VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 14.11.2013 - 5a K 2879/11.A - asyl.net: M21317
https://www.asyl.net/rsdb/M21317
Leitsatz:

Wegen des in Afghanistan weit verbreiteten und auch von den Taliban praktizierten Prinzips der Sippenhaft besteht für die Familienangehörigen eines Geheimdienstmitarbeiters Verfolgungsgefahr.

Schlagwörter: Geheimdienst, Taliban, Sippenhaft, Blutrache, Familienehre, interne Fluchtalternative, Afghanistan,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Das Vorbringen des Klägers bezüglich seiner individuellen Bedrohung hat das Gericht als glaubhaft überzeugt. Dies gilt zum einen für die Bedrohung durch die Taliban. Der Kläger ist durch die Tätigkeit seines Vaters für den Geheimdienst in das Blickfeld der Taliban geraten. Dass der Vater des Klägers durch die Taliban persönlich bedroht worden ist, steht für das Gericht außer Zweifel. Der Kläger hat nachvollziehbar vorgetragen, dass sein Vater im Rahmen seiner Tätigkeit für den Geheimdienst auch für die Bekämpfung der Taliban zuständig war und dass er in diesem Zusammenhang auch Kommandanten bzw. Gruppenführer der Taliban hat verhaften lassen. Dass er sich damit den Zorn der Taliban zugezogen hat, liegt nach Überzeugung des Gerichts auf der Hand. Deshalb ist der Vater von den Taliban auch konkret bedroht worden. Wegen des in Afghanistan weit verbreiteten und auch von den Taliban praktizierten Prinzips der Sippenhaft sieht das Gericht es als hinreichend wahrscheinlich an, dass auch der Kläger als Sohn des Geheimdienstlers weitere Verfolgungsmaßnahmen befürchten muss. Daran dürfte auch der Tod des Vaters, der nicht durch die Taliban herbeigeführt worden ist, nichts geändert haben.

Die zu befürchtenden Gewalttaten gegen den Kläger durch die landesweit agierenden Taliban sind auch dem afghanischen Staat zuzurechnen, da dieser Staat nach den in das Verfahren eingeführten Auskünften selbst in Kabul, wo der afghanische Staat Gebietsgewalt hat, offensichtlich nicht in der Lage ist, seine Bevölkerung vor Angehörigen dieser Organisation zu schützen.

Ist der Kläger dieser Gestalt in das Visier der Taliban geraten, kommt eine Rückkehr nach Afghanistan nicht in Betracht, da auch bei einer Rückkehr des Klägers eine erneute Verfolgung in beachtlicher Weise wahrscheinlich ist: Die paschtunische Volkszugehörigkeit des Klägers (vgl. insoweit auch: Dr. M. Danesch, Auskunft an das Oberverwaltungsgericht Lüneburg v. 30. April 2013 zum Az.: 9 LB 2/13) und der Umstand, dass er schon vor seiner Ausreise in das Visier der Taliban geraten ist, führen dazu, dass der Kläger wiedererkannt werden wird. Das durch seine Flucht entstandene Misstrauen der Taliban dem Kläger gegenüber wird sich durch seinen Aufenthalt in der Bundesrepublik weiter verfestigt haben. Das hat zur Folge, dass der Kläger aufgrund der der Taliban eigenen Brutalität bei einer Rückkehr nach Afghanistan landesweit akuter Lebensgefahr ausgesetzt sein wird. Deshalb steht dem Kläger auch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.

Eine weitere Bedrohung hat der Kläger aus dem Umstand zu befürchten, dass er Beziehungen zu einer jungen Frau gegen den Willen ihrer Familie unterhalten hat. Die Familie der Freundin des Klägers hat dessen Eltern und ihre eigene Tochter getötet bei einem Angriff, der offenbar dem Kläger galt; Hintergrund war die aus Sicht der Familie der Freundin des Klägers durch die Beziehung verursachte Beschmutzung der Familienehre. Damit wurde ersichtlich eine Familien- und Blutrachefehde ausgelöst. Auf Grund dieser Blutrache unterliegt der Kläger einer konkreten Leibes- und Lebensgefahr. Wie sich aus den dem Gericht zur Verfügung stehenden Auskünften ergibt, wird die Blutrache in Afghanistan nach wie vor praktiziert. Nach dem uralten Kodex der Blutrache, der insbesondere nach dem Ehren- und Verhaltenskodex der Paschtunen herrscht, ist es das Recht und sogar die Pflicht, den Tod von Angehörigen oder die Beschmutzung der Familienehre zu rächen. Diese Pflicht betrifft nicht nur die engsten Verwandten wie Sohn oder Vater, sondern erstreckt sich auf alle männlichen Familienmitglieder. Solche Racheansprüche verjähren in der traditionellen afghanischen Denkweise nicht, sondern auch 20 Jahre oder länger zurückliegendes Unrecht wird heute noch gerächt. Diese Art von Blutrache und Sippenhaft herrscht nicht nur in besonders rückständigen Gebieten vor, sondern in allen Teilen der afghanischen Gesellschaft und ist allgemein akzeptiert. Mit Strafverfolgung brauchen Urheber solcher Ehrenmorde nicht ernsthaft zu rechnen. Blutrache bedeutet, dass die gesamte Familie eines Gegners betroffen ist, auch Kleinkinder werden nicht ausgenommen (vgl. VG Augsburg, Urteil vom 12. Mai 2011 - Au 6 K 10.30524 -, juris-Dokument unter Hinweis auf Danesch, Gutachten vom 23.5.2006 an das VG Chemnitz; VG Würzburg vom 2.6.2005, Az. W 6 K 04.30136.). [...]