VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 16.12.2008 - A 8 K 3012/07 - asyl.net: M14714
https://www.asyl.net/rsdb/M14714
Leitsatz:

Extreme Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG für afghanische Staatsangehörige, die nach langjährigem Aufenthalt in Europa nicht freiwillig nach Afghanistan zurückkehren und dort nicht auf den Rückhalt von Verwandten oder Freunden oder auf erreichbaren Grundbesitz zurückgreifen können.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Widerruf, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, Rückkehrer, alleinstehende Personen, Familienangehörige
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 73 Abs. 3
Auszüge:

Extreme Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG für afghanische Staatsangehörige, die nach langjährigem Aufenthalt in Europa nicht freiwillig nach Afghanistan zurückkehren und dort nicht auf den Rückhalt von Verwandten oder Freunden oder auf erreichbaren Grundbesitz zurückgreifen können.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Widerruf der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (jetzt: Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) gemäß Ziffer 1 des Bescheides der Beklagten vom 21.09.2007 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]

Im Fall des Klägers liegen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG (früher: § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) weiterhin vor. [...]

Vorliegend wäre der Kläger im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan einer extremen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt. Eine solche Gefahr ist in Afghanistan auf Grund der allgemeinen unzureichenden Versorgungslage zu bejahen für die Bevölkerungsgruppe der langjährig in Europa ansässigen, nicht freiwillig zurückkehrenden Flüchtlinge, die nicht auf den Rückhalt von Verwandten oder Bekannten/Freunden in Afghanistan und/oder dortigen erreichbaren Grundbesitz zurückgreifen können und/oder über für ein Leben am Existenzminimum ausreichende Ersparnisse verfügen und die deshalb außer Stande sind, aus eigener Kraft für ihre Existenz zu sorgen (VG Karlsruhe, Urt. v. 06.02.2008 - A 11 K 503/07 - juris; Urt. v. 23.01.2008 - A 11 K 521/06 - juris; vgl. auch VG Regensburg, Urt. v. 22.09.2008 - RO 5 K 07.3004 - juris; VG München, Urt. v. 06.06.2008 - M 23 K 06.51096 - juris; VG Oldenburg, Urt. v. 17.10.2008 - 7 A 1934/08 - juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 05.05.2006 - 12 B 11.05 - juris).

Zur Beurteilung der Versorgungslage existieren mehrere unterschiedliche Quellen, die kein einheitliches Bild ergeben. Die Berichte aus jüngster Zeit lassen aber darauf schließen, dass die allgemeine Versorgungslage weiterhin unzureichend ist und sich insbesondere durch die Preissteigerung auf dem Wohnungsmarkt noch verschärft hat, so dass für den genannten Personenkreis eine extreme Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzunehmen ist (zum Ganzen VG Karlsruhe, Urt. v. 06.02.2008 - A 11 K 503/07 - juris; Urt v. 23.01 2008 - A 11 K521/06 - juris). Der jüngste Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.03.2008 führt zur Versorgungslage in Übereinstimmung mit den Lageberichten vom 17.03.2007 und 13.07.2006 Folgendes aus (Ziff. IV. 1.):

"Die Vereinten Nationen versorgen Millionen von Afghanen mit Nahrungsmitteln und Hilfsgütern. Die Versorgungslage hat sich in Kabul und zunehmend auch in den anderen großen Städten zwar grundsätzlich verbessert, wegen mangelnder Kaufkraft profitieren aber längst nicht alle Bevölkerungsschichten davon. In vielen Gebieten Afghanistans ist die Versorgungslage mit Lebensmitteln weiterhin nicht zufriedenstellend. Humanitäre Nothilfeleistungen wurden 2007 in verschiedenen Landesteilen notwendig. Eine Versorgung der Notstandsgebiete ist oftmals, bedingt durch fehlende oder schlecht ausgebaute Verkehrswege, sehr schwierig, im Winter häufig überhaupt nicht möglich. Hinzu kommt die Gefahr von kriminell motivierten Überfällen und Landminen. Die Arbeit der Hilfsorganisationen wird vor allem im Süden und Osten durch Sicherheitsprobleme erschwert. Das Angebot an Wohnraum ist knapp und er ist nur zu hohen Preisen erhältlich. Staatliche soziale Sicherungssysteme sind nicht vorhanden. Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherungen gibt es nicht. Familien und Stammesverbände übernehmen die soziale Absicherung. Rückkehrer, die außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren, stoßen auf größere Schwierigkeiten als Rückkehrer, die in Familienverbänden geflüchtet sind oder in einen solchen zurückkehren, wenn ihnen das notwendige soziale oder familiäre Netzwerk sowie die notwendigen Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlen. Sie können auf übersteigerte Erwartungen hinsichtlich ihrer finanziellen Möglichkeiten treffen, so dass von ihnen überhöhte Preise gefordert werden. Von den Zurückgebliebenen werden sie häufig nicht als vollwertige Afghanen akzeptiert. Andererseits bringen Afghanen, die in den Kriegs- und Bürgerkriegsjahren im westlichen Ausland Zuflucht gesucht haben, von dort in der Mehrzahl der Fälle höhere Finanzmittel, eine qualifiziertere Ausbildung und umfangreichere Fremdsprachenkenntnisse mit als Afghanen, die in Nachbarländer geflüchtet sind. Das verschafft ihnen bei der Reintegration einen deutlichen Vorteil. Die Mehrheit der 'Intelligenzia' ist während der Kriegs- und Bürgerkriegsjahre nach Europa und Nordamerika geflüchtet. Prinzipiell könnten die Fähigkeiten dieser Personen eine erhebliche Ressource für das Land darstellen, denn es mangelt an ausgebildeten Facharbeitern und Akademikern."

Die Stellungnahmen des Sachverständigen Dr. Danesch (v. 24.07.2004 an das OVG Bautzen, v. 25.01.2006 an das VG Hamburg u. v. 04.12.2006 an den VGH Kassel) sowie die Aussage des in der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht Karlsruhe am 13.11.2007 im Verfahren A 11 K 507/06 vernommenen Zeugen Mir Atiq Sediq bestätigen, dass die Versorgungslage in Afghanistan desolat ist.

Nach Einschätzung des UNHCR unterscheiden sich die Probleme der Rückkehrer nicht von denen anderer Afghanen (insbesondere in den Provinzen), sie seien aber sehr viel prononcierter. In erster Linie seien in diesem Zusammenhang Land- und Grundstücksstreitigkeiten zu nennen, die bei der Zuweisung von Land durch die Regierung, Rückforderung ehemaligen Eigentums, illegale Besetzung von Land etc. offenbar würden. Daneben sei die Verwirklichung anderer grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Rechte wie Zugang zu Arbeit, Wasser, Gesundheitsversorgung etc. mit Problemen behaftet (AA, Lagebericht v. 17.03.2007, S. 28).

Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan; Update: Aktuelle Entwicklungen vom 21.08.2008) geht davon aus, dass es die wichtigste Voraussetzung für die Rückkehrer ist, über ein gutes Familiennetz sowie zuverlässige Stammes- oder Dorfstrukturen zu verfügen, um bei einer Rückkehr nach Afghanistan sicher zu leben aber auch wirtschaftlich überleben zu können.

Wegen der unzureichenden Versorgungslage in Afghanistan droht dem Kläger im Fall seiner Rückkehr eine extreme Gefahrenlage i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, weil er nach der Überzeugung des Gerichts in Afghanistan nicht auf Familien- oder Stammesangehörige zurückgreifen kann und nicht in der Lage sein wird, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. [...]