VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.01.2011 - A 9 S 2774/10 - asyl.net: M18175
https://www.asyl.net/rsdb/M18175
Leitsatz:

Die gesetzliche Anordnung des § 76 Abs. 5 AsylVfG, nach welcher ein neu ernannter Richter auf Probe in den ersten sechs Monaten nicht als Einzelrichter in Streitigkeiten nach dem AsylVfG tätig sein darf, soll hinreichende Erfahrung für die besonders verantwortungsvolle Tätigkeit als Einzelrichter sicherstellen. Eine Einzelrichterübertragung unter Verstoß gegen § 76 Abs. 5 AsylVfG geht ins Leere und ist für die genannten sechs Monate schwebend unwirksam, sofern keine Übergangsregelung im Sinne des § 21g GVG besteht. Die Entscheidungskompetenz fällt für diese sechs Monate an den Spruchkörper zurück.

Schlagwörter: Asylverfahren, Verfahrensfehler, Einzelrichter, Richter auf Probe, richterliche Überzeugungsgewissheit, Posttraumatische Belastungsstörung, Sachverständigengutachten, Glaubhaftmachung
Normen: GVG § 21g Abs. 2, AsylVfG § 76 Abs. 5, AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 3, VwGO § 138 Nr. 1, VwGO § 108 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

Die Einzelrichterübertragung geht für den von § 76 Abs. 5 AsylVfG geregelten Zeitraum ins Leere und ist schwebend unwirksam, wenn das Verfahren infolge eines Mitgliederwechsels im Spruchkörper einem frisch ernannten Proberichter übertragen wird und der kammerinterne Geschäftsverteilungsplan hierzu eine Übergangsregelung im Sinne des § 21g Abs. 3 GVG nicht enthält. Für diesen Zeitraum fällt die Entscheidungskompetenz an den Spruchkörper zurück.

(Amtlicher Leitsatz)

[...]

1. Ein Verstoß gegen § 138 Nr. 1 VwGO liegt nicht vor, weil das Verwaltungsgericht vorschriftsmäßig besetzt war.

Trotz der mit Beschluss vom 01.09.2009 erfolgten Übertragung des Rechtsstreits zur Entscheidung auf den Berichterstatter als Einzelrichter ist die in Kammerbesetzung erfolgte Entscheidung vom 09.09.2010 nicht zu beanstanden. Denn das Verfahren ist infolge eines Mitgliederwechsels der 8. Kammer des Verwaltungsgerichts Sigmaringen durch Beschluss vom 01.07.2010 gemäß § 21g Abs. 2 Halbsatz 2 GVG dem an diesem Tage zum Richter auf Probe ernannten und der 8. Kammer zugeteilten neuen Mitglied als Berichterstatter zugewiesen worden. Dieser war im Entscheidungszeitpunkt an einer Entscheidung als Einzelrichter aber von Gesetzes wegen gehindert.

Durch die gesetzliche Anordnung in § 76 Abs. 5 AsylVfG wird bestimmt, dass ein Richter auf Probe in den ersten sechs Monaten nach seiner Ernennung nicht Einzelrichter in Streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz sein darf. Anders als im Falle der gesetzlichen Ausschließung nach § 54 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 41 ZPO ist der Richter damit nicht "von der Ausübung des Richteramtes" ausgeschlossen. Ausgangspunkt der Einschränkung sind nicht Zweifel an der unparteiischen und neutralen Amtsausübung; vielmehr will die kraft Gesetzes angeordnete Einschränkung der Spruchbefugnis - ebenso wie im Falle des § 6 Abs. 1 Satz 2 VwGO - nur eine hinreichende richterliche Erfahrung für die besonders verantwortungsvolle Tätigkeit als Einzelrichter sicherstellen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.09.1983 - 2 BvR 1475/83 -, NJW 1984, 559). Abgesehen von dieser besonderen Konstellation bleibt aber auch der von § 76 Abs. 5 AsyIVfG erfasste Proberichter der für den Rechtsstreit zuständige Richter und hat nicht nur die unaufschiebbaren Maßnahmen vorzunehmen (vgl. zur allgemein angenommenen Möglichkeit selbst einer Entscheidung als "konsentierter Einzelrichter" nach § 87a Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 VwGO etwa Kronisch, in: Sodan/Ziekow, VwGO-Großkommentar, 3. Aufl. 2010, § 6 Rn. 56). Insbesondere bleibt er Berichterstatter, so dass auch kein Verhinderungsfall eintritt, der eine Vertretung durch ein anderes Mitglied des Spruchkörpers auslösen könnte (ebenso Geiger, in: Eyermann, VwGO-Kommentar, 13. Aufl. 2010, § 6 Rn. 14; a.A. Hess. VGH, Beschluss vom 19.11.1992 - 10 TE 1371/92 -, NVwZ-RR 1993, 332).

Dies gilt auch für die dem Proberichter in den ersten sechs Monaten verwehrte Befugnis der Einzelrichterentscheidung, was im Übrigen schon daraus folgt, dass die anderen Mitglieder des Spruchkörpers nicht Berichterstatter sind und damit auch nicht auf die im Einzelrichterübertragungsbeschluss vom 01.09.2009 ausgesprochene Ermächtigung zurückgreifen können. Ein entsprechender Vertretungsfall wäre daher nur denkbar, wenn der maßgebliche Geschäftsverteilungsplan der Kammer für diesen Fall eine Übergangsregelung nach § 21g Abs. 3 GVG vorsehen würde, was hier jedoch nicht der Fall ist.

Für den von § 76 Abs. 5 AsylVfG geregelten Zeitraum geht die Einzelrichterübertragung daher ins Leere (vgl. dazu auch VG Augsburg, Gerichtsbescheid vom 09.10.2001 - Au 9 K 00.801 -). Der im Geschäftsverteilungsplan bestimmte Richter ist aus gesetzlichen Gründen an einer Entscheidung als Einzelrichter gehindert, die anderen Mitglieder des Spruchkörpers sind nicht Berichterstatter und damit auch nicht die für eine Einzelrichterentscheidung zuständigen Richter. Auch eine förmliche Rückübertragung ist angesichts des Fehlens der in § 76 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 Satz 2 AsylVfG hierfür normierten Voraussetzungen ausgeschlossen. Bis dem Proberichter nach Ablauf der Sperrfrist die Entscheidungsbefugnis aus dem Übertragungsbeschluss "wieder zuwächst" (vgl. Stelkens/Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO-Kommentar, Stand: 05/10, § 6 Rn. 49), wäre eine Sachentscheidung daher nicht möglich. Ein sachlich nicht begründetes Entscheidungshindernis ist mit dem das Asylverfahrensgesetz durchziehenden Gedanken der möglichst zügigen Bearbeitung aber nicht vereinbar. Für die Fälle, in denen einem Berufsanfänger (fehlerhafter Weise) auch Rechtsstreitigkeiten zugewiesen wurden, in denen bereits eine Einzelrichterübertragung erfolgt war, spricht daher auch die systematisch-teleologische Interpretation dafür, den Übertragungsbeschluss als schwebend unwirksam anzusehen. Damit verbleibt es aber bei der - mangels wirksamer Übertragung - geltenden Regelzuständig-keit der Kammer. Das Verwaltungsgericht war bei seiner Entscheidung daher vorschriftsmäßig besetzt, so dass der geltend gemachte Zulassungsgrund aus § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 1 VwGO nicht vorliegt. [...]