VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 11.11.2008 - 18 K 3037/06.A - asyl.net: M14421
https://www.asyl.net/rsdb/M14421
Leitsatz:

Extreme Gefahrenlage für ältere afghanische Staatsangehörige mit zahlreichen Erkrankungen und ohne familiäre Unterstützung in Kabul.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, multiple Erkrankungen, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, alleinstehende Personen, Situation bei Rückkehr, essentielle Thrombozytämie, Diabetes Mellitus, Tinnitus, WS-Syndrom, Gastritis, rezidive Cephalgie, Hypertonie, Niereninsuffizienz, Lungenerkrankung, Kabul, Versorgungslage, Wohnraum, medizinische Versorgung, Alter, Gesamtbetrachtung, Übergriffe
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Extreme Gefahrenlage für ältere afghanische Staatsangehörige mit zahlreichen Erkrankungen und ohne familiäre Unterstützung in Kabul.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Kläger haben einen Anspruch auf Feststellung, dass in ihrem speziellen Einzelfall Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

Eine Anordnung der obersten Landesbehörde zur Aussetzung der Abschiebung nach Afghanistan im Sinne des § 60a Abs. 1 AufenthG existiert derzeit nicht. Auch eine sonstige, vergleichbaren Schutz gewährende Regelung liegt nicht vor (siehe dazu Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW); Urteil vom 5. April 2006 - 20 A 5161/04.A -, Beschluss vom 21. März 2007 - 20 A 5164/04.A -).

Eine extreme Gefahrenlage im oben beschriebenen Sinne ist im speziellen Einzelfall der beiden Kläger anzunehmen. Das Vorliegen einer solchen Gefahrenlage ist grundsätzlich mittels einer Gesamtschau der allgemeinen Lage im betreffenden Staat und der persönlichen Situation des Ausländers zu beurteilen. Im Hinblick auf die Einschätzung der allgemeinen Lage (betreffend medizinische und sonstige Versorgung, Sicherheit etc.) in Afghanistan nimmt das Gericht zunächst Bezug auf die aktuelle Rechtsprechung des OVG NRW (vgl. Urfeile vom 19. Juni 2008 - 20 A 4676/06.A und 20 A 3886/05.A -) und macht sich die dortigen - auf den im wesentlichen auch dem erkennenden Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnissen basierenden - Ausführungen zu eigen. Dies gilt insbesondere bezüglich der Gesamtbeurteilung der Rückkehrsituation in Afghanistan, wonach die Auskunftslage nicht den Schluss zulässt, dass alle Rückkehrer aus Deutschland, die nicht in einem funktionierenden Familienverband Aufnahme finden, in Afghanistan in eine völlig ausweglose Lage geraten.

Eine solche Situation kann jedoch bei Hinzukommen besonderer Umstände eintreten. Eine insoweit relevante Zuspitzung der Lage hinsichtlich der Existenzbedingungen kommt etwa bei alleinstehenden Frauen oder bei erkrankten, mittellosen, alten, schwachen oder behinderten Personen in Betracht (vgl. Urteil des OVG NRW vom 15. Mai 2003 - 20 A 3332/97.A -).

Nach diesen Maßgaben gilt hier Folgendes:

Zunächst geht das Gericht davon aus, dass die Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan dort nicht auf einen funktionierenden Familien- oder Stammesverband zurückgreifen können. [...]

Im Hinblick auf die Rückkehrsituation der Kläger ist zu berücksichtigen, dass es sich um ein Ehepaar von 63 bzw. 61 Jahren handelt. Der Kläger zu 1) leidet nachgewiesenermaßen zunächst an einer essentiellen Thrombozytämie, die regelmäßige, lebenslange Medikation, ärztliche Beobachtung und Behandlung erfordert. Bei der essentiellen Thrombozytämie leidet der Patient nach Auskunft des behandelnden Arztes und der u.a. Quellen regelmäßig unter starker körperlicher Abgeschlagenheit, schneller Ermüdbarkeit und Nachtschweiß. Es treten gelegentlich Durchblutungsstörungen mit Schwindel und Schmerzen in den Beinen bei körperlicher Belastung auf. Es besteht darüber hinaus die Gefahr der Entwicklung von Thrombosen bzw. Embolien, Schlaganfällen und Herzinfarkten, die dann eine akute Lebensbedrohung darstellten. Mangelnde hygienische Verhältnisse können einen negativen Einfluss auf den Krankheitsverlauf haben, da durch die cytoreduktive Behandlung das Immunsystem alteriert werden kann und somit die lnfektgefährdung zunimmt. Durch Infekte kann die Zahl der Blutplättchen zunehmen, was den Patienten bezüglich thromboembolischer Komplikationen stark gefährden kann (vgl. dazu auch www.mpd-netzwerk.de/haeufige-fragen/et.htm; de.wikipedia.org/wiki/Essentielle_Thrombozyth%C3%A4mie; Stand 11.11.2008).

Darüber hinaus leidet er an einer nicht insulinabhängigen Diabetes mellitus, bei der sich der Gesundheitszustandzustand des Klägers zu 1) durch ungünstige Ernährung verschlechtern kann. Daneben leidet er noch an den diversen vorgetragenen Erkrankungen wie Tinnitus, WS-Syndrom, chronische Gastritis, rezidive Cephalgien, arterielle Hypertonie und Niereninsuffizienz. Die Klägerin zu 2) leidet nachgewiesenermaßen an arterieller Hypertonie, chronischer Gastritis, chronischer Lungenerkrankung (COPD) und Diabetes mellitus.

Unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse im Großraum Kabul - allein diese Gegend kommt für eine Rückführung in Betracht - insbesondere im Hinblick auf die Wohnraumsituation und die sonstige Grundversorgung (z.B. mit Nahrungs- und Heizmitteln) ist bei dieser speziellen Konstellation von erschwerenden Umständen im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des OVG NRW auszugehen, die eine Ausnahme von der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gebieten. Das Gericht geht davon aus, dass in diesem speziellen Einzelfall es bei Berücksichtigung aller Erkrankungen in ihrer Gesamtschau unter Gesundheitsaspekten nicht vorstellbar ist, dass für die Kläger Medikamente und Behandlungsmöglichkeiten, auch soweit in dem unzureichend ausgestatteten Gesundheitssystems Kabuls noch verfügbar, überhaupt erreichbar sein könnten. Aufgrund ihrer Erkrankungen und des Alters ist ebenso wenig vorstellbar, dass die Kläger auf die Angebote von Hilfsorganisationen - zumal in der gebotenen Regelmäßigkeit und auch in jederzeit denkbaren Notfällen - zurückgreifen, diese auch nur erreichen könnten. Daher ist eine extreme Gefahr der - Leib wie Leben bedrohenden - Verschlimmerung ihrer Krankheiten - in der Gesamtschau gesehen - anzunehmen, weil die notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die Krankheiten der Kläger in Afghanistan wegen des geringeren Versorgungsstandards dort generell nicht verfügbar sind oder weil die Kläger die unabdingbare medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen können. Außerdem besteht eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Kläger allein schon durch den Mangel an sauberem Wasser, Lebensmitteln, Wohnraum und sozialer Infrastruktur, aber auch infolge von Überfällen zu Schaden oder gar zu Tode kommen. Darüber hinaus muss angesichts der vorstehenden Ausführungen angenommen werden, dass die Kläger in ihrem speziellen Einzelfall nicht selbst nicht in der Lage sein werden, zumindest ein Existenzminimum zu sichern, zumal auch eine Unterstützung durch in Afghanistan verbliebene Angehörige, wie oben dargestellt, nicht erwartet werden kann.

[...]