VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Beschluss vom 21.09.2010 - 4 B 1091/10 - asyl.net: M18194
https://www.asyl.net/rsdb/M18194
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz gegen die Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen (ARB 1/80), da die Frage in der alleinigen Entscheidungskompetenz des EuGH liegt, ob Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie bei Assoziationsberechtigten anwendbar und dies bis zur verbindlichen Klärung der Vorlage des BVerwG (Beschluss vom 25.8.2009, 1 C 25.08, ASYLMAGAZIN 12/2009, S. 33 ff.) offen ist.

Schlagwörter: Ausweisung, türkische Staatsangehörige, Assoziationsberechtigte, Abänderungsantrag, vorläufiger Rechtsschutz, besonderer Ausweisungsschutz, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Schutz von Ehe und Familie, Achtung des Privatlebens, Ausweisungsgrund, EuGH, Straftat, Drogendelikt, Verhältnismäßigkeit,
Normen: VwGO § 80 Abs. 7, ARB 1/80 Art. 7, RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3a, AufenthG § 56 Abs. 1 S. 3, GG Art. 6, EMRK Art. 8, FreizügG/EU § 6 Abs. 5 S. 3
Auszüge:

[...]

Für die Entscheidung über den vorliegenden Änderungsantrag ist die erkennende Kammer, obwohl die Entscheidung, deren Änderung begehrt wird, von dem Nds. Oberverwaltungsgericht - 11. Senat - erlassen worden ist, zuständig, weil die Hauptsache - das Klageverfahren 4 A 884/09 - (weiterhin) bei ihr anhängig ist. Auch die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO liegen vor, weil sich durch die nunmehr von dem Antragsteller nachgewiesene und von dem Antragsgegner nach Prüfung durch seine Ausländerbehörde bestätigte Erwerbstätigkeit des Vaters des Antragstellers die für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Umstände verändert haben. Es steht fest, dass der Antragsteller eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80 erworben hat, so dass seine Ausweisung nur noch im Ermessenswege aus spezialpräventiven Gründen erfolgen darf und ihm darüber hinaus aufgrund seines mehr als zehnjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3a UnionsRL zustehen könnte. Im Übrigen ist hier auch nicht erkennbar/nachweisbar, dass der Antragsteller um seine Assoziationsberechtigung bereits zu einem früheren Zeitpunkt, nämlich schon während des durch Beschluss des Nds. Oberverwaltungsgerichtes vom 2. November 2009 abgeschlossenen vorläufigen Rechtsschutzverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO gewusst hat und ihm daher ein Verschuldensvorwurf im Sinne des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gemacht werden könnte. Schließlich kommt noch hinzu, dass seit dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 28. August 2007 für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung bei allen Ausländern einheitlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.11.2007 - 1 C 45.06 -, BVerwGE 130, 20 = InfAuslR 2008, 156, zitiert nach juris), so dass die Kammer die veränderten Umstände auch vom Amts wegen im Rahmen des § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO zu berücksichtigen hat.

Der danach zulässige Änderungsantrag ist begründet.

Zwar geht die Kammer nach der im Änderungsverfahren auf der Grundlage des § 80 Abs. 7 VwGO ebenfalls nur gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage davon aus, dass die Ausweisungsverfügung des Antragsgegners vom 14. Mai 2009 (auch) in der Fassung, die sie nach dem erstmaligen Bekanntwerden nebst Nachweis der aus Art. 7 ARB 1/80 folgenden Assoziationsberechtigung des Antragstellers zulässigerweise durch die Schriftsätze des Antragsgegners vom 16. September 2010 erhalten hat, weder gegen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts (hier: §§ 55 Abs. 1, Abs. 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, Art. 2 Abs. 1, 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK) noch gegen die sich aus Art. 14 Abs. 1 ARS 1/80 ergebenden besonderen Anforderungen an die Ausweisung eines Assoziationsberechtigten verstößt. Danach kann der Antragsteller nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das ist hier der Fall, so dass auch schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gegeben sind. Die Kammer folgt in diesem Zusammenhang den zutreffenden Ausführungen des Antragsgegners in seinen Schriftsätzen vom 1. September 2010 und macht sie sich entsprechend § 117 Abs. 5 VwGO zu eigen. Darüber hinaus ist auch die Ermessensausübung des Antragsgegners nicht zu beanstanden. Er hat die gegenläufigen öffentlichen Interessen an der Ausreise des Antragstellers mit den privaten Interessen des Antragstellers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet unter Berücksichtigung der Dauer seines rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet, seiner hier bestehenden persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen und der Folgen der Ausweisung für seine (schwangere) Ehefrau unter Beachtung durch Art. 6 GG, 8 EMRK geschützten Belange auf Achtung des Privat- und Familienlebens sachgerecht und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes abgewogen. Auch insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen des Antragsgegners in seinen Schriftsätzen vom 16. September 2010 Bezug genommen.

Gleichwohl würde sich die ansonsten nicht zu beanstandende Ausweisung des Antragstellers als rechtswidrig erweisen, wenn der in Art. 28 Abs. 3 UnionsRL geregelte gemeinschaftsrechtliche Ausweisungsschutz auf türkische Assoziationsberechtigte zu übertragen wäre. Da der Antragsteller, der sich mehr als 10 Jahren rechtmäßig Im Bundesgebiet aufgehalten hat, (bisher) nicht zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden ist, keine Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland nicht betroffen ist und keine terroristische Gefahr von ihm ausgeht, liegen die durch § 6 Abs. 5 Satz 3 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) festgelegten zwingenden Ausweisungsgründe im Sinne des Art. 28 Abs. 3a UnionsRL in seinem Fall nicht vor, so dass die Rechtmäßigkeit der verfügten Ausweisung des Antragstellers allein von der Anwendbarkeit/Nichtanwendbarkeit dieser Regelung auf Assoziationsberechtigte abhängt. Insoweit geht es um die Auslegung von Gemeinschaftsrecht, für die ausschließlich der EuGH zuständig ist. Entsprechend hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) durch Beschluss vom 25. August 2009 (1 C 25.08) auch ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet, das dort seit dem 9. November 2009 unter dem Aktenzeichen C-436/09 anhängig ist (vgl. Amtsbl. d. EU v. 30.01.2010). Zwar vertritt das BVerwG in seinem Vorabentscheidungsersuchen die Auffassung, dass Art. 28 Abs. 3 UnionsRL keine Anwendung auf Assoziationsberechtigte finden könne, doch ändert diese - auch von weiteren Obergerichten (vgl. u.a.: Nds. OVG, Urt. v. 27.03.2008 - 11 LB 2008 -, InfAuslR 2008, 285) geteilte Rechtsauffassung nichts an der alleinigen Entscheidungskompetenz des EuGH mit der Folge für den vorliegenden Rechtsstreit, so dass die Frage, ob sich die Ausweisung des Antragstellers letztlich in dem bei der Kammer anhängigen Hauptsacheverfahren als rechtmäßig oder rechtswidrig erweisen wird, bis zur verbindlichen Klärung der Anwendbarkeit des Art. 28 Abs. 3 UnionsRL auf Assoziationsberechtigte durch den EuGH offen ist.

Für des Änderungsverfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO bedeutet dies, dass hier eine von der Einschätzung der Erfolgsaussichten des Antragstellers in dem Klageverfahren 4 A 884/09 unabhängige Interessenabwägung dahin vorzunehmen ist, ob das öffentliche Interesse an der sofortigen Ausreise des Antragstellers aus der Bundesrepublik Deutschland sein privates Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet - jedenfalls bis zur Entscheidung des EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen des BVerwG - überwiegt.

Unter Berücksichtigung der Gesamtumstände das vorliegenden Falles fällt diese Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers aus, so dass vom heutigen Tage ab unter Abänderung des Beschlusses des Nds. Oberverwaltungsgerichtes vom 2. November 2009 die aufschiebende Wirkung der Klage 4 A 884/09 hinsichtlich der verfügten Ausweisung wiederherzustellen und hinsichtlich der Abschiebungsandrohung anzuordnen ist.

Trotz der Straffälligkeit des Antragstellers in der Vergangenheit und der erheblichen Gefahr, dass er - wie aktuell bereits wieder geschehen - auch weiterhin durch Verstöße gegen das BtMG oder andere Strafgesetze in Erscheinung tritt, erscheint der Kammer eine sofortige Ausreise/Abschiebung des Antragstellers aus dem Bundesgebiet unverhältnismäßig, insbesondere auch im Hinblick auf den ihm durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK gewährten Schutz seiner familiären Bindungen. Der Antragsteller ist bereits als Kleinkind Im März 1986 in das Bundesgebiet gekommen, hat im März 1997 zunächst eine befristete und im Juni 1999 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die als Niederlassungserlaubnis fortgilt, erhalten. Darüber hinaus besitzt er - wie heute feststeht - ein von den Bestimmungen des AufenthG unabhängiges europarechtliches Aufenthaltsrecht als Assoziationsberechtigter. Diese Rechtspositionen müsste er bei einem (freiwilligen oder erzwungenen) Verlassen der Bundesrepublik Deutschland zum jetzigen Zeitpunkt aufgeben, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass ihm Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3a UnionsRL zusteht und die Bundesrepublik Deutschtand daher trotz der von ihm ausgehenden Gefahr der Begehung weiterer Leib und/oder Leben Anderer bedrohender Straftaten (weiter) mit ihm "leben" müsste, genauso groß ist, wie der umgekehrte Fall. Darüber hinaus ist aber gegenwärtig auch noch nicht abzusehen, wie viel Zeit bis zur Klärung der Anwendbarkeit des Art. 29 Abs. 3 UnionsRL auf Assoziationsberechtigte durch den EuGH vergehen wird, so dass im Falle einer rechtswidrigen, aber bereits vollzogenen Ausweisung der Antragsteller möglicherweise nicht nur kurzfristig, sondern über Monate oder sogar Jahre zu Unrecht von einem Aufenthalt im Bundesgebiet bzw. einer Rückkehr hierher abgehalten würde. Andererseits würde sich die Durchsetzung der Ausweisung für den Fall, dass Assoziationsberechtigte keine Schutz nach Art. 28 Abs. 3 UnionsRL genießen, nicht wesentlich schwieriger gestalten, als sie bereits heute ist. Schließlich kommt hier hinzu, dass von einer sofortigen Vollziehung der Ausweisung nicht nur der Antragsteller selbst, sondern auch seine Ehefrau, bei der eine Risikoschwangerschaft vorliegt, betroffen wäre. Sie hält sich seit 1995 im Bundesgebiet auf, ist seit 2005 mit dem Antragsteller verheiratet und besitzt inzwischen ein von dem Zweck des Familiennachzuges unabhängiges, eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31 AufenthG. Müsste der Antragsteller daher sofort das Bundesgebiet verlassen, hätte dies für seine Ehefrau (und nach der Geburt für das gemeinsame Kind) zur Folge, dass sie ihr hier bestehendes Aufenthaltsrecht ebenfalls aufgeben und dem Antragsteller in die Türkei - sei es sofort oder nach der Entbindung - folgen oder aber eine längere Trennung von ihm in Kauf nehmen müsste. Bei jeder dieser Alternativen ergeben sich für die Ehefrau des Antragstellers, die selbst nicht strafrechtlich bzw. ausweisungsrechtlich relevant in Erscheinung getreten ist, in jedem Fall nachteilige Folgen, die im Hinblick auf den offenen Ausgang des Verfahrens vor dem EuGH nicht mehr vertretbar sind. Nach alledem überwiegt das private Interesse des Antragstellers, zunächst weiterhin im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, das öffentliche Interesse an einem sofortigen Vollzug der Ausweisungsverfügung des Antragsgegners. [...]