OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 19.06.2009 - 7 B 10468/09.OVG - asyl.net: M15790
https://www.asyl.net/rsdb/M15790
Leitsatz:

§ 104 a Abs. 2 AufenthG setzt nicht voraus, dass der Ausländer bereits am Stichtag des 1.7.2007 volljährig gewesen ist; für die Anwendung des § 104 a AufenthG genügt es, wenn der Ausländer einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung besitzt; ein volljähriger Ausländer kann eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a Abs. 1 AufenthG aus eigenem Recht erhalten, auch wenn er am Stichtag des 1.7.2007 noch minderjährig war; ein atypischer Ausnahmefall, der die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 104 a Abs. 1 AufenthG begründet, kann nur auf Umständen beruhen, bezüglich derer nicht bereits § 104 a Abs. 1 S. 1 Nr. 1-6 AufenthG eine Regelung enthält; daher können Falschangaben der Eltern, die dem volljährigen Kind nicht zugerechnet werden, keinen atypischen Ausnahmefall begründen.

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Altfallregelung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Volljährige Kinder, Volljährigkeit, Beurteilungszeitpunkt, Stichtag, Duldung, Anspruch, Integration, Zukunftsprognose, Lebensunterhalt, Ermessen, Passpflicht, Passbeschaffung, Mazedonien, Mazedonier, atypischer Ausnahmefall, Falschangaben, Eltern, Zurechnung
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 104a Abs. 2; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 4; AufenthG § 5 Abs. 3 S. 2; AufenthG § 104a Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

Zu Recht wird in der Beschwerdebegründung geltend gemacht, dass entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG an die Antragstellerin nicht schon deshalb ausscheidet, weil diese am 1. Juli 2007 noch minderjährig gewesen ist. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung muss sich am 1. Juli 2007 lediglich ein Elternteil des die Aufenthaltserlaubnis begehrenden ausländischen Kindes seit mindestens acht oder, falls er zusammen mit einem oder mehreren minderjährigen ledigen Kindern in häuslicher Gemeinschaft lebt, seit mindestens sechs Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im Bundesgebiet aufgehalten haben, muss weiterhin das die Aufenthaltserlaubnis begehrende Kind dieses Ausländers geduldet, volljährig und ledig, bei der Einreise aber minderjährig gewesen sein und muss schließlich gewährleistet erscheinen, dass sich das Kind auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Dies räumt das Verwaltungsgericht auch ausdrücklich ein, meint aber unter Berufung auf Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Loseblatt, Stand Januar 2008, § 104a AufenthG Rn. 25, "aus dem Charakter einer Altfallregelung, die bezogen auf einen bestimmten Stichtag einen nach bestimmten Kriterien beschriebenen Personenkreis erfassen" wolle, folge, "dass die Volljährigkeit nicht nach dem Stichtag eingetreten sein" dürfe, "weil diese Personen von Absatz 1 erfasst" würden (ohne Begründung im Ergebnis ebenso Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Auflage 2008, Rn. 608). Diese Erwägungen gehen aber fehl.

Als der von § 104a AufenthG bezogen auf einen bestimmten Stichtag nach bestimmten Kriterien erfasste Personenkreis können nämlich ohne Weiteres alle diejenigen Ausländer, die sich am 1. Juli 2007 seit mindestens acht oder, falls sie zusammen mit einem oder mehreren minderjährigen ledigen Kindern in häuslicher Gemeinschaft leben, seit mindestens sechs Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im Bundesgebiet aufgehalten haben, sowie alle Kinder dieser Ausländer unabhängig von deren Alter am Stichtag angesehen werden. Auch lässt sich der Wortlaut von § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG einerseits und § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG andererseits unschwer dahin verstehen, dass auf die Kinder dieser Ausländer nicht zwingend nur eine dieser beiden Regelungen Anwendung findet, dass also volljährig gewordene "Kinder" dieser Ausländer beiden Bestimmungen unterfallen können.

Dies entspricht offensichtlich auch dem Willen des Gesetzgebers. Es heißt nämlich in der amtlichen Begründung des so Gesetz gewordenen Entwurfs von § 104a AufenthG (BT-Drucks. 16/5065 S. 202):

"Einbezogen sind entsprechend dem IMK-Beschluss vom 17. November 2006 die minderjährigen Kinder von Ausländern, die eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund des Absatzes 1 besitzen. Sie erhalten ein von der Aufenthaltserlaubnis der Eltern bzw. eines Elternteiles abhängiges Aufenthaltsrecht. Mit Eintritt der Volljährigkeit kann ihnen eine Aufenthaltserlaubnis unter den erleichterten Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 1 erteilt werden."

Hieraus lässt sich zunächst entnehmen, dass ein Kind ein von seinen Eltern bzw. einem Elternteil abgeleitetes Aufenthaltsrecht (nur) dann bekommen soll, wenn es im Zeitpunkt der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis an seine Eltern bzw. an ein Elternteil nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG noch minderjährig ist. Sobald letztere eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 AufenthG besitzen, soll dem zu diesem Zeitpunkt noch minderjährigen Kind ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht erteilt werden, mithin nicht aber einem zu diesem Zeitpunkt bereits volljährigen Kind, selbst wenn es am 1. Juli 2007 noch minderjährig gewesen ist. Auch solchen Kindern aber, die ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht erworben haben, soll mit Eintritt ihrer Volljährigkeit eine Aufenthaltserlaubnis unter den - als erleichtert angesehenen - Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 1 erteilt werden können; sie müssen also nach der Vorstellung des Gesetzgebers am Stichtag 1. Juli 2007, der überdies vor dem Inkrafttreten von § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG lag, noch nicht volljährig gewesen sein. Dann aber muss gleiches auch im Falle aller anderen Kinder gelten, die erst nach dem 1. Juli 2007 volljährig geworden sind, wenn sich am 1. Juli 2007 wenigstens ein Elternteil seit mindestens acht oder, falls er zusammen mit einem oder mehreren minderjährigen ledigen Kindern in häuslicher Gemeinschaft lebt, seit mindestens sechs Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im Bundesgebiet aufgehalten hat, aber keine oder noch keine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 AufenthG erhalten hat, da es keinen Grund dafür gibt, diese Kinder unterschiedlich zu behandeln (vgl. auch Fehrenbacher in HTK-AuslR, § 104a AufenthG, zu Abs. 2 [04/2009]); die Auffassung, einem geduldeten volljährigen ledigen Kind eines geduldeten Ausländers könne nur dann nach § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn letzerem zuvor eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 AufenthG erteilt wurde, wird - soweit ersichtlich - von niemandem vertreten, zumal nach Nr. II. 5 des Bleiberechtsbeschlusses "erwachsene unverheiratete Kinder, sofern sie bei ihrer Einreise minderjährig waren, (...) eine eigene Aufenthaltserlaubnis erhalten" konnten, "unabhängig davon, ob ihren Eltern eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird". Wird jedoch einem volljährig gewordenen Kind keine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG erteilt, etwa weil die Voraussetzungen dieser Vorschrift oder von § 5 AufenthG nicht erfüllt sind oder weil die Ausländerbehörde die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach ihrem Ermessen gleichwohl ablehnt, so bleibt zu prüfen, ob das volljährig gewordene Kind nicht seinerseits und unabhängig von der Erteilung oder Versagung von Aufenthaltserlaubnissen an seine Eltern bzw. einen Elternteil die Voraussetzungen des § 104a Abs. 1 AufenthG in eigener Person erfüllt (so auch Nr. 9 der Anwendungshinweise des rheinland-pfälzischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 26. Oktober 2007 [Az.: 19 300-7:316], wonach zudem die Volljährigkeit erst bei Ablauf der - aus § 104a Abs. 5 Satz 4 AufenthG abgeleiteten - Antragsfrist am 1. Juli 2008 bestanden haben muss).

Zutreffend weist die Beschwerdebegründung des weiteren darauf hin, dass gemäß § 104b Nr. 1 AufenthG ein minderjähriges lediges Kind, das die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift begehrt, am 1. Juli 2007 das 14. Lebensjahr vollendet haben muss. Der Gesetzgeber hat also, sofern er die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis von einem bestimmten Alter des Kindes eines Ausländers am Stichtag 1. Juli 2007 abhängig machen wollte, dies im Gesetz jedenfalls an anderer Stelle ausdrücklich zur Erteilungsvoraussetzung gemacht. Von daher liegt es nahe, dass er in § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ausdrücklich die Vollendung des 18. Lebensjahres am 1. Juli 2007 zur Erteilungsvoraussetzung erklärt hätte, hätte dies. seiner Absicht entsprochen. [...]

Entgegen der Annahme der Antragsgegnerin im Bescheid vom 10. Dezember 2008 ist die Anwendung von § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auf die Antragstellerin auch nicht etwa deshalb von vorhnerein ausgeschlossen, weil diese nicht "geduldet" wäre. Wie eingangs ausgeführt, galt die der Antragstellerin am 13. April 2006 bis zum 12. Oktober 2006 erteilte Aufenthaltserlaubnis mangels rechtzeitiger Stellung eines Verlängerungsantrages nicht bis zu dessen Bescheidung durch die Antragsgegnerin als fortbestehend; die der Antragstellerin seitens der Antragsgegnerin erteilten Bescheinigungen waren inhaltlich unzutreffend und vermochten als bloße Bescheinigungen auch nicht den bescheinigten Rechtsstatus zu begründen (vgl. nur Funke-Kaiser a.a.O., Stand April 2009, § 81 AufenthG Rn. 55 sowie Hailbronner, a.a.O., Stand August 2006, § 81 AufenthG Rn. 30, beide m.w.N. aus der Rspr. zu § 69 AuslG). Zwar war seinerzeit der Antragstellerin - in der Annahme, ihre Aufenthaltserlaubnis gelte als fortbestehend, folgerichtig - keine Duldung erteilt worden. Da sie damals aber nicht abgeschoben werden konnte, schon weil die dafür nötigen Papiere nicht vorlagen, hatte sie jedoch Anspruch auf Erteilung einer Duldung, die von Amts wegen hätte erteilt werden müssen. Dies genügt (allgemeine Ansicht; vgl. nur Fränkel in HK-AuslR, § 104a AufenthG Rn.5, Funke-Kaiser a.a.O., Stand Dezember 2009, § 104a AufenthG Rn. 8, Hailbronner, a.a.O., Stand Februar 2008, § 104a AufenthG Rn. 4 und Huber/Göbel-Zimmermann a.a.O., Rn. 590, alle m.w.N., sowie die Hinweise des Bundesministeriums des Innern zum Richtlinienumsetzungsgesetz Rn. 326 und Nr. 5.2.1 der Anwendungshinweise des rheinland-pfälzischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 26. Oktober 2007 [Az.: 19 300-7:316]). [...]

Weiterhin spricht einiges für die Richtigkeit der Ausführungen in der Beschwerdebegründung, wonach es entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin in ihrem Bescheid vom 10. Dezember 2008 und der ebenfalls dahin tendierenden Einschätzung des Verwaltungsgerichts gewährleistet erscheint, dass sich die Antragstellerin in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann, wie § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG weiter voraussetzt. [...]

Soweit die Antragsgegnerin ihr durch § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffnetes Ermessen zudem dahin ausgeübt hat, auch von der Erfüllung der Passpflicht im Sinne von 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG könne nicht abgesehen werden, wird in der Beschwerdebegründung zu Recht darauf hingewiesen, dass zufolge einer Bescheinigung der mazedonischen Botschaft ein Passantrag nur in Mazedonien gestellt werden kann und dass deshalb - zumindest vorübergehend - die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer nach § 5 AufenthV in Betracht kommt, um damit nach Mazedonien reisen und dort einen Reisepass beantragen zu können. Dies hat die Antragsgegnerin bislang nicht erwogen.

Sollte vor dem vom Senat aufgezeigten Hintergrund die Antragsgegnerin gleichwohl den Antrag der Antragstellerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG - etwa im Rahmen des ausstehenden Widerspruchsbescheides - zu Recht und ermessensfehlerfrei ablehnen, so bliebe die Möglichkeit, ihr gemäß § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AufenthG oder - sofern ihr Lebensunterhalt gesichert ist - gemäß § 104a Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 23 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen (s.o.), bei der es sich nicht etwa nur um ein von ihren Eltern ableitbares Aufenthaltsrecht handelt. Der Antragstellerin kann insoweit also nicht etwa die Versagung der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 104a Abs. 1 AufenthG an ihre Eltern entgegengehalten und sie insoweit nicht einem minderjährigen Kind gleichgestellt werden, nur weil sie am 1. Juli 2007 noch minderjährig war. Dass es sich bei der Antragstellerin um eine "geduldete" Ausländerin handelt, wurde ebenfalls bereits oben aufgezeigt. Ferner wurde bereits oben ausgeführt, dass die Ausübung des der Antragsgegnerin durch § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffneten Ermessens bezüglich der Erfüllung der Passpflicht in Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG noch nicht fehlerfrei ist. Soweit die Antragsgegnerin in ihrem Bescheid vom 10. Dezember 2008 schließlich darauf abgestellt hat, dass es sich bei § 104a Abs. 1 AufenthG um eine Sollbestimmung handele, dass deshalb bei Erfüllung der Voraussetzungen dieser Vorschrift in atypischen Ausnahmefällen gleichwohl keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden müsse und dass ein solcher atypischer Ausnahmefall hier vorliege, spricht ebenfalls viel dafür, dass diese Erwägungen fehl gehen.

Letztlich geht die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang davon aus, dass der Antragstellerin zwar die Falschangaben ihrer Eltern nicht zuzurechnen seien, dass es aber dem öffentlichen Interesse widerspreche, ein Aufenthaltsrecht allein aufgrund eines erschlichenen Aufenthaltes zu gewähren,. wenn hierfür die Dauer des Aufenthaltes die Hauptvoraussetzung sei. Als atypisch können indessen wohl nur solche Umstände angesehen werden, bezüglich der nicht bereits § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 6 AufenthG eine Regelung enthält (so auch Hailbronner, a.a.O., Stand Februar 2008, § 104a AufenthG Rn. 3). Gemäß § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Bestimmung an einen geduldeten Ausländer aber voraus, dass "er", also der Ausländer selbst, die Ausländerbehörde nicht vorsätzlich über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände getäuscht hat. Die Täuschung der Ausländerbehörde durch Dritte steht mithin der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis - anders als etwa nach § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. Abs. 3 AufenthG - nicht entgegen. Dann aber ist fraglich, ob die Täuschung der Ausländerbehörde durch Dritte einen atypischen Umstand darstellen kann, der ausnahmsweise die Versagung der im Regelfall zu erteilenden Aufenthaltserlaubnis zulässt. [...]