SG Hannover

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Zitieren als:
SG Hannover, Urteil vom 17.06.2013 - S 53 AY 57/11 - asyl.net: M21088
https://www.asyl.net/rsdb/M21088
Leitsatz:

Eine Leistungskürzung ist unzulässig, wenn die abverlangte Mitwirkungshandlung unzumutbar ist. So kann es unzumutbar sein, einen Wiedereinbürgerungsantrag zu stellen, wenn dazu der Militärdienst abgeleistet werden muss und der Betroffene dies aus Gewissensgründen ablehnt.

Schlagwörter: staatenlos, Staatenlosigkeit, Verlust der Staatsangehörigkeit, Staatsangehörigkeit, Wiedereinbürgerung, Mitwirkungspflicht, Zumutbarkeit, zumutbare Mitwirkungshandlung, Militärdienst, Wehrdienstverweigerung, Leistungskürzung, Leistungseinschränkung,
Normen: AsylbLG § 1a, AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 4, AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 5, AufenthG § 60a, EMRK Art. 9,
Auszüge:

[...]

Die Klage ist insoweit begründet, als das die vom Beklagten festgestellte Leistungskürzung nach § 1a AsylbLG rechtswidrig ist (dazu unter 1.). Ein Anspruch auf die begehrten Analog-Leistungen hat der Kläger jedoch nicht, sodass er die Klage insoweit abzuweisen war (dazu unter II).

I.

Die Entscheidung des Beklagten, hier die Leistungen nach Maßgabe des § 1a AsylbLG einzuschränken ist rechtswidrig. Nach dieser Vorschrift erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 AsyIbLG und ihre Familienangehörigen nach § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsyIbLG Leistungen nach dem AsylbLG nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist, wenn sie sich in den Geltungsbereich dieses Gesetzes begeben haben, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen (§ 1a Nr. 1 AsIbLG) oder wenn bei ihnen aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können (§ 1a Nr. 2 AsylbLG).

Der Kläger gehört zu den Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG, da sein Aufenthalt lediglich nach § 60a Aufenthaltsgesetz geduldet wird.

Die Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendende Maßnahmen hat der Kläger hier nicht zu vertreten. Zu den aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gehören die Ausweisung (§§ 53 f. Aufenthaltsgesetz), die Abschiebung (§ 58 Aufenthaltsgesetz) und die Zurückschiebung (§ 57 Aufenthaltsgesetz). Grund für die Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen war hier die Staatenlosigkeit des Klägers.

Diesen Umstand hat der Kläger nicht zu vertreten. Voraussetzung dafür ist nämlich, dass ein Hindernis für die Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen allein im Einflussbereich des Klägers liegt und er im Rahmen seiner ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten zur Beseitigung dieses Hindernisses verpflichtet ist. Nach § 48 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz ist ein Ausländer, der keinen gültigen Pass oder Passersatz besitzt, dazu verpflichtet, an der Beschaffung von Identitätspapieren mitzuwirken.

Die Weigerung des Klägers, hier einen Wiedereinbürgerungsantrag zu stellen, ist nach Auffassung der Kammer gerechtfertigt, da die abverlangte Mitwirkungshandlung im konkreten Fall für den Kläger nicht zumutbar war.

Grundsätzlich wird die Stellung eines Wiedereinbürgerungsantrags für einen staatenlos gewordenen Ausländer als eine zumutbare Mitwirkungshandlung anzusehen sein. Dem steht zunächst nicht entgegen, dass die vom Ausländer zu verlangende Antragstellung als solche lediglich ein Verwaltungsverfahren gerichtet auf die Wiedereinbürgerung in Gang setzt. Von der Geeignetheit der Stellung eines Wiedereinbürgerungsantrages zur Ermöglichung der zwangsweisen Rückführung ist zunächst auszugehen, solange nicht aufgrund konkreter Umstände der Erfolg eines solchen Verfahrens als offensichtlich aussichtslos zu bewerten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1998 - 1 C 8.98).

Das türkische Staatsangehörigkeitsgesetz (verabschiedet am 29. Mai 2009) sieht in Artikel 43 ausdrücklich vor, dass die Wiedereinbürgerung auf Antrag erfolgen kann, wenn keine Umstände vorliegen, die zu Bedenken aufgrund der nationalen Sicherheit führen. Auch sah das alte türkische Staatsangehörigkeitsgesetz von 1964 in Artikel 8 bereits die Wiedereinbürgerung durch Entscheidung des Ministerrats vor.

Im Grundsatz ist die Stellung eines Wiedereinbürgerungsantrages auch dann zumutbar, wenn der Ausländer zugleich verbindlich klären muss, dass er bereit sei, den Wehrdienst nachzuholen. Eine solche Erklärung zur Ableistung des Wehrdienstes stellt regelmäßig eine zumutbare Mitwirkungshandlung dar (LSG Nds.-Bremen, Beschluss vom 09. Juni 2011 - L 8 AY 7/11 B ER m.w.N.). Eine andere Beurteilung kann jedoch gerechtfertigt sein, wenn im konkreten Fall der Erfüllung der Wehrpflicht unzumutbare Hinderungsgründe entgegenstehen. Ein solcher Hinderungsgrund ist für den Fall einer Wehrdienstverweigerung aufgrund ernsthafter Gewissensentscheidung bzw. Glaubensüberzeugung anzuerkennen. Ein solches Recht auf Verweigerung des Militärdienstes lässt sich nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts für Menschenrechte (EGMR) aus Art. 9 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ableiten (vgl. EGMR v. 07.07.2011 - 23459/03, Rn. 110). Die Kammer verkennt dabei nicht, dass unmittelbarer Adressat des Art. 9 EMRK - ebenso wie bei Art. 4 Abs. 3 GG - der jeweilige Staat ist, der den Bürger zur Wehrpflicht heranzuziehen beabsichtigt. Gleichwohl muss die völkerrechtliche Wertentscheidung zum Schutz der Gewissensfreiheit im Rahmen der Zumutbarkeit der ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten Beachtung finden. Dies gilt umso mehr, als dass Abschiebehindernisse nach § 60 AufenthG, deren Bestehen nach Aktenlage für den Kläger nicht festgestellt sind, auch außerhalb den Anwendungsbereiches des Art. 3 EMRK bei erheblichen Verletzungen von Rechten aus der EMRK in Betracht kommen (BVerwG, Urt. v. 24.05.2010 - 9 C 34/99 = NVwZ 2000, 1302).

Nach diesen Vorgaben war die dem Kläger auferlegte Mitwirkungsverpflichtung unzumutbar. Der Kläger hat für die Kammer schlüssig und überzeugend dargelegt, dass er an der Ableistung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen gehindert ist. Die Ausführungen des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung waren in sich schlüssig und auch mit den weiteren Akteninhalt im Einklang zu bringen. Insbesondere ist der Kläger im Rahmen der strafrechtlichen Verurteilungen nicht wegen der Begehung von Delikten unter Anwendung körperlich Gewalt in Erscheinung getreten. Zwar ist eine Verurteilung wegen gemeinschaftlichen Raubes im Jahre 1982 aktenkundig. Ausweislich des Urteils war der Kläger allerdings nur insoweit beteiligt, dass er den weiteren Mittätern durch Schmierestehen den Rücken frei gehalten hat. Die Kammer verkennt dabei nicht, dass sich auch im Rahmen dieser eher bescheidenen Mitwirkungshandlung eine pazifistische Grundhaltung nicht ohne Weiteres herleiten lässt. Gleichwohl hat das Gericht hier ebenfalls zu berücksichtigen, dass die seinerzeitige Verfehlung von dem Kläger im jugendlichen Alter begangen wurde.

Gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG ist das SGB XII abweichend von den §§ 3 bis 7 AsyIbLG auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. [...]