VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 14.10.2008 - 1 A 1094/07 - asyl.net: M14680
https://www.asyl.net/rsdb/M14680
Leitsatz:
Schlagwörter: Armenien, Aserbaidschan, Russland, Staatsangehörigkeit, Staatsangehörigkeit ungeklärt, Armenier, Staatenlose, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Gruppenverfolgung, mittelbare Verfolgung, Christen, interne Fluchtalternative, Berg-Karabach, Existenzminimum, Zumutbarkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage hat zum Teil Erfolg. Den Klägern kann zwar Verfolgungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht zugesprochen werden. Sie haben jedoch Anspruch auf Feststellung, dass ihre Abschiebung nicht nach Aserbaidschan erfolgen darf. [...]

Hier ist die Staatsangehörigkeit der Kläger nicht hinreichend sicher feststellbar. Das gerichtliche Verfahren ist auch nicht der Ort, über die Staatsangehörigkeit endgültig zu entscheiden. Nach dem bisher bekannten Sachstand lässt sich eine verlässliche Entscheidung über die Staatsangehörigkeit der Klägerin zu 1) treffen. Sie ist zwar in Armenien geboren. Als Tochter aserbaidschanischer Eltern gehört sie jedoch nicht dem armenischen Staatsvolk an. Sie hat sich wohl auch um die armenische Staatsangehörigkeit niemals bemüht. Letztendlich kommt es darauf jedoch nicht entscheidend an. Es ist nicht erkennbar geworden, dass sie in Armenien einer Verfolgung ausgesetzt sein würde. Sie haben zwar einen aserbaidschanisch klingenden Nachnamen, sind jedoch der armenischen Kultur verbunden. Die Klägerin zu 1) spricht nicht aserbaidschanisch, sondern armenisch und fällt in einer armenisch sprechenden Umwelt nicht auf. Außerdem gehört sie dem christlichen Glauben an, so dass sie auch insoweit der Bevölkerungsmehrheit angehört. Eine generelle Verfolgung von Aserbaidschanern in Armenien kann ohnehin nicht festgestellt werden, wobei allerdings die Bevölkerungsgruppe auch so klein ist, dass verlässliche Berichte auch kaum vorliegen dürften. Es leben nur noch sehr wenig aserbaidschanische Volkszugehörige in Armenien. Die Volkszugehörigkeit wird jedoch in offiziellen Papieren nicht offenbar. In armenischen Reisepässen wird sie nur eingetragen, wenn dies ausdrücklich beantragt wird (Auswärtiges Amt, Lagebericht zur Republik Armenien vom 18. Juni 2008).

Die Verhältnisse in Aserbaidschan müssen für die Entscheidung nach § 60 Abs. 1 AufenthG wohl außer Betracht bleiben, weil nach gegenwärtigem Erkenntnisstand nicht von einer aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit der Kläger ausgegangen werden kann.

Für den Fall, dass die Kläger weder die die armenische noch die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit besitzen, käme es auf die Situation in der russischen Föderation an, wo die Kläger sich zuletzt dauerhaft aufgehalten haben. Die dortigen Verhältnisse und das erlittene Schicksal erlauben Verfolgungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG bezüglich der Russischen Föderation nicht. [...]

Die Klage hat allerdings Erfolg, soweit es die Abschiebungsandrohung nach Aserbaidschan betrifft. Insoweit sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG gegeben. Es ist hinreichend sicher davon auszugehen, dass die Kläger im Falle einer Abschiebung nach Aserbaidschan einer mittelbaren Gruppenverfolgung wegen der angenommenen armenischen Volkszugehörigkeit ausgesetzt sein werden. Die Klägerin zu 1) wird in Aserbaidschan allein schon wegen ihrer armenischen Sprache und ihrer christlichen Religion auffallen und dadurch der verhassten armenischen Bevölkerungsgruppe zugerechnet werden. Eine wirtschaftliche und menschenwürdige Existenz ist ihnen in Aserbaidschan dann nicht möglich. Die meisten Armenier haben Aserbaidschan seit Anfang der neunziger Jahre verlassen. Allenfalls sind noch alte Menschen oder Personen, die als Armenier nicht zu erkennen sind oder nicht erkannt werden wollen, verblieben. Wer entweder erkennbar armenischer Abstammung ist oder bei dem eine solche Abstammung vermutet wird, ist zumindest Anfeindungen ausgesetzt. Wenn unter diesen Umständen Armenier in Aserbaidschan sich nicht zur Ausreise entschließen, so kann doch ein Zuzug von Armeniern nach Aserbaidschan, die dort keinerlei familiäre Bindungen oder sonstige Verbindung haben, die ihnen zunächst das Einleben in die völlig fremde Gesellschaft erleichtern oder ermöglichen, nicht zugemutet werden (vgl. dazu mit weiteren Nachweisen Thüringisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 28. Februar 2008, 2 KO 899/03).

Eine Abschiebung nach Aserbaidschan ist auch nicht begrenzt auf das armenisch besetzte Gebiet Berg Karabach möglich. Dieses Gebiet gehört zwar staatsrechtlich auch zu Aserbaidschan, ist jedoch seit mehreren Jahren von Armenien besetzt und wird überwiegend von Armeniern bewohnt. Die Kläger wären in diesem Gebiet als Personen, die der armenischen Bevölkerung und christlicher Religion zugerechnet werden können, vor Übergriffen des aserbaidschanischen Staates und Anfeindungen und Nachstellungen von aserbaidschanischen Mitbürgern sicher. Dennoch kann die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nicht durch Begrenzung auf diesen Teil Aserbaidschans begründet werden. Die Kläger können auf diese Fluchtalternative nicht verwiesen werden, selbst wenn sie dieses Gebiet überhaupt erreichen könnten. Ihnen drohen dort aufenthaltsrechtlich relevante Nachteile für Leib, Leben oder Freiheit, weil sie dort nicht wirtschaftlich menschenwürdig existieren können. Die bereits dort ansässige Bevölkerung lebt in "sehr schwierigen sozialen Verhältnissen" (Gutachten Dr. Savvidis vom 14. Dezember 2005). Eine Zuwanderung in die ohnehin nur ansatzweise vorhandenen sozialen Systeme ist nicht möglich und wird auch von den Behörden in Berg Karabach nicht erwünscht (Transkaukasus-Institut, Gutachten vom 16. April 2005). Wenn es für die arbeitsfähige Bevölkerung schon sehr schwierig ist, den Lebensunterhalt zu erwirtschaften, so wird es für die über keine qualifizierte Ausbildung verfügende Klägerin zu 1), die sich noch um ihr kleines Kind kümmern muss, unmöglich sein, dort eine wirtschaftliche Existenz zu finden. [...]