SG Kassel

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Zitieren als:
SG Kassel, Beschluss vom 31.10.2012 - S 11 AY 1/12 ER - asyl.net: M20127
https://www.asyl.net/rsdb/M20127
Leitsatz:

Solange eine Ausländerbehörde über Anträge zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht entschieden hat und der Aufenthalt des Antragstellers gem. § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG als erlaubt gilt, ist es dem Antragsgegner verwehrt, dem Antragsteller § 23 Abs. 3 SGB XII (Ausschluss wegen Einreise um Sozialhilfe zu beziehen) entgegenzuhalten (betreffend eine afghanische Familie, die aus Italien, wo sie Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen erhalten hatte, eingereist war).

Schlagwörter: Einreise um Sozialhilfe zu erlangen, Fiktionsbescheinigung, Fiktionswirkung, Leistungsausschluss, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, humanitäre Gründe, EU-Mitgliedstaat, Mindeststandards, Aufnahmebedingungen, Italien, sichere Drittstaaten,
Normen: SGB XII § 23 Abs. 1, SGB XII § 23 Abs. 2, AufenthG § 25 Abs. 3, AufenthG § 81 Abs. 3 S. 1,
Auszüge:

[...]

Insbesondere bei Ansprüchen, die darauf gerichtet sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern (Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Artikel 20 Abs. 1 Grundgesetz) ist ein nur möglicherweise bestehender Anordnungsanspruch in der Regel vorläufig zu befriedigen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage im Eilverfahren nicht vollständig klären lässt (so auch Hessisches LSG, a.a.O., Rd.-Nr. 32 unter Hinweis auf BVerfG, vom 12.05.205, 1 BvR 569/05 und BVerfGE 82, 60, 80). Im Rahmen der gebotenen Folgenabwägung hat dann regelmäßig das Interesse des Leistungsträgers, ungerechtfertigte Leistungen zu vermeiden, gegenüber der Sicherstellung des ausschließlich gegenwärtig für die Antragsteller verwirklichbaren soziokulturellen Existenzminimums zurück zu treten (Hessisches LSG, a.a.O., Rd.-Nr. 32 m.w.N.).

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist der gestellte Antrag zulässig und auch begründet. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist vorliegend ein Anordnungsanspruch der Antragsteller sehr wohl auf § 23 Abs. 1 SGB XII zu stützen. Hiernach ist Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach diesem Buch zu leisten. Dagegen kann den Antragstellern in deren gegenwärtiger aufenthaltsrechtlichen Situation die Bestimmung des § 23 Abs. 3 SGB XII nicht entgegen gehalten werden, wonach Ausländern, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, ein Anspruch auf Sozialhilfe verwehrt wird.

Unstreitig zwischen den Beteiligten ist, dass die Antragsteller aus Italien nach Deutschland gereist sind, und sie in Italien eine Aufenthaltsberechtigung (aus humanitären Gründen) besitzen und zugleich über italienische Ausweispapiere verfügen, die bis 14.03.2013 Gültigkeit haben. Unstreitig ist auch, dass die Antragsteller über keine finanziellen Mittel verfügen, um ihren Lebensunterhalt sicher zu stellen, was sich zwanglos aus den beim Antragsgegner gestellten Leistungsantrag vom 16.05.2012 ergibt. Eine politische oder sonst wie geartete Verfolgung droht den Antragstellern in Italien nicht. Sie haben daher in Deutschland auch keinen Asylantrag gestellt. Sie unterfallen damit nicht dem Kreis der Berechtigten nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) und der Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 2 SGB XII ist nicht einschlägig. Beachtenswert im Falle der Antragsteller ist jedoch, dass sie ein dem Asylrecht vergleichbares Bleiberecht nach § 25 Abs. 3 AufenthG nebst Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG für sich in Anspruch nehmen, welches eng mit der Auffassung zahlreicher Verwaltungsgerichte verbunden ist (vgl. hierzu die Aufzählung durch den Prozessbevollmächtigten der Antragsteller) wonach Flüchtlinge in Italien keineswegs den Schutz erfahren, der den Standards der hierzu innerhalb der Europäischen Union getroffenen Übereinkommen entspricht (vgl. statt vieler VG Kassel, Beschluss vom 10.10.2011, 1 L 951/11.KS.A). Die für die Antragsteller zuständige Ausländerbehörde, zugleich Ausländerbehörde des Antragsgegners, hat den Antragstellern jeweils bis 12.12.2012 gültige Fiktionspapiere aus gestellt, ausweislich derer der Aufenthalt der Antragsteller bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde über die o.g. Anträge gemäß § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG als erlaubt gilt. Die Antragsteller halten sich also bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde, auch über die Frage einer Rückführung der Antragsteller nach Italien, vorläufig erlaubt in Deutschland auf. Für das Gericht stellt sich im Ergebnis damit die Situation der Antragsteller nicht anders dar, als bei einem um Asyl nachsuchenden Ausländer. Solange die Ausländerbehörde über die Anträge und damit auch eine Rückführungsmöglichkeit der Antragsteller nach Italien nicht entschieden hat, ist es dem Antragsgegner verwehrt, den Antragstellern § 23 Abs. 3 SGB XII entgegen zu halten. Gleichermaßen ist solange auch die Auffassung des Antragsgegners unbeachtlich, die Ausländerbehörde habe in rechtswidriger Weise die Voraussetzungen für eine Ausstellung der Fiktionsbescheinigungen verkannt. Das Sozialgericht ist insoweit an die Entscheidung der Ausländerbehörde gebunden und nicht berufen, deren (vorläufige) Entscheidung der Rechtsmäßigkeit des Aufenthalts der Antragsteller in Frage zu stellen. Hinsichtlich der Auffassung zum Leistungsanspruch der Antragsteller nach § 23 SGB XII stützt sich die erkennende Kammer auch auf eine Entscheidung des Hessischen LSG vom 11.07.2006 (L 7 SO 19/06 ER, zitiert nach juris), mit dem das Hessische LSG entschieden hat, dass Ausländern, die mit einem Touristenvisum einreisen und eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG beantragt haben sowie sich mit einer Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG im Inland rechtmäßig aufhalten, gemäß § 23 Abs. 1 SGB XII die dort genannten Sozialhilfeleistungen zu gewähren sind (Hessisches LSG, a.a.O., zitiert nach juris, Rd.-Nr. 44; ebenso Hessisches LSG vom 06.09.2011, L 7 AS 334/11 B ER, zitiert nach juris, Rd.-Nr. 40-44 zum Anspruch auf Sozialgeld bei ausgestellter Fiktionsbescheinigung). Auch hier hat das Hessische LSG auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Ausländers bei gültiger Fiktionsbescheinigung nach § 81 AufenthG abgestellt. Der Umstand der Mittellosigkeit der Antragsteller bei Einreise nach Deutschland aus einem "sicheren Drittstaat" ist damit nicht anspruchsausschließend. Ein Anspruch auf die begehrten Sozialhilfeleistungen besteht allerdings nur bis zu einer Entscheidung der Ausländerbehörde über pro oder contra Bleiberecht der Antragsteller. Entsprechend war das Antragsbegehren, wie austenoriert, zu begrenzen. [...]