VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Beschluss vom 14.09.2010 - 3 B 75/10 - asyl.net: M17582
https://www.asyl.net/rsdb/M17582
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung nach Griechenland. Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet. Das BAMF wird zudem verpflichtet, die zuständige Ausländerbehörde hierüber umgehend zu informieren, um zu gewährleisten, dass die gerichtliche Anordnung Beachtung findet. Andernfalls wäre zu besorgen, dass das BAMF die von ihm durch den Erlass des angefochtenen Bescheids veranlasste Abschiebung nach Griechenland nicht rechtzeitig stoppt.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Griechenland, Suspensiveffekt, einstweilige Anordnung, Konzept der normativen Vergewisserung, Selbsteintritt, Ermessen
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, VwGO § 123, AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 27a, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 18, GG Art. 16a Abs. 2 S. 1, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 2 Abs. 2
Auszüge:

[...]

b) Der Antrag nach § 880 Abs. 5 VwGO ist auch begründet.

Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung. Denn es sprechen gewichtige Gesichtspunkte für die Annahme eines Sonderfalles im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 34a AsylVfG und dafür, dass die Abschiebung nach Griechenland aus Rechtsgründen nicht im Sinne des § 34a Abs. 1 AsylVfG durchgeführt werden kann, da dem Antragsteller dort die Verletzung von Kernanforderungen des europäischen Flüchtlingsrechts droht.

Nach der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat die Bundesrepublik Deutschland ungeachtet der Regelungen in Art. 16a Abs. 2 GG, §§ 26a, 27a, 34a AsylVfG Schutz zu gewähren, wenn Abschiebungshindernisse nach § 51 Abs. 1 oder § 53 Ausländergesetz - heute § 60 AufenthG - durch Umstände begründet werden, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts der normativen Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können und damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich heraus gesetzt sind (BVerfG, Urt. v. 14.05.1996 - 2 BvR 1938, 2315/93 -).

Eine gerichtliche Prüfung, ob der Abschiebung in einen nach europäischem Recht oder Völkerrecht für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, kann der Ausländer in Fortführung dieser Grundsätze dann erreichen, wenn ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die flüchtlingsrechtlichen Gewährleistungen und die Verfahrenspraxis in dem anderen Staat im Sinne von § 27a AsylVfG nicht an den Standard heranreichen, den der nationale Gesetzgeber bei Einfügung des § 27a AsylVfG mit Wirkung vom 28. August 2007 vor dem Hintergrund der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2004/83/EG (ABl. v. 30.09.2004, L 304/12 - sog. Qualifikationsrichtlinie -) bei dem EG-Mitgliedstaat, der nach der Dublin-VO zuständig ist, als gegeben vorausgesetzt hat und den er nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Qualifikationsrichtlinie am 10. Oktober 2006 voraussetzen durfte.

Solche ernst zu nehmenden Anhaltspunkte liegen im Falle Griechenlands vor. Die Antragsgegnerin geht selbst davon aus, dass es in Griechenland Defizite bei der Bereitstellung ausreichender Unterbringungskapazitäten für Flüchtlinge gibt, und zwar gerade auch im Hinblick auf die Unterbringung von sog. Dublin-Rückkehrern. Den festgestellten Kapazitätsengpässen trägt die Ermessenspraxis der Antragsgegnerin bislang lediglich dadurch Rechnung, dass bei besonders schutzwürdigen Personen von Überstellungen nach Griechenland im Zweifel abgesehen und von dem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch gemacht wird. Das gilt insbesondere für Flüchtlinge hohen Alters, für minderjährige Flüchtlinge sowie für Flüchtlinge, bei denen eine Schwangerschaft, ernsthafte Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder besondere Hilfebedürftigkeit vorliegt.

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), dessen Stellungnahmen nach Erwägungsgrund 15 der Qualifikationsrichtlinie ein besonderes Gewicht zukommt, hat in mehreren Memoranden Rechtsgrundlagen und Praxis griechischer Asylverfahren als unzureichend kritisiert. Zuletzt hat er am 17. Juli 2009 erklärt, sich zukünftig nicht mehr an Asylverfahren in Griechenland zu beteiligen, solange nicht durch strukturelle Änderungen faire und effiziente Asylverfahren garantiert seien. Zur Begründung hat er ausgeführt, er stelle mit großer Sorge fest, dass die durch den neuen Präsidialerlass Nr. 81/2009 vom 30. Juni 2009 mit Wirkung ab dem 20. Juli 2009 eingeführten strukturellen Änderungen die vom internationalen und europäischen Recht geforderte Fairness und Effizienz des Asylverfahrens in Griechenland nicht ausreichend garantierten. Insbesondere sei das - gemeinschaftsrechtlich gebotene - Recht auf effektiven Rechtsschutz nicht gewährleistet. Dies wird dadurch bestätigt, dass Griechenland offensichtlich seine Pflichten nach § 18 Abs. 1 bis 6 Dublin II-VO missachtet. Weitere ernst zu nehmende Quellen bestätigen die Zweifel daran, dass in Griechenland die europa- und völkerrechtlichen Schutzstandards zumindest im Kern sichergestellt sind (zuletzt Amnesty International, "Die Dublin-II-Falle", März 2010; Bericht des schweizerischen Bundesamtes für Migration "Focus Griechenland - Asylsystem" v. 23.09.2009). Zu Recht haben daher in jüngerer Zeit sowohl das BVerfG als auch das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in vergleichbaren Fällen die Abschiebung der jeweiligen Antragsteller nach Griechenland mit Blick auf die dortige Situation Asylsuchender ausgesetzt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 Beschl. v. 21.05.2010 - 2 BvR 904/10 -; OVG NRW, Beschl. v. 07.10.2009 - 8 B 1433/09.A -).

Ist die Schutzgewährung entsprechend den europa- und völkerrechtlichen Regelungen in einem Drittstaat oder einem Mitgliedstaat der Europäischen Union trotz deren grundsätzlicher Geltung in der Praxis nicht zumindest im Kern sichergestellt - etwa aufgrund vorübergehender besonderer Umstände in dem betreffenden Staat wie z.B. einen die Kapazitäten deutlich übersteigenden Zugang von Flüchtlingen - ist diese Situation für den Betroffenen von vergleichbarem Gewicht wie der vom Bundesverfassungsgericht angeführte Sonderfall, dass sich die für die Qualifizierung als sicher maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung nach § 26a AsylVfG hierauf noch aussteht. Nach Auffassung des erkennenden Gerichts und entgegen der Argumentation der Antragsgegnerin steht dieser Einschätzung mit Blick auf die Gleichheit der Folgen für den Betroffenen auch der Umstand nicht entgegen, dass es sich bei den in Griechenland bestehenden Defiziten nicht um individuelle, sondern allgemeine Bedingungen im Drittstaat handelt. Das Bundesverfassungsgericht hat in Bezug auf die Praxis in dem jeweiligen Drittstaat lediglich festgestellt, dass (nur) die Berufung auf eine von der allgemeinen Praxis in dem jeweiligen Staat abweichende Handhabung des Einzelfalles oder ein (sonstiges) Fehlverhalten, in diesem Zusammenhang nicht angeführt werden könnten (BVerfG, Urt. v. 14.05.1996 - 2 BvR 1938, 2315/93 -). Den vom Bundesverfassungsgericht angeführten Sonderfällen liegt die Zielsetzung zugrunde, dem Asylsuchenden den gebotenen Schutz nicht durch die Rückführung in den Drittstaat zu versagen. Ob dies auf einzelfallbezogenen Erwägungen beruht oder auf den allgemeinen Bedingungen in dem jeweiligen Staat, ist insoweit nicht von maßgeblicher Bedeutung (VG Düsseldorf, Beschl. v. 08.12.2009 - 13 L 1840/09.A).

Mit Blick auf die Schutzbedürftigkeit des Betroffenen muss die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes auf der Grundlage einer verfassungskonformen Auslegung von § 34a AsylVfG dann möglich sein, wenn - wie hier mit Blick auf Griechenland .hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG in dem Drittstaat europarechtlich zu gewährleistende Schutz tatsächlich nicht zumindest im Kern sichergestellt ist. Ob dies tatsächlich der Fall ist und welche Folgen dies im Lichte der Regelungen der Art. 16a Abs. 2, §§ 26a, 27a AsylVfG für das Asylbegehren des Betroffenen in Deutschland hat, ist dann im Hauptsacheverfahren zu klären.

Bei der dargestellten Sachlage bestehen insgesamt ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung. Auch soweit man eine weitergehende Interessenabwägung für erforderlich hält, fällt diese angesichts der Bedeutung der in Rede stehenden Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 GG zugunsten des Antragstellers aus. Er darf nicht der Gefahr ausgesetzt werden, nach Griechenland überstellt zu werden, wo eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sein Asylbegehren nicht mit der erforderlichen Gründlichkeit betrieben wird. Eine weitergehende Prüfung bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

2. Den Antrag des Antragstellers, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass der Antragsteller während der Geltung der Anordnung zu 1) nicht nach Griechenland abgeschoben werden darf, ist nach der Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts in einer Konstellation wie der vorliegenden als "flankierender Antrag" ebenfalls statthaft (Nds. OVG Beschl. v. 19.11.2009 - 13 MC 166/09 -).

Der Antrag ist aus den vorstehenden Gründen auch begründet. Eine umgehende Mitteilung durch die Antragsgegnerin, auf deren Initiative die zuständige Ausländerbehörde (der Landkreis Uelzen) die Abschiebung eingeleitet hat, ist in diesem Falle geboten, um in Anbetracht des bereits gescheiterten und jederzeit zu wiederholenden Abschiebungsversuches zu gewährleisten, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung Beachtung findet. Andernfalls wäre zu besorgen, dass die Antragsgegnerin, die sich in dem angefochtenen Bescheid mit den Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts nicht hinreichend auseinandergesetzt hat, die von ihr durch den Erlass des angefochtenen Bescheids veranlasste Abschiebung nicht rechtzeitig stoppt (ebenso VG Braunschweig, Beschl. v. 27.07.2010 - 2 B 188/10 -). [...]