VGH Hessen

Merkliste
Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 18.04.2008 - 4 UE 168/06.A - asyl.net: M13164
https://www.asyl.net/rsdb/M13164
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen aktiver Mitgliedschaft in HADEP; trotz Verbesserungen der Menschenrechtlage findet Folter immer noch Anwendung.

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Folter, Misshandlungen, Bedrohung, HADEP, Mitglieder, Oppositionelle, interne Fluchtalternative, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, politische Entwicklung, Menschenrechtslage, Situation bei Rückkehr, Reformen, PKK, Verdacht der Unterstützung, DTP, Separatisten
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen aktiver Mitgliedschaft in HADEP; trotz Verbesserungen der Menschenrechtlage findet Folter immer noch Anwendung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat einen Anspruch auf diese zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylVfG (in der ab dem 28.08.2007 geltenden Fassung, die er durch Art. 3 des oben bereits genannten Richtlinienumsetzungsgesetzes gefunden hat) führenden Feststellung.

Für den die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG anstrebenden Ausländer gelten im Übrigen die für Asylbewerber von der bundesverfassungsgerichtlichen und bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten und nachfolgend wiedergegebenen Grundsätze auch weiterhin entsprechend, wenn nicht die Regelungen der Qualifikationsrichtlinie, speziell die in § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG für ergänzend anwendbar erklärten Bestimmungen entgegenstehen bzw. eine Modifizierung gebieten.

Der erkennende Senat geht davon aus, dass die Ausreise des Klägers nach dem zur Überzeugung des Senats feststehenden Sachverhalt unter Umständen erfolgt ist, die bei objektiver Betrachtung das äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck erlittener Verfolgung stattfindenden Flucht ergeben.

Der Kläger ist nicht bereits wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit einer politischen Verfolgung ausgesetzt gewesen. Der Hess. VGH ist zwar in seiner Entscheidung vom 4. Dezember 2000 - 12 UE 968/99.A - noch davon ausgegangen, dass zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers Kurden in den Notstandsprovinzen der Türkei einer Gruppenverfolgung unterlagen, dass sie aber grundsätzlich in anderen Regionen verfolgungsfrei leben und dort auch das wirtschaftliche Existenzminimum erreichen konnten. Der Kläger hielt sich aber bereits seit 1990 außerhalb der ehemaligen Notstandsprovinz Provinz Varto, nämlich in Istanbul auf.

Eine politische Verfolgung liegt aber in der individuellen Situation des Klägers begründet. Der Kläger hat glaubhaft bekundet und durch die Vorlage verschiedener Dokumente auch nachgewiesen, dass er schon seit langem politisch aktiv ist. In der Zeit, in der er noch als Grundschullehrer tätig war, gehörte er bereits einer linksextremistischen Organisation an, und er ist wegen dieser politischen Aktivität in Varto im Jahr 1985 inhaftiert und 1986 durch das 8. Ausnahmezustandesgericht von Elazig zu einer Freiheitsstrafe von mehr als 11 Jahren verurteilt worden. Nach Verbüßung von zwei Drittel dieser Strafe wurde er im Jahr 1989 auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen und er lebte danach zunächst in Ankara. Nach ca. sechs Monaten siedelte er dann nach Istanbul über, wo er sich bis zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus der Türkei aufhielt. In Bezug auf seine weiteren politischen Aktivitäten hat der Kläger vorgetragen, ohne dass insoweit Anhaltspunkte für Zweifel an seinem Vorbringen ersichtlich sind, dass er seit 1990 die HEP unterstützt habe. Nachdem diese 1992 in ÖZDEP umbenannt worden sei, habe er diese Partei unterstützt und anschließend die DEP. 1994 sei die HADEP gegründet worden und seitdem sei er Mitglied dieser Partei. Des Weiteren sind auch die vom Kläger geschilderten Aktivitäten für die HADEP glaubhaft. Aufgrund seiner absolvierten Ausbildung als Lehrer und seiner vorangegangenen politischen Erfahrungen erscheint es nachvollziehbar, dass der Kläger für die Kommunalwahlen, bei denen die HADEP antrat, Flugblätter verfasst und politische Seminare abgehalten hat, in denen er als Referent auftrat, um den Teilnehmern an diesen Seminaren die Ziele der Partei näher zu bringen. Seine Schilderung von erlittener Folter durch Kräfte der politischen Abteilung der Polizei in Istanbul während der Dauer seiner politischen Betätigungen für die HADEP erscheint ebenfalls nachvollziehbar, denn sie passt in das Bild, das von Gutachtern, Medienberichten und auch von den Lageberichten des Auswärtigen Amtes über den Umgang der türkischen Behörden, insbesondere der politischen Abteilung der Polizei und speziell auch in Großstädten wie Istanbul, mit Mitgliedern der HADEP in den Jahren 1998 bis 2000 gezeichnet wird.

Angesichts des zuvor beschriebenen massiven Drucks, der von den Sicherheitskräften, insbesondere der politischen Abteilung der Polizei, zumindest auf die Funktionäre und die politisch aktiven, in die Parteiarbeit eingebundenen Mitglieder der HADEP und auch ihrer Vorgängerorganisationen ausgeübt worden ist, erscheint auch die vom Kläger bereits beim Bundesamt vorgebrachte und später im gerichtlichen Verfahren ohne Steigerung seines Vortrags wiederholte Schilderung der Ausübung von massivem psychischen Druck in Gestalt telefonischer Drohungen durch die Sicherheitskräfte nicht unglaubhaft. Es ist auch durchaus vorstellbar, dass solche Drohungen zunächst als anonyme Drohungen nicht ernst genommen werden und erst bei einer Identifizierung des Anrufers die Ernsthaftigkeit einer Todesdrohung, die auch Familienmitglieder mit einbezieht, nicht länger "verdrängt" wird und ein solcher Anruf einem Betroffenen die Gefahrensituation erst deutlich vor Augen führt. Für die Nachvollziehbarkeit dieser Schilderung des Klägers spricht auch die von Gutachtern bestätigte Mentalität engagierter HADEP-Mitglieder. So ist das OVG Nordrhein-Westfalen in der bereits zitierten Grundsatzentscheidung vom 19. April 2005 (Seite 69 f. des amtlichen Entscheidungsabdrucks) in diesem Zusammenhang zu der Erkenntnis gelangt, dadurch, dass Funktionäre und aktive Mitglieder der HADEP/DEHAP nicht in größerer Zahl um Asyl nachsuchten, werde die Einschätzung, dass gerade dieser Personenkreis in besonderem Maße von Verfolgung bedroht sei, nicht infrage gestellt. Denn es entspreche ihrer politisch-moralischen Grundhaltung, nach erlittener Verfolgung nicht ins Ausland zu gehen, sondern andere Möglichkeiten auszuschöpfen, um eine Sicherheit zu erlangen. Mit dieser Grundhaltung lässt sich erklären, dass der Kläger nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt, etwa im Jahr 1999, in dem er mehrfach schweren körperlichen Misshandlungen durch Sicherheitskräfte ausgesetzt war, die Türkei verlassen hat und auch später im Jahr 2000 nach Erhalt der Drohanrufe seine politische Betätigungen für die HADEP nicht eingestellt hat. Andererseits ist auch unter Annahme der beschriebenen Grundhaltung nachvollziehbar, dass die psychische Belastung aufgrund einer Todesdrohung, die telefonisch von einer Person ausgesprochen wird, die als Angehöriger der Istanbuler Antiterror-Einheit den Kläger zur Antiterror-Abteilung in den Stadtteil Vartan verbracht hatte, und die die Ehefrau und das Kind in die Drohung mit einbezieht, so groß wird, dass eine Flucht ins Ausland unumgänglich erscheint, um zunächst einmal - wie der Kläger vorträgt - sich der lebensbedrohenden Situation zu entziehen und Abstand zu den Ereignissen zu gewinnen. Damit erscheint es auch nachvollziehbar, dass der Kläger nach Erhalt des letztgenannten Drohanrufs sich nicht mehr allzu oft zuhause bei seiner Familie aufgehalten hat und bis zu seiner Ausreise im April 2001 zwei mal seine Familie in seinem Heimatort besucht und auch Kontakt zu dem HADEP-Büro in seiner Heimatregion Varto aufgenommen hat.

Dem Kläger stand im Zeitpunkt seiner Ausreise aus der Türkei auch keine so genannte inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Seine Bedrohung ging zwar in erster Linie von den Sicherheitskräften der politischen Abteilung der Polizei in Istanbul aus, denen er persönlich bekannt war und von denen auch die oben geschilderte Todesdrohung herrührte. Der erkennende Senat teilt die Einschätzung des OVG Nordrhein-Westfalen in der in das Verfahren eingeführten Entscheidung vom 25. Januar 2000 - 8 A 1292/96.A -, dass HADEP-Mitglieder, die wegen ihrer Parteizugehörigkeit asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt waren und geflüchtet sind, angesichts der zahlreichen dokumentierten Übergriffe der Sicherheitskräfte gegen Parteimitglieder in keinem Landesteil der Türkei vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher waren (S. 88 des amtlichen Entscheidungsabdrucks).

Danach ist davon auszugehen, dass der Kläger sein Heimatland unter dem Druck drohender Verfolgung verlassen hat, also vorverfogt ausgereist ist.

Somit greift zu seinen Gunsten ein herabgestufter Prognosemaßstab ein, er muss vor erneuter Verfolgung "hinreichend sicher" sein (vgl. etwa BVerfG, 2. Juli 1980, BVerfGE 54, 341/360). Davon kann in Bezug auf den Kläger zum Zeitpunkt des Ergehens der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) indes nicht ausgegangen werden. Zu demselben Ergebnis gelangt man auch bei Anwendung des Art. 4 Abs. 4 der Qualitätsrichtlinie, wonach die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Solche stichhaltigen Gründe, die entgegen dem in der Vorverfolgung liegenden ernsten Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht vor erneuter Verfolgung eine Rückausnahme gebieten würden, sind hier in Bezug auf den Kläger nicht erkennbar.

Nach der Rechtsprechung der für die Asylverfahren türkischer Asylbewerber zuständigen Senate des Hess. VGH (vgl. etwa Urteil des 6. Senats vom 2. März 2005 - 6 UE 972/03.A - sowie Urteil des 4. Senats vom 17. Dezember 2007 - 4 UE 570/05.A -) muss ein als Asylbewerber identifizierter Rückkehrer bei der Einreise regelmäßig damit rechnen, dass er zunächst festgehalten und einer intensiven Überprüfung unterzogen wird. Da den türkischen Behörden bekannt ist, dass viele türkische Staatsbürger aus wirtschaftlichen Gründen mit dem Mittel der Asylantragstellung versuchen, in Deutschland ein Aufenthaltsrecht zu erlangen, werden Verfolgungsmaßnahmen nicht allein deshalb durchgeführt, weil der Betroffene in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 27. Oktober 2007, S. 38).

Werden Rückkehrer aber wegen konkreter Anhaltspunkte für die Begehung von politischen Straftaten, insbesondere durch Unterstützung der PKK, an die politische Abteilung der Polizei überstellt, ist eine andere Beurteilung geboten. Dass eine derartige Überstellung an die zuständigen Sicherheitsbehörden erfolgt, bestätigt das Auswärtige Amt auch noch in seinem Lagebericht vom 19. Mai 2004 (S. 44). Mit der Überstellung an die politische Polizei war bislang die reale Gefahr von Misshandlung und Folter verbunden (Auswärtiges Amt an VG Wiesbaden vom 02. Februar 1993, S. 2 sowie Lageberichte vom 7.Dezember 1995, S. 10 und vom 7. September 1999). Eine solche Aussage lässt sich den aktuelleren Lageberichten in dieser Ausdrücklichkeit zwar nicht mehr entnehmen. Das Auswärtige Amt bezieht - soweit ersichtlich - erstmals in dem Lagebericht vom 19. Mai 2004 Stellung dazu, dass bei abgeschobenen Personen die Gefahr einer Misshandlung bei Rückkehr in die Türkei "nur aufgrund von vor Ausreise nach Deutschland zurückliegender wirklicher oder vermeintlicher Straftaten auch angesichts der durchgeführten Reformen und der Erfahrungen der letzten Jahre in diesem Bereich äußerst unwahrscheinlich ist". Misshandlung und Folter allein aufgrund der Tatsache, dass ein Asylantrag gestellt wurde, schließt das Auswärtige Amt sogar aus (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 25. Oktober 2007, S. 38). Die Frage, in welchen Fällen es zu Misshandlung und Folter im Gewahrsam der politischen Abteilung kommen kann, beantwortet das Auswärtige Amt in diesem Zusammenhang allerdings nicht. Auch wenn Folter und körperliche Misshandlung durch türkische Ermittlungsbehörden in den letzten Jahren zurückgegangen sind, so sind sie doch nicht außer Gebrauch geraten. Dies räumt sogar der Menschenrechtsausschuss des türkischen Parlaments ein, der zugleich auf die präventive Wirkung der Untersuchungen und Kontrollen, die die Mitglieder dieses Ausschusses in Haftanstalten und Polizeidienststellen durchführen, hinweist (Deutscher Bundestag, Bericht vom 16. Juni 2003 über die Delegationsreise des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe in den Iran und die Türkei vom 10. bis 16. Mai 2003, S. 14 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 21. Juni 2003, S. 25). Dementsprechend geht auch aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. Oktober 2007 noch hervor, dass es in der Türkei nach wie vor Fälle von Folter und Misshandlung gibt und es der Regierung bislang nicht gelungen ist, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden (S. 29).

Der erkennende Senat hält die in einem neueren, ebenfalls in das vorliegende Verfahren eingeführten Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 17. April 2007 - 8 A 2771/06.A - getroffenen Feststellungen, die ähnlich auch von anderen Obergerichten (s. etwa OVG Niedersachsen vom 18. Juli 2006 - 11 LB 264/05 -) und zuvor vom OVG Nordrhein-Westfalen selbst in der schon mehrfach zitierten Grundsatzentscheidung vom 19. April 2005 getroffen worden sind, für zutreffend. Danach kommt es in der Türkei trotz der umfassenden Reformbemühungen der letzten Jahre, insbesondere der "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter, weiterhin zu Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Art und Intensität, vor allem im Vorfeld offizieller strafrechtlicher Ermittlungen. Folter als Mittel zur Herbeiführung eines Geständnisses oder einer belastenden Aussage gegen Dritte wird allerdings seltener als früher und vorwiegend mit anderen, weniger leicht nachweisbaren Methoden praktiziert. Zur Anwendung kommen nunmehr überwiegend Methoden, die möglichst nicht körperlich nachweisbar sind, wie etwa Schlafentzug, Hinderung am Toilettengang, Verweigerung von Essen und Trinken sowie Demütigungen bis hin zu Todesdrohungen und Scheinhinrichtungen. Die Häufigkeit physischer Misshandlungen in förmlicher Polizeihaft nimmt ab; sie finden eher in Polizeiwagen und bei Durchsuchungen Anwendung. Die aktuellen Entwicklungen in der Türkei geben keinen Anlass, von dieser Bewertung abzurücken. Türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, laufen auch nach aktueller Auskunftslage Gefahr, dass sich die türkischen Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassen, wenn sie in die Türkei einreisen. Ziel strafrechtlicher Verfolgung sind insbesondere solche Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten oder als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden. Die Gefahr, im Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen Opfer von Folter zu werden, ist aufgrund der zahlreichen Gesetzesänderungen im Zuge der "Null-Toleranz-Politik" gegen Folter, insbesondere durch die Abschaffung der so genannten Incommunicado-Haft und die gesetzlich vorgeschriebenen ärztlichen Untersuchungen inhaftierter Personen auf etwaige Folterspuren, zwar deutlich gesunken, gleichwohl stellen Übergriffe dieser Art nach Auffassung aller Beobachter weiterhin ein von der Türkei nicht in befriedigender Weise bewältigtes Problem dar. Die Gefahr, im Justizvollzug Opfer von Misshandlungen durch Sicherheitskräfte zu werden, wird dagegen als eher unwahrscheinlich eingeschätzt, Misshandlungen außerhalb regulärer Haft finden aber nach wie vor statt. Seit dem erneuten Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen in Südostanatolien und den der PKK zugerechneten Attentaten in Touristenzentren im Jahr 2006 ist sogar wieder ein Anstieg der Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen. Änderungen des Antiterrorgesetzes, die als Reaktion auf die aktuelle Entwicklung im Südosten der Türkei zu werten sind, geben in diesem Zusammenhang nach Auffassung der EG-Kommission Anlass zur Besorgnis, weil sie geeignet sind, die Bemühungen um die Bekämpfung von Folter und Misshandlung zu untergraben. Eine Hauptursache für das Fortbestehen von Folter und Misshandlung wird darin gesehen, dass die Strafverfolgung von Foltertätern immer noch unbefriedigend ist. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass der erforderliche Mentalitätswandel die meist kemalistisch-etatistisch orientierten Staatsanwaltschaften und Gerichte nach Einschätzung auch des Auswärtigen Amtes bisher noch nicht vollständig erfasst hat. Bemängelt wird ferner die unzureichende Unabhängigkeit der Justiz.

Speziell für den Kläger als ehemaliges HADEP-Mitglied erlangen die nachfolgenden Feststellungen Bedeutung: Am 13. März 2003 wurde die pro-kurdische Partei nach über vierjähriger Verfahrensdauer mit der Begründung verboten, sie habe Verbindungen zur PKK/KADEK. Gegen zahlreiche führende Funktionäre der HADEP wurden Politikverbote verhängt. Dieser Ausgang des Verfahrens kam für die HADEP, deren drei Vorgängerparteien seit 1994 schon mit vergleichbaren Begründungen verboten worden waren und in deren Parteibüros Publikationen der PKK und ihrer Unterorganisatoren gefunden worden waren, nicht überraschend (s. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 67 f. des amtlichen Entscheidungsabdrucks). Zahlreiche Mitglieder der HADEP traten nach deren Verbot unmittelbar in die bereits 1999 vorsorglich gegründete DEHAP über. Kurz darauf wurden mit unterschiedlichen Begründungen auch Verbotsverfahren gegen die DEHAP eingeleitet. Bevor das Verfassungsgericht eine Entscheidung herbeiführte, löste sich die DEHAP am 19. November 2005 selbst auf (AA an VG Minden vom 4. Dezember 2007). Sie beschloss der - heute im türkischen Parlament vertretenen - DTP beizutreten, die Büros der DEHAP wurden der DTP überlassen. Mit diesem Schritt kam die DEHAP einem Verbot zuvor. Aber auch die Nachfolgepartei DTP wird von den Sicherheitskräften als "verlängerter Arm" der PKK betrachtet (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei, Zur aktuellen Situation, Oktober 2007). Inzwischen ist auch gegen die DTP vom türkischen Generalstaatsanwalt ein Verbotsverfahren eingeleitet mit der Begründung, die DTP sei "zum Mittelpunkt von Aktivitäten gegen die unteilbare Einheit des Staats mit seinem Land und seiner Nation" geworden (FAZ vom 17. November 2007: Kurdenpartei DTP droht Verbot).

Auf der Grundlage der dargestellten Feststellungen ist davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei dort nicht hinreichend sicher vor erneuter politischer Verfolgung wäre.