. Diese unterhalte nach Einschätzung der Polizei einen regelrechten Fahndungsdienst, um die Abtrünnigen aufzuspüren (Fröhlingsdorf, Jagd auf Sükrüya, Der Spiegel 2/2003).

Der Anteil von Yezidinnen an allen Frauen, die sich in Deutschland aufgrund einer bevorstehenden Zwangsheirat an Beratungseinrichtungen wandten, lag im untersuchten Zeitraum bei 9,5 % (Mirbach, Schaak, Triebl: Zwangsverheiratung in Deutschland - Anzahl und Analyse von Beratungsfällen, Wissenschaftliche Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 2011, S. 34/35).

Ähnlich verhält es sich aller Wahrscheinlichkeit nach in Polen, wo der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. über den entfernten Verwandten als verlängertem Arm der yezidischen Familie des Klägers zu 1. nach ihren glaubhaften Schiiderungen ebenfalls bedroht wurden.

Bei dieser Darstellung der Bedrohungslage in Deutschland und Polen verliert das Gericht nicht aus den Augen, dass es hier um die Frage der Schutzfähigkeit des georgischen Staates geht. Der Blick auf die Lage in der Bundesrepublik Deutschland mag mit der Einschätzung enden, dass die betreffenden Gefahren hier aufgrund der weitaus geringeren Zahl der Yeziden als in Georgien, der unterstellten milderen Befindlichkeit der yezidischen Gemeinschaft und andererseits der Effektivität staatlicher Schutzmöglichkeiten nur im Einzelfall in Tötungen umschlagen. Er rechtfertigt aber auch die Würdigung, dass in Georgien, dort, wo diese gefahrreduzierenden Komponenten nicht vorhanden sind, nicht von einer hinreichenden staatlichen Schutzfähigkeit ausgegangen werden kann. Dies gilt jedenfalls in diesem besonderen Einzelfall, in dem sich die Bedrohung durch die yezidische Familie und ihre Helfer mit der Bedrohung durch den gewaltbereiten ehemaligen Verlobten der Klägerin zu 2. paart, der mit oder in der kriminellen Szene vernetzt ist.

Aus den letztgenannten Gesichtspunkten folgt auch, dass hier keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stand und steht, vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG i.V.m. Art. 8 RL 2004/83/EG. Eine solche ist gegeben, wenn in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sich der Betroffene in diesen Landesteil begibt und dort aufhält. Selbst wenn man unterstellen würde, dass der Kläger zu 1., die Klägerin zu 3. und ihre Tochter in einem anderen Landesteil eine auskömmliche Existenz finden könnte, gilt, dass die oben dargelegten Gefahren angesichts der geographischen Überschaubarkeit Georgiens, der Anzahl der dort lebenden Yeziden, des Grades ihrer Vernetzung und der zusätzlich bzw. damit zusammen wirkenden Bedrohung durch den ehemaligen Verlobten der Klägerin zu 2. und des Zusammenwirkens beider Bedrohungsquellen als allgegenwärtig erscheinen.

Aus der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für den Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. folgt, dass der Klägerin zu 3. im Wege des Familienflüchtlingsschutzes nach Maßgabe des § 26 Abs. 2, 4 AsylVfG die Flüchtlingseigenschaft auf Antrag zuerkannt wird, wenn und sobald die gerichtliche Entscheidung hinsichtlich des Klägers zu 1. und der Klägerin zu 2. rechtskräftig wird. [...]