VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 19.01.2011 - 19 B 10.2714 - asyl.net: M18162
https://www.asyl.net/rsdb/M18162
Leitsatz:

Auch im Bereich der Bundesverwaltung wird es allgemeiner Übung entsprechen, dass über mündliche Erklärungen von besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Bedeutung ein Vermerk bzw. eine Niederschrift aufzunehmen ist. Der Aufnahmeantrag (jüdische Zuwanderer) war bereits mit der mündliche Bitte um Vereinbarung eines Termins zu diesem Zwecke fristgerecht wirksam gestellt, da kein Schriftformerfordernis hierfür gilt. Es entspricht allgemeiner Rechtsauffassung, dass sich Behörden nach dem Rechtsgedanken der §§ 242, 162 BGB nicht auf die Versäumung einer der die Rechtsverfolgung hindernden oder die Anspruchsberechtigung vernichtenden Ansschlussfrist berufen dürfen, wenn die Wahrung der Frist infolge von Umständen unmöglich wurde, die in ihrem eigenen Verantwortungsbereich liegen (hier: Terminsvergabe der Botschaft nach Ablauf der Antragsfrist). In einem solchen Fall hätte bei Erlass des BAMF-Bescheides von Amts wegen Wiedereinsetzung gewährt werden müssen.

Schlagwörter: Aufnahmezusage, Juden, Sowjetunion, Ukraine, Antragserfordernis, Schriftform, Frist, Ermessen, Formerfordernis, Wirksamkeit, Verwaltungspraxis, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Kontingentflüchtlinge
Normen: AufenthG § 23 Abs. 2, BGB § 242, BGB § 162, VwVfG § 32
Auszüge:

[...]

Das Berufungsverfahren betrifft die Erteilung einer Aufnahmezusage für jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. [...]

1. Grundlage für die von den Klägern begehrte Erteilung einer Aufnahmezusage ist § 23 Abs. 2 AufenthG i.V.m. den in der Verfahrensanordnung des BMI vom 24. Mai 2007 i.d.F. vom 22. Juli 2009 näher dargelegten Kriterien (teilweise abgedr. bei Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2008, § 4 RNr. 487). Die Aufnahmezusage ist ein begünstigender Verwaltungsakt, der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf der Grundlage der vorgenannten Verfahrensanordnung erlassen wird. Ihre Versagung ist mit der Verpflichtungsklage anfechtbar, ohne dass es der vorherigen Durchführung eines Vorverfahrens bedürfte (vgl. zum Ganzen: Maaßen in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2008, § 4 RNr. 488).

a) Auf ihre Erteilung besteht allerdings kein unmittelbarer Rechtsanspruch, weil es sich bei der Entscheidung nach § 23 Abs. 2 AufenthG, wie bereits dem Wortlaut - "zur Wahrung der politischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland" - zu entnehmen ist, um eine politische Leitentscheidung handelt. Ob das Bundesministerium des Innern eine Anordnung nach § 23 Abs. 2 AufenthG im Benehmen mit den obersten Landesbehörden trifft, steht in seinem alleinigen Ermessen, das lediglich durch die im Gesetz genannten Motive begrenzt ist. Dementsprechend kann das Bundesministerium des Innern den von der Anordnung erfassten Personenkreis bestimmen und dabei die Erteilungsvoraussetzungen und Ausschlussgründe näher regeln. Ein (Rechts-)Anspruch des einzelnen Ausländers, von der Regelung erfasst zu werden, besteht nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.2.2000 - 1 C 19.99 -, BVerwGE 112, 63 [66] zu § 32 AuslG 1990).

Macht das Bundesministerium des Innern jedoch von der in § 23 Abs. 2 AufenthG normierten Ermächtigung Gebrauch und legt es für den begünstigten Personenkreis die Erteilungsvoraussetzungen und etwaige Ausschlussgründe fest, so muss sein Handeln rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechen. Der begünstigte Personenkreis hat zwar keinen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufnahmezusage; in den durch die Ermächtigungsgrundlage des § 23 Abs. 2 AufenthG gezogenen Grenzen erwächst ihm jedoch ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die in der Verfahrensanordnung des Bundesministeriums festgelegten Aufnahmekriterien nach Maßgabe des Gleichheitssatzes (§ 3 Abs. 1 GG) und den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Rechtsstaatsgebots (Art. 20 Abs. 3 GG).

b) Die Verfahrensanordnung des BMI vom 24. Mai 2007 i.d.F. vom 22. Juli 2009 sieht für die Antragstellung keine besonderen Formerfordernisse vor. Da es sich bei der Aufnahmezusage jedoch um einen Verwaltungsakt handelt, findet auf dessen Erteilung das Verwaltungsverfahrensgesetz Anwendung (vgl. §§ 1 u. 9 VwVfG), mit der Folge, dass für die Antragstellung der Grundsatz der Formlosigkeit gilt (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl., 2010, § 22 RNr. 31). Anträge können deshalb, da durch Rechtsvorschrift nichts anderes bestimmt ist, nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich und damit sogar telefonisch gestellt werden (vgl. Kopp/Ramsauer, a.a.O., § 22 RdNr. 31 m.w.N.). Ein Mindestinhalt oder gar eine Begründung des Antrags ist weder in der Verfahrensanordnung noch im Verwaltungsverfahrensgesetz vorgesehen (vgl. § 10 Satz 1 VwVfG). Ein Antrag im Rechtssinne liegt daher bereits dann vor, wenn ein Bürger in einer für eine Behörde erkennbaren Weise - ausdrücklich oder konkludent - einen auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichteten Willen zum Ausdruck bringt und damit definitiv eine Bescheidung eines bestimmten Begehrens erstrebt (vgl. BVerwGE 9, 89 [92]; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl., 2010, § 22 RNr. 35 m.w.N.). Weitergehende Anforderungen können sich aus besonderen Rechtsvorschriften oder aus der Natur der Sache ergeben; auch in diesen Fällen genügt es jedoch, wenn die erforderlichen Angaben jeweils bis zum Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde nachgebracht werden (vgl. Kopp/Raumsauer, a.a.O., § 22 RNr. 35). Die Wirksamkeit der ursprünglichen Antragstellung bleibt hiervon unberührt.

c) Gemessen an diesem Maßstab haben die Kläger unter Nennung ihres Begehrens - nämlich der (erneuten) Erteilung einer Aufnahmezusage als jüdische Kontingentflüchtlinge - bereits anlässlich ihrer Vorsprache im Jahr 2007, mutmaßlich im Sommer einen wirksamen Antrag auf Erteilung einer Aufnahmezusage gestellt, obwohl die entsprechenden Formulare erst anlässlich der erneuten Vorsprache in der Botschaft am 5. Februar 2008 ausgefüllt und die entsprechenden Dokumente zum Nachweis der Richtigkeit der abgegebenen Erklärungen vorgelegt wurden. Auch wenn nach der Stellungnahme der Botschaft vom 11. Mai 2010 keine schriftlichen Aufzeichnungen über den Tag der Terminvergabe geführt wurden, sondern lediglich der Termin für die Abgabe der Antragsunterlagen selbst - hier der 5. Februar 2008 - in einem Kalenderbuch festgehalten wurde und der Nachweis einer Antragstellung mit Terminvereinbarung im Sommer 2007 deshalb weder seitens der Kläger konkret geführt noch - mangels entsprechender Aufzeichnungen - durch das Bundesamt widerlegt werden kann, steht doch gleichwohl fest, dass aufgrund eines in den Jahren 2005 bis 2006 unterbrochenen Aufnahmeverfahrens im Zeitraum 2007 bis 2008 eine durchweg hohe Anzahl von Terminen vereinbart wurde und es aufgrund des hohen Andrangs zu längeren - teilweise monatelangen - Wartezeiten für die Abgabe der Antragsunterlagen kam. Ein von der Botschaft in diesem Zusammenhang als exemplarisch angeführter Fall, in dem ein ursprünglich für November 2007 angesetzter Termin auf Juni 2007 vorgezogen wurde, macht deutlich, dass zwischen Terminabsprache bzw. Antragseingang und dem Zeitpunkt der förmlichen Abgabe der Antragsunterlagen in der Botschaft durchaus ein Zeitraum von fünf oder gar mehr Monaten verstreichen konnte, bevor die Anträge der Reihe nach abgearbeitet wurden (vgl. Stellungnahme des Verbindungsbeamten ... in der Botschaft in Kiew vom 11.5.2010). Es unterliegt daher keinen vernünftigen Zweifel, dass (auch) die Kläger im Laufe des Jahres 2007, mutmaßlich im Sommer bei der deutschen Botschaft in Kiew Anträge gestellt haben (müssen), um überhaupt einen Termin für die Abgabe der Antragsunterlagen im Februar 2008 zu erhalten. Soweit die Beklagte dem entgegenhält, die Kläger hätten hierfür keine Nachweise erbracht, kann sie damit schon deshalb nicht gehört werden, weil sie die Antragstellung selbst - abweichend von einer ordnungsgemäßen Verwaltungspraxis - nicht dokumentiert hat. Dies geht zu ihren Lasten. Es wird auch im Bereich der Bundesverwaltung allgemeiner Übung entsprechen, dass über mündliche Erklärungen von besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Bedeutung ein Vermerk bzw. eine Niederschrift aufzunehmen ist (vgl. etwa § 19 Satz 1 BayAGO).

Die Auffassung der Beklagten, die in Nr. 11 4 Satz 3 der Verfahrensanordnung vom 24. Mai 2007 i.d.F. vom 22. Juli 2009 festgelegte Frist für eine Antragstellung - hier der 31. Dezember 2007 - sei von den Antragstellern nicht gewahrt worden, erweist sich mithin als nicht haltbar. Die Kläger haben vielmehr bereits im Jahr 2007, mutmaßlich im Sommer einen wirksamen Antrag auf Erteilung einer Aufnahmezusage gestellt. Dass die Terminvereinbarung erst nach dem 31. Dezember 2007 erfolgt wäre, hat die Beklagte weder behauptet noch ist dies sonst ersichtlich. Ebenso wenig gereicht den Klägern zum Nachteil, dass sie anlässlich der mündlichen Antragstellung im Jahr 2007 - entsprechend der Art und Weise der Antragstellung - die vom Bundesamt entwickelten Formblätter nicht verwandt haben. Zum einen fehlt es für die Verpflichtung zur Verwendung von Formblättern an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage, zum anderen könnte selbst das Bestehen einer solchen Verpflichtung - ähnlich wie bei einem Schriftformerfordernis - nicht zum materiell-rechtlichen Ausschluss eines Anspruchs auf ermessensfehlerfreie Entscheidung führen (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl., 2010, § 22 RdNrn. 34 und 32).

2. Aber selbst dann, wenn man mit der Beklagten davon ausgehen wollte, dass die Kläger ihren (erneuten) Antrag auf Erteilung einer Aufnahmezusage nicht bereits im Jahr 2007, sondern erst am 5. Februar 2008 gestellt hätten, könnte der angefochtene Bescheid vom 3. November 2009 keinen Bestand haben.

a) Es entspricht allgemeiner Rechtsauffassung, dass sich Behörden nach dem Rechtsgedanken der §§ 242, 162 BGB nicht auf die Versäumung einer die Rechtsverfolgung hindernden oder die Anspruchsberechtigung vernichtenden Ausschlussfrist berufen dürfen, wenn die Wahrung der Frist infolge von Umständen unmöglich wurde, die in ihrem eigenen Verantwortungsbereich wurzeln (vgl. BVerwG, Buchholz 112 § 30 a VermG Nr. 1 Satz 1 m.w.N.; BVerwG, Buchholz 428 § 30 a VermG Nr. 2 S. 2 [S. 7] m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 18.4.1997 - 8 C 38.95 -, NJW 1997, 2966 [2969]; ebenso: BGH, NVwZ 1985, 938 [939]; BSGE 32, 60 [62]; BFHE 86, 148 [151]).

In diesen Fällen ist entsprechend dem Rechtsgedanken des § 162 BGB entweder die Antragstellung zu dem Zeitpunkt zu fingieren, zu dem der Antrag ohne die zur Verfristung führenden Umstände rechtzeitig gestellt worden wäre, so dass die Ausschlussfrist in einem solchen Fall als gewahrt anzusehen ist (BVerwGE 9, 89 [91 ff.]; BVerwG, Urteil vom 18.4.1997 - 8 C 38.95 -, NJW 1997, 2966 [2969]; BGH, NJW 1995, 205 [206] und NVwZ 1995, 938 [939]; BFHE 86, 148 [151]; BSGE 32, 60 [62]) oder gemäß § 32 VwVfG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bzw. sogenannte Nachsicht oder rückwirkende Verlängerung der Frist gemäß § 31 Abs. 7 VwVfG von Amts wegen ohne Antrag zu gewähren (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl., 2010, § 31 RdNrn. 27, 13 und 38).

b) Gemessen an diesen Grundsätzen bedarf keiner weiteren Darlegung, dass im Zusammenhang mit der - auch nachträglichen - Bestimmung einer Ausschlussfrist zwischen der Terminvereinbarung und der förmlichen Stellung des Antrags nicht ein Zeitraum von mehr als fünf Monaten verstreichen darf, ohne dass die Behörde einer insoweit unverschuldeten Fristversäumnis der Antragsteller durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen Rechnung trägt. Dass im Zeitpunkt der Antragstellung - gleichviel ob im Sommer 2007 oder am 5. Februar 2008 - noch niemand wissen konnte, dass es im Juli 2009 zu einer rückwirkenden Stichtagsregelung für die Zulassung von Zweitanträgen bis zum 31. Dezember 2007 kommen würde, hat insoweit keine Bedeutung, weil die jeweiligen Vertreter des Bundesamtes in der Botschaft in Kiew trotz der damals eindeutigen Rechtslage nach Nr. II 4 Satz 3 der Verfahrensanordnung i.d.F. vom 24. Mai 2007 - keine erneute Antragstellung möglich - gleichwohl Anträge entgegengenommen haben und deren Verbescheidung im Hinblick auf eine zu erwartende Änderung der Rechtslage ab dem 15. Oktober 2008 sogar ausgesetzt wurde (vgl. Evaluierungsbericht des BAMF vom 31.12.2008, S. 6). Entscheidend ist vielmehr allein, dass im Zeitpunkt der Verbescheidung des Begehrens der Antragsteller, also bei Erlass des Bescheides am 3. November 2009, sowohl die Ausschlussfrist (31.12.2007) als auch die im Laufe des Jahres 2007 in der deutschen Botschaft in Kiew herrschenden Umstände hinsichtlich der Bearbeitung der eingehenden Anträge bekannt waren (vgl. Stellungnahme des Verbindungsbeamten ... in der Botschaft in Kiew vom 11.5.2010). In einem solchen Fall hätte bei Erlass des Bescheides am 3. November 2009 von Amts wegen Wiedereinsetzung in die dann von den Antragstellern am 5. Februar 2008 unverschuldet versäumte Frist vom 31. Dezember 2007 gewährt werden müssen. Denn wäre den Antragstellern bereits im Jahr 2007 ein Termin zur Abgabe ihrer Antragsunterlagen eingeräumt worden, so hätten auch sie die Ausschlussfrist ohne jeden Zweifel wahren können. Dass dies - unter Zugrundelegung einer Wirksamkeit der Antragstellung erst am 5. Februar 2008 - nicht mehr der Fall ist, wurzelt im alleinigen Verantwortungsbereich der Beklagten. Die Kläger trifft hieran keine Schuld. [...]