VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 10.10.2013 - Au 7 K 13.30278 - asyl.net: M21238
https://www.asyl.net/rsdb/M21238
Leitsatz:

Einer jungen, alleinerziehenden Mutter ohne ausreichende Schul- und Berufsausbildung und ohne ausreichenden familiären Rückhalt droht in Nigeria extreme Gefahr, da sie nicht in der Lage sein wird, sich eine Existenzgrundlage zu schaffen.

Schlagwörter: Nigeria, alleinerziehend, alleinstehende Frauen, Frauen, familiärer Rückhalt, Existenzminimum, extreme Gefahrenlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

II. Den Klägern ist Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.

Zwar kann weder die Versorgungslage in Nigeria, noch die Lebenssituation der Kläger für sich alleine eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen, diese jedoch in ihrer Summe begründen.

1. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

Maßgebend ist insoweit allein das Bestehen einer konkreten, individuellen Gefahr für die genannten Rechtsgüter (sog. individuelle Gefahren), ohne Rücksicht darauf, von wem die Gefahr ausgeht und auf welchen Ursachen sie beruht. Diese Gefahr muss dem Einzelnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, wobei im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal der "konkreten" Gefahr für "diesen" Ausländer als zusätzliches Erfordernis eine einzelfallbezogene, individuell bestimmte und erhebliche Gefahrensituation hinzutreten muss, die überdies landesweit droht (vgl. BVerwG, U.v. 21.9.1999 - 9 C 8/99 - NVwZ 2000, 206; OVG NRW, U.v. 5.4.2006 - 20 A 5161/04.A - juris).

Allerdings sind gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Danach soll bei allgemeinen Gefahren über die Gewährung von Abschiebeschutz durch eine politische Leitentscheidung befunden werden. Allgemeine Gefahren können daher auch dann kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen, wenn sie dem Ausländer konkret und in individualisierbarer Weise betreffen. Trotz bestehender konkreter erheblicher Gefahr ist danach die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gesperrt, wenn dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl von weiteren Personen im Zielstaat droht.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darf jedoch im Einzelfall Ausländern, die zwar einer allgemein gefährdeten Gruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG angehören, für welche ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 AufenthG zugesprochen werden, wenn kein anderes Abschiebungsverbot vorliegt und die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Dies ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr.; BVerwG, U.v. 12.7.2001 - 1 C 2.01 - BVerwGE 114, 379; U.v. 12.7.2001 - 1 C 5.01 - BVerwGE 115, 1; B.v. 23.8.2006 - 1 B 60.06 - juris; U.v. 29.6.2010 - 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226; BayVGH, U.v. 3.2.2011 - 13a B 10.30394 - juris m.w.N.). So liegt der Fall hier.

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe erfüllen die Lebensbedingungen in Nigeria nicht die Anforderungen an die Feststellung einer extremen Gefahrenlage in diesem Sinne.

Die allgemeine wirtschaftliche und soziale Lage ist für die Mehrheit der Bevölkerung in Nigeria zwar problematisch. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung, nach den vorliegenden Erkenntnissen 70 - 80 % der Bevölkerung, lebt am Existenzminimum bzw. 65 - 70% lebt unterhalb der Armutsgrenze von einem US-Dollar pro Tag. [...]

Soweit sich die Klägerin auf eine Gefährdung für sich und ihre Kinder auf Grund der schlechten Lebensbedingungen in Nigeria beruft, ist angesichts der nach den vorliegenden Erkenntnissen schwierigen ökonomischen Situation in Nigeria und den damit verbundenen Gefahren von einer allgemeinen Gefahr bzw. Gruppengefahr auszugehen, da diese Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einem Großteil der Bevölkerung und insbesondere der Gruppe der alleinstehenden Frauen in Nigeria drohen. Die Gefahren treffen auf eine Vielzahl von Personen mit gleichem Merkmal zu, mit der Folge, dass grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG eingreift.

3. Das Gericht hat jedoch die gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nötige Überzeugung gewonnen, dass konkret für die Klägerin zu 1) als alleinstehende, junge und mehrfache Mutter und die im Kindesalter befindlichen Klägerinnen zu 2)-4) auf Grund ihrer individuellen Voraussetzungen und konkreten Lebenssituation bei einer Rückkehr nach Nigeria mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage besteht, da die oben aufgeführten Risikofaktoren auf die Kläger zutreffen und sich die dargestellte Situation für die Kläger hinsichtlich ihrer Existenzbedingungen in Nigeria zuspitzt.

Das Gericht geht allerdings nicht generell davon aus, das bei alleinstehenden jungen Müttern und ihren Kindern eine Extremgefahr zu prognostizieren ist. Es gibt zwar gerade für alleinstehende Mütter soziale Schwierigkeiten in Nigeria, insbesondere in traditionell geprägten Landesteilen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Nigeria vom 6.5.2012, II.1.8., 11.3.; ausführlich VG Aachen, U.v. 24.5.2012 - 2 K 2051/10.A - juris Rn. 30 m.w.N.). Jedoch ist in größeren Städten und im Süden des Landes die Akzeptanz vorhanden und steigend (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Nigeria vom 6.5.2012, II.1.8.). Es ist davon auszugehen, dass auch in Nigeria die Möglichkeit ökonomisch eigenständig alleine zu leben und auch mit oder ohne Hilfe Dritter zu überleben gegeben ist. Allein in wenigen besonders gelagerten Einzelfällen kommt deshalb ein derartiger Abschiebungsschutz in Betracht.

Hinsichtlich der Kläger sieht das Gericht, wie im Folgenden dargestellt, diese Möglichkeiten jedoch nicht gegeben. [...]

In beruflicher Hinsicht wurde durch die mündliche Verhandlung deutlich, dass die Klägerin keine bzw. kaum eine Schulbildung aufweist und aus ärmlichen Verhältnissen stammen muss. Sie hat keinen Beruf erlernt oder nachhaltig ausgeübt. Es ist daher nicht ersichtlich, dass die Klägerin zu 1) im Falle einer Rückkehr nach Nigeria an irgendeine eigenständige berufliche Tätigkeit zur Erreichung einer existenzsichernden beruflichen Tätigkeit anknüpfen kann. Die bereits ausgeübte Tätigkeit als Friseurin reicht nicht zur Schaffung einer Lebensgrundlage für sie und die Kinder aus. Es ist daher auch davon auszugehen, dass den Klägern die Schaffung einer zumindest ärmlichen, aber ausreichenden Lebensgrundlage durch für das Land typische Hilfsarbeiten nicht möglich ist. Dies gilt für das gesamte Land.

Die Klägerinnen zu 2) bis 4) kommen schon aufgrund ihres Alters nicht für die Schaffung einer Lebensgrundlage in Frage. Diese sind ihrerseits angewiesen auf die Mutter bzw. eine Familie.

Nach den insoweit glaubhaft dargestellten Erzählungen der Klägerin zu 1) war es bereits in Nigeria für die junge Familie nur schwer möglich, genug Geld für Essen zu erarbeiten.

In familiärer Hinsicht ist von einem sehr traditionell geprägten Hintergrund auszugehen, der bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht den nötigen Rückhalt für die junge Mutter mit ihren drei Kindern als rückkehrende Geflohene bieten wird. Das Gericht geht davon aus, dass die Kläger zum Aufbau einer Existenz nicht auf eine vorhandene - sie unterstützende - Familienstruktur bzw. auf die Dorfgemeinschaft zurückgreifen können. Auch wenn die von der Klägerin zu 1) vorgebrachten Gründe zu ihrem Asylantrag nicht glaubhaft sind, so ist das Gericht dennoch davon überzeugt, dass die Kläger lediglich auf die Mutter der Klägerin zu 1) und deren Schwester zurückgreifen könnten. Mit einer ausreichenden Unterstützung durch diese beiden ist jedoch nicht zu rechnen, da auch die Mutter nur eine geringe Tätigkeit als Friseurin ausübt. Dass zu dem Vater der Kinder Kontakt besteht - sollte dieser leben - ist angesichts dessen, dass sich die dreifache junge Mutter ohne ihn auf den Weg nach Europa gemacht hat, im vorliegenden Fall unwahrscheinlich.

Es sind vorliegend keine greifbaren Anhaltspunkte dafür gegeben, dass die Kläger bspw. aus einer wohlhabenden Familie stammen und ihre Geschichte komplett erfunden haben; hiergegen spricht vielmehr auch der Bildungsgrad der Klägerin zu 1).

Es ist damit beachtlich wahrscheinlich, dass die mit 22 Jahren noch sehr junge Klägerin zu 1) und ihre drei Kinder im Alter von 2 bis 6 Jahre in Nigeria nicht in der Lage sein werden, den Lebensunterhalt ausreichend zu sichern. Dies war nach Angaben der Klägerin zu 1) bereits vor der Ausreise nur gerade so möglich.

Bei einer Rückkehr nach Nigeria ist mit einer existenziellen lebensbedrohenden Notlage der Kläger in absehbarer Zeit zu rechnen. [...]