VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - asyl.net: M21265
https://www.asyl.net/rsdb/M21265
Leitsatz:

Ablehnung der Anträge des Bundesamtes auf Berufungszulassung gegen mehrere Urteile des VG Karlsruhe, mit denen syrische Staatsangehörige wegen drohender Verhöre über die Exilopposition als Flüchtlinge anerkannt wurden.

Schlagwörter: Syrien, Berufungszulassung, Berufungszulassungsantrag, Antrag auf Zulassung der Berufung, Rückkehrgefährdung, Grundsätzliche Bedeutung, Darlegungslast, Darlegungserfordernis, Rückkehrerbefragung, Verhör, Asylrelevanz, Gerichtetheit, Folter, Intensität der Eingriffe, freiwillige Ausreise,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 78 Abs. 4 S. 4,
Auszüge:

[...]

Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem die Beklagte den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) geltend macht, hat keinen Erfolg.

Der Antrag genügt nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG. Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache ist nur dargelegt, wenn in Bezug auf die Rechtslage oder die Tatsachenfeststellung eine konkrete Frage aufgeworfen und erläutert wird, warum diese bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht geklärte Probleme aufwirft, die über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus bedeutsam sind und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlich geklärt werden müssen. Es muss deshalb in der Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung deutlich werden, warum prinzipielle Bedenken gegen einen vom Verwaltungsgericht in einer konkreten Rechts- oder Tatsachenfrage eingenommenen Standpunkt bestehen, warum es also erforderlich ist, dass sich das Berufungsgericht noch einmal klärend mit der aufgeworfenen Frage auseinandersetzt und entscheidet, ob die Bedenken durchgreifen. Wird eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Bereich der Tatsachenfeststellungen geltend gemacht, erfordert das Darlegungsgebot insbesondere, dass die Antragsbegründung erkennen lässt, warum das Verwaltungsgericht die tatsächlichen Verhältnisse in einer über den Einzelfall hinausgehenden Weise unzutreffend beurteilt haben soll, dass also z.B. einschlägige Erkenntnisquellen unberücksichtigt geblieben oder fehlerhaft gewürdigt worden seien, dass das Gewicht einer abweichenden Meinung verkannt worden sei und dass die Bewertungen des Verwaltungsgerichts deshalb nicht haltbar seien. Schließlich muss dargelegt werden, warum die aufgeworfene konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage für das Verwaltungsgericht erheblich war und warum sie sich auch im Berufungsverfahren als entscheidungserheblich stellen würde. Im Falle einer geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung in tatsächlicher Hinsicht ist es regelmäßig erforderlich, dass sich die Begründung des Zulassungsantrags unter Durchdringung des Streitstoffs substantiiert in tatsächlicher Hinsicht mit den Feststellungen des Verwaltungsgerichts auseinandergesetzt und diesen konkrete abweichende Erkenntnismittel entgegengestellt, aus denen sich jedenfalls begründete Zweifel an der Auffassung des Verwaltungsgerichts ablesen lassen und die es erforderlich machen, erneut in einem Berufungsverfahren umfassende Sachverhaltsfeststellungen zu treffen (vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 15.03.2000 - A 6 S 48/00 - juris und vom 28.05.1997 - A 16 S 1388/97 - AuAS 1997, 261; OVG NRW, Beschluss vom 21.03.2007 - 15 A 750/07.A - juris; HessVGH, Beschlüsse vom 28.01.1993 - 13 UZ 2018/92 - juris und vom 13.09.2001 - 8 UZ 944/00.A - InfAusIR 2002, 156; SächsOVG, Beschluss vom 02.01.2013 - A 4 A 25/11 - juris; Berlit, in: GK-AsylVfG § 78 Rn. 609 ff.; Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 124a Rn. 214).

Nach diesen Grundsätzen rechtfertigen die von der Beklagten in tatsächlicher Hinsicht aufgeworfenen Fragen, "ob unverändert davon auszugehen ist, die syrischen Stellen würden im Fall der Rückkehr bei allen Einreisenden der o.a. Gruppe (d.h. denjenigen syrischen Staatsangehörigen, die illegal ausgereist sind, nicht nur kurzfristig im Ausland verblieben und ggfs. dort Asyl beantragten) oder jedenfalls (bei) denen ab einem bestimmten Lebensalter generell weiterhin davon ausgehen, die Betreffenden hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt, und würden sie deshalb bis zur vollständigen Abschöpfung verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen", und "ob die syrischen Stellen überhaupt noch die nötigen Ressourcen dazu haben, eine solche umfassende Abschöpfung umzusetzen", nicht die Zulassung der Berufung. Denn eine grundsätzliche Bedeutung wird nicht nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, weshalb der Antrag nicht dem Darlegungserfordernis genügt.

Das Verwaltungsgericht geht mit den Feststellungen im angegriffenen Bescheid und unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Senats vom 29.05.2013 (A 11 S 930/13), mit der ein Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung abgelehnt worden war, davon aus, dass im Falle einer Abschiebung nach Syrien wegen der stattfindenden obligatorischen Rückkehrerbefragung zur allgemeinen Informationsgewinnung über die Exilszene die konkrete Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung bis hin zur Folter bestehe. Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun. Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw. welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben, nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.

Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).

Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502186 - BVerfGE 80, 315 340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142 144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753196 - AuAS 1997,6) und auch in der Sache für den Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.

Die Beklagte geht im Übrigen in diesem Zusammenhang selbst davon aus, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren erfolgsversprechenden Ermittlungsmöglichkeiten mehr bestehen. Folge hiervon ist aber nicht, dass zwingend eine Beweislastentscheidung zulasten der Betroffenen zu treffen wäre. Denn bestehen ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach realistischer Lagebeurteilung keine naheliegenden Deutungsmöglichkeiten für eine fehlende Gerichtetheit, so ist - auch unter Berücksichtigung der Beweisnot der Betroffenen und der humanitären Zielsetzungen des Asyl- und Flüchtlingsrechts - von der naheliegenden und realistischen Alternative auszugehen.

Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. Denn die Beklagte argumentiert im Ansatz bereits widersprüchlich, hat sie doch ausdrücklich im angegriffenen Bescheid das Bestehen eines (anderen) Abschiebungsverbotes festgestellt. Da die von ihr herangezogene Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aber ebenfalls zu einem Abschiebungsverbot ergangen ist, hätte sie bei der von ihr für richtig erachteten Tatsachenlage gleichermaßen die Feststellung zu § 60 Abs. 2 AufenthG ablehnen müssen. Ungeachtet dessen ist aber die Argumentation der Beklagten in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr. Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner "peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht werden.

Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich hiernach als Spekulation. [...]