Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich Kosovo und Serbien (Diabetes mellitus, psychische Erkrankung u.a.).
[...] Der Kläger hat aufgrund seines Gesundheitszustandes einen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. [...]
Mit dem Bescheid der Beklagten vom 15.12.1994, dessen Abänderung bzgl. der Feststellung von Abschiebungshindernissen begehrt wird, sind Abschiebungshindernisse im Hinblick auf die damals noch existierende Volksrepublik Jugoslawien abgelehnt worden. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 28.09.2009 hat die Beklagte eine Abänderung mit der Begründung abgelehnt, dass der Kläger, der unstreitig im Kosovo geboren [ist] und ausschließlich dort gelebt hat, serbischer Staatsangehöriger sei und dass einer Abschiebung nach Serbien keine Abschiebungshindernisse entgegenstehen. Dem kann aufgrund des Gesundheitszustandes des Klägers unter Berücksichtigung der aktuellen Auskunftslage nicht gefolgt werden.
Es kann dahinstehen, ob der Kläger tatsächlich die serbische Staatsangehörigkeit besitzt, weil ihm am 30.10.2007, d.h. vor der Unabhängigkeitserklärung der Republik Kosovo, vom serbischen Generalkonsulat in Hamburg ein Reisepass ausgestellt wurde (vgl. insgesamt Auskunft des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport an VG Gießen vom 03.03.2009). Denn selbst wenn er die serbische Staatsangehörigkeit besitzt, bestünde bei einer Abschiebung nach Serbien die konkrete Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes, da dort, entgegen der Behauptung der Beklagten, eine adäquate Behandlung seiner Erkrankungen nicht gewährleistet ist.
Beim Kläger wurde ein Diabetes Mellitus 2, ein cardiovaskuläres Risikoprofil aufgrund eines essentiellen arteriellen Hypertonus und einer Hyperlipidämie, eine Adipositas sowie eine schwere generalisierte Angststörung mit psychosenahen Symptomen diagnostiziert. Zur Behandlung dieser Erkrankungen erhält er zahlreiche Medikamente (Victoza, Risperidon, Atenol, Simvabeta, Trimiparin) sowie eine regelmäßige psychotherapeutische Behandlung. Die Beklagte bestreitet die vom Kläger durch zahlreiche Atteste nachgewiesenen Erkrankungen und deren Behandlungsbedürftigkeit mit Medikamenten etc. nicht, sondern verweist bzgl. der Behandlung auf eine medizinische Grundversorgung aufgrund der in Serbien existierenden gesetzlichen Krankenversicherung, die unabhängig von einem echten Arbeitsverhältnis bestehe und eine kostenfreie Gesundheitsfürsorge auch bei Arbeitslosigkeit zum Ziel habe. In Serbien ist jedoch der Zugang zu Sozialleistungen wie medizinischer Versorgung, Arbeitslosenunterstützung, Kindergeld und Rente immer von einer amtlichen Registrierung und dem Besitz gültiger Personaldokumente sowie ggf. noch weiteren Voraussetzungen, je nach Art der beantragten Sozialleistungen abhängig. Alle serbischen Staatsbürger sind verpflichtet, sich bei der zuständigen Polizeistation an ihrem Wohnort anzumelden. Dazu muss unter anderem ein Nachweis über den Wohnsitz entweder durch einen Mietvertrag oder durch eine Eigentumsurkunde vorgelegt werden. Hat jemand weder Wohneigentum bzw. Mietbesitz noch familiäre Unterstützung durch Unterkunft, ist die Registrierung sehr problematisch bzw. unmöglich. Zwar ist Personen aus dem Kosovo formell erlaubt, sich in Serbien niederzulassen; eine Registrierung an einem anderen als dem Herkunftsort eines Rückkehrers ist damit aufgrund der in Serbien grundsätzlich garantierten Niederlassungsfreiheit möglich. In der Praxis ist dieses Recht auf Niederlassungsfreiheit jedoch nicht immer problemlos durchsetzbar. Albanische Volkszugehörige, aber auch Angehörige anderer ethnischer Minderheiten, müssen, insbesondere wenn sie nicht in der Lage sind ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten, mit erheblichem Widerstand der zuständigen Kommunalbehörden rechnen, der im Einzelfall nur durch Beschreitung des Rechtswegs überwunden werden kann. Dementsprechend besteht, sofern eine Registrierung nicht gelingt, kein Anspruch auf kostenlose Krankenversicherung im Rahmen des staatlichen Gesundheitssystems (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, "Serbien - Allgemeine Lage und Situation der Roma und Albaner", Juni 2010, S. 5 und 9; Auswärtiges Amt, Lagebericht für Serbien v. 04.06.2010, S. 20, 21; die von der Beklagten in Bezug genommene Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Kassel vom 09.10.2008; VG Münster, U. v. 24.06.2010 - 6 K 2111/08.A -; VG Osnabrück, U. v. 20.04.2009 - 5 A 50/09 -).
Aufgrund der zahlreichen Erkrankungen des Klägers, die nach deutschen Maßstäben zu einer Schwerbehinderung von 60 % geführt haben und ihn erwerbsunfähig machen, wird dieser bei einer Abschiebung nach Serbien mittellos sein. Dies wird auch für seine Ehefrau gelten, auf deren Betreuung der Kläger nach den ärztlichen Unterlagen angewiesen ist. Das Gericht geht daher davon aus, dass der Kläger, der sich nie in Serbien aufgehalten hat, dort nicht registriert werden und dementsprechend keinen Anspruch auf kostenlose Krankenversicherung im Rahmen des staatlichen Gesundheitssystems haben wird. Die Mittel, in Serbien bestehende private und staatliche Einrichtungen und die dort angebotenen medizinischen Dienstleistungen zu nutzen, werden ihm dort ebenfalls nicht zur Verfügung stehen.
Etwas anderes gilt auch nicht, weil der Landkreis als zuständige Ausländerbehörde unter dem 25.09.2009 schriftlich erklärt hat, dass er für den Fall der Ausreise des Klägers die für ihn im "Heimatland Republik Serbien anfallenden Kosten einer Medikation und Kosten einer notwendigen ärztlichen Behandlung" übernehmen werde. Die Kostenzusage bezieht sich auf die "Erkrankungen, deren weitere Behandlung auch nach Ausreise zwingend notwendig sind, um eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abzuwehren". Sie erstreckt sich auf den Zeitraum "ab Ausreise bis zu einer Registrierung im Heimatland und somit bis zu einer grundsätzlich möglichen Inanspruchnahme staatlicher serbischer Fürsorgeleistungen". Insoweit kann dahinstehen, ob die nach den obigen Feststellungen auf einen völlig unbestimmten Zeitraum bzw. eventuell letztlich auf eine dauerhafte Zusage bezogene und im Hinblick auf die Höhe der zu übernehmenden Kosten in keiner Weise konkretisierte Kostenübernahmeerklärung wirksam ist. Grundsätzlich ist die Frage, ob eine Kostenübernahmeerklärung zur Abwendung einer "erheblichen konkreten Gefahr" im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausreichen kann, abhängig von der individuellen Art und Schwere der Erkrankung, den benötigten finanziellen Mitteln, den persönlichen Verhältnissen des Ausländers und insbesondere der Lage im Zielstaat der Abschiebung (vgl. Nds. OVG, B. v. 06.05.2010 - 8 LA 66/10 - ). Denn der Kläger wird aufgrund der nicht zu erwartenden Registrierung in Serbien nicht nur von Krankenversicherungsleistungen, sondern von jeglichen Sozialleistungen, insbesondere Sozialhilfe und Kindergeld, ausgeschlossen sein, und das Beschaffen von Wohnraum ohne den Rückhalt von in Serbien lebenden Verwandten würde ein zusätzliches Problem für den zur Minderheit der Roma gehörenden Kläger darstellen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Serbien, a.a.O.; zur besonderen Schutzbedürftigkeit der Roma in Serbien, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, a.a.O., S. 12 ff.; VG Kassel, U. v. 12.11.2008 - 4 E 1855/06.A - juris). Da insoweit bei einer Abschiebung nach Serbien das Existenzminimum nicht gesichert ist, liegt jedenfalls ein Abschiebungshindernis gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Dementsprechend kann die Abschiebung unter Würdigung des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes nicht verantwortet werden, so dass sich nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ein Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz durch das Bundesamt ergibt. Es liegen damit keine besonderen Umstände vor, die es rechtfertigen würden, von der in dieser Vorschrift für den Regelfall als Rechtsfolge vorgesehenen Aussetzung der Abschiebung abzusehen. [...]
Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes auch im Hinblick auf die seit 2008 unabhängige Republik Kosovo. [...]
Auch bei einer Abschiebung in den Kosovo besteht die Gefahr, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers im oben dargestellten Sinn wesentlich verschlimmert. Nach den Feststellungen des den Kläger behandelnden Diabetologen ... besteht beim Kläger ein cardiovaskuläres Risikoprofil aufgrund eines essentiellen arteriellen Hypertonus und einer Hyperlipidämie (vgl. Attest vom 22.03.2010). Gegenüber der Einzelrichterin hat der Facharzt dieses Anfang Dezember 2010 telefonisch dahingehend erläutert, dass beim Kläger aus dem Bluthochdruck, dem Diabetes mellitus, den erhöhten Cholesterinwerten und dem aufgrund der psychischen Erkrankung bestehenden erhöhten Stressempfinden Veränderungen im Bereich der Gefäße resultieren, die der Gefahr eines Herzinfarktes oder eines Schlaganfalls Vorschub leisten. Er hat dort ausdrücklich die von den Internistinnen ..., in deren Attest vom 21.09.2009 diagnostizierte Gefahr einer massiven Dekompensation im Stoffwechsel- und Kreislaufbereich mit den möglichen Akutfolgen eines Herzinfarktes oder Schlaganfalls unter psychischen Stresssituationen selbst bei Fortführung der derzeitigen Medikation für den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bestätigt. Das Gericht hat keinen Anlass an diesen Feststellungen zu zweifeln, da die zahlreichen vorgelegten Atteste unterschiedlicher Fachärzte die Entwicklung der Erkrankungen des Klägers in den letzten Jahren transparent und nachvollziehbar machen. Unter Berücksichtigung der physischen Erkrankungen und der Tatsache, dass der Kläger aufgrund seiner psychischen Erkrankung unter massiven Ängsten leidet, die ihn nicht nur von der praktischen Betreuung durch seine Familie, sondern auch von deren emotionalem Zusammenhalt völlig abhängig macht, stellt eine Abschiebung in den Kosovo nach Überzeugung des Gerichts eine psychische Stresssituation dar, die die akute Gefahr eines Herzinfarktes oder eines Schlaganfalls hervorruft. Insoweit ist zusätzlich und die gesundheitlichen Probleme verstärkend zu berücksichtigen, dass der Kläger nach 14 Jahren Auslandsaufenthalt in seine Heimat zurückkehren würde und weder er noch seine Ehefrau in der Lage wären, für den Lebensunterhalt zu sorgen (s.o.). Auch unter Zuhilfenahme vorhandener Rückkehrerprogramme wird das Angewiesensein auf Sozialhilfe und andere Sozialleistungen, die zur Befriedigung der Grundbedürfnisse kaum ausreichen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht für die Republik Kosovo vom 19.10.2009, S. 18), neben den Schwierigkeiten eine Unterkunft zu finden, zu einer für den Kläger weder zu bewältigenden noch auszuhaltenden Ausnahmesituation führen (vgl. eingeholte Auskunft des behandelnden Neurologen und Psychiaters ... vom 18.10.2010). Die zu erwartende lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist auch nicht durch den Abschiebungsvorgang an sich, d.h. durch nur von der Ausländerbehörde zu berücksichtigende inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse bedingt. Denn erreicht der Kläger tatsächlich den Kosovo, verwirklicht sich dort, d.h. zielstaatsbezogen, ein Abschiebungshindernis (vgl. VG Braunschweig, U. v. 23.11.2010 - 6 A 393/06 -; VG Gelsenkirchen, U. v. 12.12.2005 - 1 a K 3164/03.A -, juris).
Aufgrund dieser Sachlage kommt es nicht darauf an, ob die Erkrankungen des Klägers im Einzelnen mit den entsprechenden Medikamenten etc. im Kosovo behandelt werden können und ob er diese erlangen kann. Nach den telefonischen Ausführungen des behandelnden Diabetologen gegenüber der Einzelrichterin ist der Kläger jedoch bzgl. des festgestellten Diabetes mellitus auf das relativ neue Medikament Victoza angewiesen. Aus den erfolglosen Versuchen einer Einstellung des Diabetes in der Vergangenheit und den besonderen Vorteilen des Medikamentes speziell für den Kläger ergibt sich, dass dieses nicht ohne unmittelbare Gesundheitsgefahren für den Kläger durch ein anderes Medikament ausgetauscht werden kann (vgl. Telefonvermerk vom 03.12.2010). Nach den Ermittlungen des Gerichts beträgt der Preis für 10 x 3 ml Victoza Injektionslösung 584,77 EUR (www.medpex.de). Da das Medikament erst seit 2009 erhältlich ist und aufgrund des hohen Preises ist nicht davon auszugehen, dass es sich auf der Liste der im Kosovo verfügbaren Medikamente, der "Essential Drug List", befindet. Damit ist eine Versorgung nur in der Weise möglich, dass der Kläger dieses über Apotheken im Kosovo aus dem Ausland importiert (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Kosovo, a.a.O., S. 20). Da der Kläger 1,2 ml des Medikamentes täglich benötigt, wären die Kosten für einen Import mit Sozialhilfeleistungen keinesfalls aufzubringen. Dementsprechend kommt es auch auf die Verfügbarkeit oder Finanzierbarkeit der anderen notwendigen Medikamente nicht an. [...]