EuGH

Merkliste
Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 06.06.2013 - C-648/11 (= ASYLMAGAZIN 6/2013; S. 200 ff.) - asyl.net: M20811
https://www.asyl.net/rsdb/M20811
Leitsatz:

Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass er unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen ein unbegleiteter Minderjähriger, der keinen sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig aufhaltenden Familienangehörigen hat, in mehr als einem Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat, denjenigen Mitgliedstaat als "zuständigen Mitgliedstaat" bestimmt, in dem sich dieser Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Asylantrag, minderjährig, unbegleitete Minderjährige, zuständiger Mitgliedstaat, Dublinverfahren, Dublin II-VO, Kindeswohl, Familienangehörige,
Normen: VO 343/2003 Art. 3 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 5 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 6 Abs. 2, GR-Charta Art. 24 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

42 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 dahin auszulegen ist, dass er in dem Fall, dass ein unbegleiteter Minderjähriger, der keinen sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig aufhaltenden Familienangehörigen hat, in mehr als einem Mitgliedstaat Asyl beantragt hat, denjenigen Mitgliedstaat als "zuständigen Mitgliedstaat" bestimmt, in dem dieser Minderjährige seinen ersten Antrag gestellt hat, oder aber denjenigen, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort seinen letzten dahin gehenden Antrag gestellt hat.

43 In diesem Zusammenhang ist zunächst daran zu erinnern, dass nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 der Asylantrag von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung als zuständiger Staat bestimmt wird.

44 Nach Art. 5 Abs. 1 der Verordnung finden die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats in der in dem besagten Kapitel III genannten Rangfolge Anwendung.

45 Gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 wird bei der Bestimmung des nach den in den Art. 6 bis 14 der Verordnung festgesetzten Kriterien zuständigen Mitgliedstaats von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. In dieser Vorschrift kann es nicht darum gehen, diese Kriterien ihrem Sinn nach zu verändern. Wie der Generalanwalt in Nr. 56 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, soll sie lediglich den Rahmen festlegen, innerhalb dessen die genannten Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats anzuwenden sind.

46 Das erste der in Kapitel III der Verordnung Nr. 343/2003 festgelegten Kriterien ist das in ihrem Art. 6 vorgesehene, das es ermöglicht, den Mitgliedstaat zu bestimmen, der für die Prüfung eines Antrags zuständig ist, den ein im Sinne von Art. 2 Buchst. h dieser Verordnung unbegleiteter Minderjähriger gestellt hat.

47 Nach Art. 6 Abs. 1 ist der für die Prüfung eines Antrags eines unbegleiteten Minderjährigen zuständige Mitgliedstaat derjenige, in dem sich ein Angehöriger seiner Familie rechtmäßig aufhält, sofern dies im Interesse des Minderjährigen liegt.

48 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass kein Familienangehöriger der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig aufhält, und folglich ist der zuständige Mitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zu bestimmen, wonach die Zuständigkeit bei dem Mitgliedstaat liegt, "in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat".

49 Für sich genommen lässt sich anhand dieses Wortlauts nicht feststellen, ob der fragliche Asylantrag der erste Asylantrag ist, den der betreffende Minderjährige in einem Mitgliedstaat gestellt hat, oder derjenige, den er zuletzt in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hat.

50 Nach ständiger Rechtsprechung sind jedoch bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. insbesondere Urteile vom 29. Januar 2009, Petrosian, C-19/08, Slg. 2009, I-495, Randnr. 34, und vom 23. Dezember 2009, Deti?ek, C-403/09 PPU, Slg. 2009, I-12193, Randnr. 33).

51 Zum Zusammenhang von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 ist zum einen festzustellen, dass der in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung gebrauchte Ausdruck "seinen Antrag zum ersten Mal … stellt" in Art. 6 Abs. 2 der Verordnung nicht wiederholt worden ist. Zum anderen bezieht sich die letztgenannte Vorschrift auf den Mitgliedstaat, "in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat", während Art. 13 der Verordnung ausdrücklich darauf hinweist, dass "der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig [ist]".

52 Wenn der Unionsgesetzgeber aber beabsichtigt hätte, in Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 "dem ersten Mitgliedstaat" die Zuständigkeit zuzuweisen, wäre dies mit genau demselben Wortlaut wie in Art. 13 dieser Verordnung ausgedrückt worden. 53 Infolgedessen kann der Ausdruck "der Mitgliedstaat, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat" nicht als "der erste Mitgliedstaat, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat" verstanden werden.

54 Außerdem sind bei der Auslegung von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 auch sein Ziel, unbegleiteten Minderjährigen eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen, und das Hauptziel dieser Verordnung zu berücksichtigen, das – wie in ihren Erwägungsgründen 3 und 4 ausgeführt wird – darin besteht, einen effektiven Zugang zur Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft des Antragstellers zu gewährleisten.

55 Da unbegleitete Minderjährige aber eine Kategorie besonders gefährdeter Personen bilden, ist es wichtig, dass sich das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht länger als unbedingt nötig hinzieht, was bedeutet, dass unbegleitete Minderjährige grundsätzlich nicht in einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen sind.

56 Die vorstehenden Erwägungen werden durch die Erfordernisse bestätigt, die sich aus dem 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 343/2003 ergeben, wonach diese Verordnung im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen steht, die insbesondere mit der Charta anerkannt wurden.

57 Zu diesen Grundrechten gehört nämlich insbesondere das in Art. 24 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht, wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss.

58 Folglich kann Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 nicht so ausgelegt werden, dass er dem genannten Grundrecht zuwiderliefe (vgl. entsprechend Urteile Deti?ek, Randnrn. 54 und 55, sowie vom 5. Oktober 2010, McB., C-400/10 PPU, Slg. 2010, I-8965, Randnr. 60).

59 Daher hat, obwohl das Interesse des Minderjährigen nur in Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 ausdrücklich erwähnt wird, Art. 24 Abs. 2 der Charta in Verbindung mit ihrem Art. 51 Abs. 1 zur Folge, dass bei jeder Entscheidung, die die Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 erlassen, das Wohl des Kindes ebenfalls eine vorrangige Erwägung sein muss.

60 Diese Berücksichtigung des Wohles des Kindes erfordert grundsätzlich, dass unter Umständen wie denen, die die Lage der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens kennzeichnen, Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 so auszulegen ist, dass er denjenigen Mitgliedstaat als zuständigen Staat bestimmt, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat.

61 Im Interesse unbegleiteter Minderjähriger ist es, wie sich aus Randnr. 55 des vorliegenden Urteils ergibt, wichtig, dass sich das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht unsachgemäß in die Länge zieht; ihnen ist vielmehr ein rascher Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten.

62 Diese Methode zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, der von einem unbegleiteten Minderjährigen gestellt wurde, der keinen sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhaltenden Familienangehörigen hat, basiert auf einem objektiven Kriterium im Sinne des vierten Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 343/2003.

63 Außerdem bedeutet eine solche Auslegung von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003, die als zuständigen Staat denjenigen Mitgliedstaat bestimmt, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat, entgegen dem Vortrag der niederländischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen nicht, dass der unbegleitete Minderjährige, dessen Asylantrag schon in einem ersten Mitgliedstaat in der Sache zurückgewiesen wurde, anschließend einen anderen Mitgliedstaat zur Prüfung eines Asylantrags zwingen könnte.

64 Aus Art. 25 der Richtlinie 2005/85 geht nämlich hervor, dass zusätzlich zu den Fällen, in denen ein Asylantrag nach Maßgabe der Verordnung Nr. 343/2003 nicht geprüft wird, die Mitgliedstaaten die Flüchtlingseigenschaft des Antragstellers nicht zu prüfen haben, wenn ein Antrag insbesondere deshalb als unzulässig betrachtet wird, weil der Asylbewerber nach einer gegen ihn ergangenen rechtskräftigen Entscheidung einen identischen Antrag gestellt hat.

65 Im Übrigen ist hinzuzufügen, dass der Mitgliedstaat, der unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nach Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständiger Staat bestimmt wird, den Mitgliedstaat davon in Kenntnis setzt, in dem der erste Asylantrag gestellt worden ist, da ein Asylantrag nur von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft werden darf. [...]